EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Ina Friedmann
AbnormalitÀt (de-)konstruiert
Die HeilpÀdagogische Abteilung der Wiener UniversitÀts-Kinderklinik und ihre Patient*innen in der ersten HÀlfte des 20. Jahrhunderts
Wien / Köln: Böhlau 2022
(506 S.; ISBN 978-3-205-21541-7; 80,00 EUR)
AbnormalitĂ€t (de-)konstruiert Seit den 1990er Jahren entstanden zahlreiche Studien, die sich der Aufarbeitung des Unrechts der Zwangsunterbringungen von Kindern und Jugendlichen im 20. Jahrhundert widmen [1]. In den letzten Jahren haben Kinderbeobachtungsstationen als spezifische Institutionen, die an der Schnittstelle zwischen psychiatrischer und pĂ€dagogischer SphĂ€re agierten, da ihnen eine Zuweisungsfunktion im FĂŒrsorgesystem zukam, im deutschsprachigen Raum vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Neben der reinen Aufarbeitung des Unrechts standen hierbei vor allem Wissenspraktiken, wie etwa das Entstehen neuer Diagnosen, im Fokus [2].

Die Studie der Innsbrucker Zeithistorikerin Ina Friedmann, die nicht weniger als eine „Gesamtdarstellung“ (15) der HeilpĂ€dagogischen Abteilung der Wiener UniversitĂ€ts-Kinderklinik, einer Kinderbeobachtungsstation, verspricht, will beides leisten. ErklĂ€rtes Ziel der 2020 als Dissertation an der UniversitĂ€t Wien verteidigten Arbeit ist es, eine „Gesamtdarstellung“ und „Einbettung“ der HeilpĂ€dagogischen Abteilung „in die zeitgenössische FĂŒrsorgelandschaft“ und gleichsam einen „Beitrag zur Geschichte begutachteter Kindheiten“ zu leisten (15). Dabei geht es ihr explizit nicht nur um die „Charakterisierung der HeilpĂ€dagogischen Abteilung als Institution“, einschließlich „ihrer Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs“, sondern auch um „die Rekonstruktion ihres Einflusses auf gesellschaftliche Wahrnehmungen von sozial marginalisierten Personengruppen“ (33).

Die Arbeit basiert maßgeblich auf den Patient:innenakten der zwischen 1912 und 1944 in der HeilpĂ€dagogischen Abteilung untergebrachten Kinder und Jugendlichen, insgesamt wurden beeindruckende knapp 5500 Akten ausgewertet. In Kapitel eins liefert Friedmann zunĂ€chst eine Institutionengeschichte im klassischen Sinne. Hervorgehoben wird die GrĂŒndung der HeilpĂ€dagogischen Abteilung im Rahmen der Kinderklinik: Sie war und blieb eine Station der UniversitĂ€tsklinik, auch wenn Ärzt:innen und Lehrer:innen hier gemeinsam arbeiteten Dementsprechend verstand sich die österreichische HeilpĂ€dagogik explizit als „direkte[r] Abkömmling der Psychiatrie“ (87). Die Periodisierung, die Friedman vornimmt, orientiert sich an den Leiter:innen der Abteilung, Erwin Lazar, Valerie Buck und Hans Asperger. Lazar und Asperger, die zahlreiche Studien und LehrbĂŒcher aus ihrer Arbeit in der Abteilung heraus veröffentlichten, werden als zwei zentrale Akteure der sich etablierenden Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Ihr wissenschaftlicher Einfluss reichte, vor allem im Falle von Asperger, weit ĂŒber Wien hinaus.

Einen weiteren Schwerpunkt des Kapitels bildet die quantitative Auswertung der Patient:innenakten in Bezug auf Alter, Geschlecht und „UnterbringungsverhĂ€ltnisse vor der Aufnahme“ zwischen 1912 und 1949. Pro Jahr wurden zwischen 27 und 343 Kinder und Jugendliche aufgenommen, die Abweichung nach unten betrifft kriegsbedingt das Jahr 1944. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg betraf die Mehrheit der Unterbringungen (zwischen 56 und 68 Prozent) volksschulpflichtige Jungen, die aus ihrer Ursprungsfamilie heraus ĂŒberwiesen wurden (147-176).

Das zweite Kapitel stellt die HeilpĂ€dagogische Abteilung im Rahmen des Wiener FĂŒrsorgesystems dar. Dort kam ihr die zentrale Rolle zu, eine „Scheidung der ‚wertvollen’ von den ‚minderwertigen, der ‚aufwandswĂŒrdigen’ von den aus weiteren BemĂŒhungen auszuschließenden Kindern und Jugendlichen“ vorzunehmen und ĂŒber die weitere Unterbringung zu entscheiden (193). Eine quantitative Auswertung der unzĂ€hligen einweisenden Instanzen unterstreicht die Bedeutung der Abteilung als zentrale ordnende Instanz innerhalb der Wiener FĂŒrsorge. Sowohl die stĂ€dtischen Schulen als auch Gerichte, Polizei, KinderĂ€rzt:innen und verschiedene Jugendamtseinrichtungen verließen sich auf ihre Expertise.

