EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)

Johannes Drerup/ Miguel Zuleica y Mugica/ Douglas Yacek (Hrsg.)
DĂŒrfen Lehrer ihre Meinung sagen?
Demokratische Bildung und die Kontroverse ĂŒber KontroversitĂ€tsgebote
Stuttgart: Kohlhammer 2021
(242 S.; ISBN 978-3-17-039882-5; 32,00 EUR)
DĂŒrfen Lehrer ihre Meinung sagen? Der Band „DĂŒrfen Lehrer ihre Meinung sagen?“ von Johannes Drerup, Miguel Zuleica y Mugica und Douglas Yeacek mit hochaktuellem Thema ist in drei Teile gegliedert: Theoretische Grundlagen – Fachperspektiven – Aktuelles. In die BeitrĂ€ge fĂŒhren die Herausgeber einleitend treffend ein, auch zitieren sie den Beutelsbacher Konsens von 1977 ausfĂŒhrlich.

Zum ersten Teil: Theoretische Grundlagen aus Erziehungs- und Bildungstheorie haben im Beitrag von Giesinger („Mitteilen und Vermitteln“) einen klaren Bezug zum professionellen Handeln, denn darum geht es im Titel insgesamt. Der Unterschied ist gut nachvollziehbar: Die Lehrer-Meinung darf mitgeteilt werden, aber nicht als einzig richtige vermittelt werden. Mehr konkrete Strategie fĂŒr den Unterricht etwa beim Thema „Sterbehilfe“, wĂ€re trotzdem nötig. Oder bleibt das Thema ethisch-unpolitisch? Rucker erlĂ€utert in seinem Beitrag den „erziehenden Unterricht“ mit Bildungsanspruch, bleibt aber ganz allgemein. Zuleica y Mugica behandelt Weltbilder mit ihren Konsequenzen fĂŒr die Grenzen der KontroversitĂ€t und formuliert aus dem „Bewusstsein lernbereiter FallibilitĂ€t“ (52) wichtige Kompetenzen des Demokratie-Lernens. Wo es handlungsrelevant werden könnte, bleiben die „didaktischen Methoden“ (55) unkonkret, die Kritik nimmt die Didaktik der politischen Bildung nicht zur Kenntnis. Hilbrich schildert die englischsprachige Debatte, dreht dann aber (70) in die Schilderung situativen Handelns: Die Weigerungen von Lernenden (einmal gegen die anti-rassistische Positionierung ihrer Lehrerin, dann die Weigerung von Fridays for Future gegen schulische Bildung) sind realistisch und mĂŒssen Lehrende „in der reflexiven Auseinandersetzung mit ihrem Handeln beschĂ€ftigen“ (72).

Die Frage der Rezensentin an die theoretischen Grundlagen lautet: Was leistet die allgemeine Didaktik fĂŒr die Profession bzw. wie setzt sie sich zum Lehrer-Handeln im Unterricht in Beziehung?

