EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Conrad, Anne / Maier, Alexander / Nebgen, Christoph (Hrsg.)
Bildung als AufklÀrung
Historisch-anthropologische Perspektiven
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2020
(622 S.; ISBN 978-3-205-21108-2; 59,99 EUR)
Bildung als AufklĂ€rung Der von Anne Conrad, Alexander Maier und Christoph Nebgen herausgegebene Sammelband „Bildung als AufklĂ€rung. Historisch-anthropologische Perspektiven“ ist hervorgegangen aus der interdisziplinĂ€ren Konferenz „Bildung und ‚AufklĂ€rung(en)‘ – Ideale und RealitĂ€ten, Epochen und Kulturen“, die vom 19. bis 21. MĂ€rz 2019 an der UniversitĂ€t des Saarlandes in SaarbrĂŒcken stattgefunden hat. Schon am Titel des Bandes ist erkennbar, dass gegenĂŒber dem offenen thematischen Zuschnitt der Tagung bei der Erarbeitung des vorliegenden Sammelbandes eine engere konzeptuelle Ausrichtung gewĂ€hlt wurde, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird Bildung als AufklĂ€rung verstanden, zum anderen erhĂ€lt der Band durch die Perspektivierung auf historisch-anthropologische PhĂ€nomene eine notwendige und sinnvolle Schwerpunktsetzung.

Im einleitenden Beitrag von Alexander Maier und Anne Conrad wird das Vorhaben nĂ€her erlĂ€utert, das zunĂ€chst eine Problematisierung des Begriffs „AufklĂ€rung“ vorsieht. Dass es gewiss nicht genĂŒgt, AufklĂ€rung als historische Epoche zu fassen, ist hinlĂ€nglich bekannt. Sie erscheint als Projekt, Programm und Bewegung und wird als „ein Merkmal menschlicher SelbstverstĂ€ndigung und Weltbetrachtung in einem allgemeineren Sinn“ (13) verstanden, wodurch die ĂŒberzeitliche Relevanz von AufklĂ€rung unterstrichen wird. WĂ€hrend einzelne der 30 BeitrĂ€ge dieses voluminösen Sammelbandes auch Entwicklungen des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart beleuchten, so hat doch die Mehrheit der BeitrĂ€ge einen starken Bezug zum ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert und verweist damit in konventioneller Weise auf eine Epoche. GegenĂŒber dem Begriff der AufklĂ€rung erscheint der Begriff der Bildung – „als Vehikel wie Gradmesser von AufklĂ€rungsprozessen“ (28) – als offener und vielseitig anschlussfĂ€higer Sammelbegriff, der von Erziehung, Bildsamkeit, Gelehrsamkeit oder PĂ€dagogik hĂ€tte schĂ€rfer unterschieden werden mĂŒssen.

Wolfgang Sander betont in seinem programmatischen Beitrag, dass AufklĂ€rung und Bildung „miteinander verwandt“ (43) seien und wirbt fĂŒr ein „transkulturelles VerstĂ€ndnis von Bildung“ (48), das vor der Gefahr eines eurozentrisch verengten Blicks gefeit sei. Ob „unter den Bedingungen einer sich entwickelnden Weltgesellschaft [
] ein transkulturell konsensfĂ€higes GrundverstĂ€ndnis von den Aufgaben des Bildungssystems möglich ist“ (45), bleibt jedoch fraglich, zumal ein mit „unterschiedlichen BegrĂŒndungen und mit unter UmstĂ€nden unterschiedlichen Akzentuierungen“ (46) austarierter Minimalkonsens wenig zielfĂŒhrend und bereichernd sein dĂŒrfte. Jene BeitrĂ€ge, die ĂŒber den engeren (mittel-)europĂ€ischen Bildungsraum hinausreichen, fĂŒhren exemplarisch vor Augen, wie AufklĂ€rung in anderen kulturellen Kontexten verstanden werden muss (Themenbereich V). Der Blick richtet sich hier in die arabisch-islamische Welt sowie nach Tibet, China und Japan im 18. bis 20. Jahrhundert. Diese Fallstudien zeigen in beeindruckender Weise, dass AufklĂ€rung nicht nur als ein europĂ€isches PhĂ€nomen gedacht werden darf, sondern auch losgelöst von europĂ€ischen Verflechtungen und historischen PfadabhĂ€ngigkeiten in anderen RĂ€umen ganz Ă€hnliche Prozesse der Subjektivierung, Emanzipation und Erneuerung hervorgebracht hat – einschließlich ihrer immanenten Ambivalenzen.