Die im zweiten Teil behandelten FĂ€cher sind der Religionsunterricht, Philosophie, Geschichte und mehrfach die politische Bildung. FĂŒr den konfessionellen Religionsunterricht mit seinen politisch-rechtlichen Spezifika sucht Herbst den Beutelsbacher Konsens fĂŒr konfessionelle Inhalte und fĂŒr die LehrkrĂ€fte als „positionierte KontroversitĂ€t“ (89) zu nutzen. Anne Burkard wertet drei Gruppendiskussionen mit Philosophie-Lehrenden aus: Abgelehnt werden starke Positionierungen (wegen der Asymmetrie mit der Gefahr der ÜberwĂ€ltigung), aber auch umfassende NeutralitĂ€t (weil dann der Eindruck der Beliebigkeit erzeugt werde, weil AuthentizitĂ€t gar nicht möglich sei und weil Lernende unter UmstĂ€nden nach einer Position fragen). Die LehrkrĂ€fte beschreiben ein breites Spektrum legitimer Handlungsstrategien. FĂŒr das historische ErzĂ€hlen sieht RĂŒsen vier Formen der normativen Regelung: traditional, exemplarisch, genetisch und kritisch. Die Werturteile mĂŒssen expliziert und erörtert werden unter Wahrung der pluralistischen Grundstruktur. Widmaier schildert die freiheitlich-demokratische Grundordnung aus den Parteiverbotsverfahren des Bundesverfassungsgerichtes und warnt vor VerkĂŒrzungen politischer Bildung auf NeutralitĂ€t oder erzieherischen Verfassungsschutz. Die theoretischen Rahmungen, empirischen Befunde und Reflexionen von Gronostay sind gesĂ€ttigt mit konkreten Szenen! Das Lehramt als pĂ€dagogische und als politische Profession steckt in der Spannung zwischen Zielen der Legitimation, der Kritik und der MĂŒndigkeit. Der Beutelsbacher Konsens hat das Verdienst, den Politikunterricht „als primĂ€r pĂ€dagogische, denn politische Situation zu bestimmen“ (147). Die Frage nach der Offenlegung der Position der Lehrperson wird mit kontrĂ€ren Argumentationen konfrontiert; sehr lesenswert! Von problematischen Umgangsweisen mit KontroversitĂ€t in der Öffentlichkeit (von Ratlosigkeit bis Überdruss) leitet Goll ĂŒber zu möglichen Kriterien fĂŒr die notwendige Auswahl von zu behandelnden Kontroversen im Unterricht und schließlich zur fachdidaktischen Bestimmung: Der Umgang mit KontroversitĂ€t muss diskursiv sein und kann dann sowohl eine normative Legitimation als auch eine durch Verfahren umgreifen.

Die Rezensentin meint: Allgemeine Didaktik hĂ€tte die Aufgabe, die Fach-Diskussionen zu analysieren, zu vergleichen und zu verallgemeinern fĂŒr das Wissen der Lehr-Profession. Die Struktur dieses Buches öffnet den Weg.

Der dritte Teil „Aktuelle Themen“ behandelt zweimal den „Missbrauch des Beutelsbacher Konsens‘“ (178) durch die Partei Alternative fĂŒr Deutschland (AfD), die ihm ein NeutralitĂ€tsgebot andichtete (BrĂŒning). Haker und Otterspeer kritisieren das Hamburger AfD-Portal begrifflich-theoretisch sehr sorgfĂ€ltig, und zwar politisch und bildungstheoretisch. Aus der Bestimmung von Fake News und Verschwörungstheorien folgen bei Lanius Postulate fĂŒr Bildungsprozesse und (zu) wenige praktische VorschlĂ€ge fĂŒr professionelles Handeln. Das Unterrichtsprojekt „The Blue Planet“ (Nijhawan) zeigt ĂŒberzeugend das Miteinander und den Unterschied von Werte-Eindeutigkeit (hier die Norm „Umwelt“) und KontroversitĂ€t (konkrete Maßnahmen zum Erreichen der Norm sind umstreitbar) im Lichte des Beutelsbacher Konsenses. Hier ist die Ebene professionellen Handelns fĂŒr den Unterricht erreicht.

Fazit: Dieses spannende Buch zu MeinungsĂ€ußerungen professioneller Lehrender ruft – nach Meinung der Rezensentin – nach enger Kooperation allgemeiner und fachlicher Didaktik. Es zeigt auch, dass rein theoretische Reflexionen fĂŒr politische Stellungnahmen nĂŒtzlich sein können (siehe die AfD-Kritiken), aber fĂŒr die professionelle Reflexion aufs Handeln, mĂŒssen konkrete Szenen und AblĂ€ufe aus dem Unterricht hinzukommen.
Sibylle Reinhardt (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sibylle Reinhardt: Rezension von: Drerup, Johannes / Mugica, Miguel Zuleica y / Yacek, Douglas (Hg.): DĂŒrfen Lehrer ihre Meinung sagen?, Demokratische Bildung und die Kontroverse ĂŒber KontroversitĂ€tsgebote. Stuttgart: Kohlhammer 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317039882.html