Einen Schwerpunkt des Sammelbandes bilden BeitrĂ€ge, die das VerhĂ€ltnis von Religion und AufklĂ€rung (Themenbereich I) in vielfĂ€ltiger Weise beleuchten bzw. Religion und religiöses Verhalten als einen weiteren Zugang fassen, â€žĂŒber den sich AufklĂ€rung historisch-anthropologisch erschließt“ (15). Profunde BeitrĂ€ge nehmen aus unterschiedlichen historischen Blickwinkeln religiöse und konfessionelle Implikationen fĂŒr Erziehungsfragen und Bildungsprozesse in den Blick. Dies fĂŒhrt vor Augen, in welcher Breite auch die Historische Bildungsforschung darum bemĂŒht ist, sich mit ihrem „verdrĂ€ngten Erbe“ [1] auseinanderzusetzen, indem sie religiösen und theologischen BegrĂŒndungsfiguren eine grĂ¶ĂŸere Aufmerksamkeit und Geltungskraft zumisst. Dabei kann „konfessionelle Konkurrenz“ als ein „Grundprinzip frĂŒhneuzeitlicher deutscher Bildungsgeschichte“ [2] begriffen werden. Dies wird deutlich in dem Beitrag von Christoph Nebgen ĂŒber philanthropisch orientierte Reiseberichte fĂŒr die Jugend, in denen etwa die aufmerksame Wahrnehmung und der vernĂŒnftige Umgang mit konfessionellen Differenzen zum Ausgangspunkt und SchlĂŒssel philanthropischer Toleranzerziehung wird. In welcher Tiefe konfessionskulturelle IdentitĂ€ten und Motive auf UniversitĂ€t, Lehrerbildung und Schule einwirkten, fĂŒhren die BeitrĂ€ge des Themenbereichs II vor Augen. Zugleich zeigen sie, dass bereits fĂŒr das 18. Jahrhundert Entwicklungen der Professionalisierung, Differenzierung, Institutionalisierung, Rationalisierung und BĂŒrokratisierung im Schul- und Bildungswesen ausgemacht werden können. Dies darf gewiss nicht den Blick auf manche „deprofessionalisierenden Tendenzen“ (187) versperren, wie sie in Stephanie Hellekamps’ und Hans-Ulrich Musolffs Beitrag verdeutlicht werden. Diese und weitere Ambivalenzen sind kennzeichnend fĂŒr das 18. Jahrhundert und fĂŒr die AufklĂ€rung insbesondere.

Im Themenbereich III „AufklĂ€rung, Bildung Gender“ zeigt Anne Conrad , wie eine aufgeklĂ€rt-kritische Grundstimmung den Weg ebnete zu einer weltoffenen, toleranteren ReligiositĂ€t, aber zugleich „alles vom Heteronormativen Abweichende abgewehrt, diskriminiert und verurteilt“ (394) und eine binĂ€re Geschlechteranthropologie festgeschrieben wurde. Die BeitrĂ€ge dieses Themenbereichs beleuchten dieses Spannungsfeld aus Befreiung und Emanzipation, Anpassung und Zwang. Sophia Mehrbrey thematisiert dies anhand literarischer ErzĂ€hlungen ĂŒber klösterliche MĂ€dchenbildung, BĂ©nĂ©dicte de Maumigny-Garban, Alexander Tsygankov und Stefan BrĂŒdermann stellen jeweils adlige Frauen in den Mittelpunkt ihrer Studien und beurteilen deren mehr oder minder erfolgreiche Initiativen zur Erziehung und Bildung von MĂ€dchen und jungen Frauen im 18. Jahrhundert. WĂ€hrend die Historische Bildungsforschung mit den Schwerpunkten Gender und Queer Studies vornehmlich im 19. Jahrhundert ansetzt, ermöglichen es diese BeitrĂ€ge auch, bislang unberĂŒcksichtigte Inhalte des 18. Jahrhunderts zur historisch-pĂ€dagogischen Anthropologie in bildungshistorische Forschungsdiskurse zu integrieren. Ähnliches gilt fĂŒr das Themenfeld IV „Individualisierung und GefĂŒhlsleben“, in dem jedoch die BezĂŒge zu neueren historisch-anthropologischen Forschungsarbeiten, die sich mit GefĂŒhlskulturen zwischen Affekt und Ratio befassen, nur sehr schwach entfaltet werden. Hervorzuheben ist dennoch der Beitrag von LĂ©onard Loew, in dem es gelingt, am Beispiel der „EinfĂŒhlung“ aufzuzeigen, wie eine ursprĂŒnglich religiöse Idee zum allgemeinen, sĂ€kularisierten Bildungsgut der AufklĂ€rung wurde.

Der vorliegende Band enthĂ€lt eine bemerkenswerte Breite ausgezeichneter und lesenswerter BeitrĂ€ge, die unterschiedliche Aspekte des Zusammenwirkens von AufklĂ€rung, Bildung und Religion beleuchten. Dennoch kann man sich als Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich um einen typischen Konferenzband handelt, der mit der Herausforderung zu kĂ€mpfen hat, die verschiedenen BeitrĂ€ge in ein schlĂŒssiges konzeptuelles Korsett zu schnĂŒren. Die vorgeschlagene Zuordnung hat daher manche SchwĂ€chen, auch durch die UnschĂ€rfe des Bildungsbegriffs. Die abgesteckten fĂŒnf Themenbereiche können – fĂŒr sich genommen – dennoch ĂŒberzeugen, da sie fĂŒr die Bildungsgeschichte konzeptuelle Ansatzpunkte und thematische VersatzstĂŒcke fĂŒr vertiefende bildungshistorische Forschungen bieten. Der Band verspricht daher einen Beitrag dazu zu leisten, nicht nur Bildung als AufklĂ€rung historisch-anthropologisch schĂ€rfer perspektivieren, sondern sich auch der kritisch-emanzipatorischen Potenziale von AufklĂ€rung wieder stĂ€rker vergewissern zu können.

[1] JĂŒrgen Oelkers/Fritz Osterwalder/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Das verdrĂ€ngte Erbe. PĂ€dagogik im Kontext von Religion und Theologie, Weinheim: Beltz 2003.
[2] Stefan Ehrenpreis: Erziehungs- und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und SĂ€kularisierung. Forschungsprobleme und methodische Innovation, in: Heinz Schilling/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.): Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und SĂ€kularisierung. Forschungsperspektiven, europĂ€ische Fallbeispiele und Hilfsmittel, MĂŒnster [u.a.]: Waxmann 2003, S. 19–33, hier: 31.
Andreas Oberdorf (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Oberdorf: Rezension von: Nebgen, Anne Conrad, Alexander Maier, Christoph (Hg.): Bildung als AufklĂ€rung, Historisch-anthropologische Perspektiven. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978320521108.html