Nachdem die ersten beiden Kapitel auf rund 250 Seiten das Feld vor allem quantitativ abstecken, folgen vier Kapitel, die in der Logik der Abfolge von Aufnahme, Aufenthalt, Behandlung, Begutachtung und Entlassung verschiedene Aspekte der Arbeit der HeilpÀdagogischen Abteilung nÀher betrachten.

Kapitel drei und vier beleuchten durch eine qualitative Auswertung der Akten den Alltag der Abteilung. Neben dem Tagesablauf wird auch der Umgang mit den Patient:innen rekonstruiert. Es werden Behandlungsmethoden, die in die AktenfĂŒhrung Eingang gefunden haben, beispielhaft vorgestellt, unter anderem „Medikation mit Barbituraten“ (280), „Elektrisieren“ (281) und „lauwarme Duschen“ (282), wobei eine Kontextualisierung dieser Praktiken innerhalb der Psychiatrie der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts weitgehend ausbleibt. Daneben wird ein detaillierter Überblick des Verwaltungsvorgangs der Aufnahme von der Anamnese ĂŒber allfĂ€llige Tests geliefert, der um eine Auswertung weiterer Korrespondenzen und AbklĂ€rungen ergĂ€nzt wird.

Das Ende der Begutachtung und die ĂŒber die Abteilung hinausgehende Nachsorge sind das Thema der Kapitel sechs und acht. Hier zeugt der Detailgrad der Darstellung von einer beeindruckenden Aktenkenntnis, ergĂ€nzt durch eine quantitative Auswertung nach Entlassungsort und der Empfehlung weiterer Maßnahmen. Friedmann legt ĂŒberzeugend dar, dass es vor allem die Gutachten waren, die zur Zirkulation des heilpĂ€dagogischen Wissens in der Wiener FĂŒrsorgelandschaft beitrugen. Dass dieses Wissen systematisch erhoben und vervollstĂ€ndigt wurde, zeigt sich insbesondere an den Versuchen der Abteilung, den weiteren Werdegang der ‚Zöglinge‘ auch nach deren Entlassung zu erheben. Briefe mit Fragebögen wurden versendet, um die „Langzeitfolgen“ der eigenen Arbeit zu untersuchen (461). Diese insgesamt vier Kapitel geben einen gelungenen Einblick in AktenfĂŒhrung und Anstaltsalltag – und damit in die Wissenspraktiken der Abteilung, die sich im Laufe der Zeit, auch wĂ€hrend des Nationalsozialismus, als Ă€ußerst stabil erwiesen.

Mit „Sex and Crime“ bietet das fĂŒnfte Kapitel einen inhaltlichen Auswertungsschwerpunkt der Akten. Friedmann zeigt anhand des Aktenmaterials, dass ĂŒber den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ein zentrales Interesse auf der Beobachtung der SexualitĂ€t der Patient:innen lag. Schwer auszuhalten sind die von ihr zusammengetragenen zum Teil drastischen Beispiele, gerade was die Pathologisierung von Betroffenen sexualisierter Gewalt angeht.

Kapitel sieben widmet sich der Arbeit der Abteilung und damit v.a. Aspergers TĂ€tigkeit wĂ€hrend des Nationalsozialismus. Weder die Aufgabe der Abteilung, diejenigen Kinder, die des „Aufwands“ einer HeilpĂ€dagogischen Behandlung „wĂŒrdig“ waren, von jenen, die es nicht waren, zu unterscheiden, noch ihr Ziel, die „AnpassungswĂŒrdigen anzupassen“, Ă€nderte sich durch den „Anschluss“ Österreichs (420). Was sich hingegen wandelte, waren die Diagnosen und ihre Konsequenzen, wie Friedmann anhand von einzelnen Akten zeigen kann: Zum Teil wurden die Akten ehemaliger Patient:innen im Rahmen von Erbgesundheitsverfahren an die GesundheitsĂ€mter ĂŒberstellt. In mindestens fĂŒnf FĂ€llen erfolgte eine Überweisung der Patient:innen an die Wiener stĂ€dtische Nervenklinik fĂŒr Kinder „Am Spiegelgrund“, einer Einrichtung, in der bis zum Kriegsende Kinder, die als „lebensunwert“ begutachtet worden waren, ermordet wurden. Bei zweien findet sich ein Gutachten Aspergers, das ihre Überweisung dorthin explizit befĂŒrwortet (446-447).

Ihrem Ziel, eine „Gesamtdarstellung“ der HeilpĂ€dagogischen Abteilung des Wiener Kinderspitals zu liefern, wird Friedmann gerecht, auch wenn die auf VollstĂ€ndigkeit anlegte Perspektive zuweilen Schwierigkeiten mit sich bringt. Vor allem in den qualitativ fokussierten Kapiteln scheint die außerordentliche Aktenkenntnis, die anhand zahlreicher Beispiele illustriert wird, auf Kosten einer Systematisierung zu gehen. Die AusfĂŒhrlichkeit der unzĂ€hligen Fallbeispiele, die eigentĂŒmlich unverbunden nebeneinander stehen bleiben, mögen dem Anspruch einer Gesamtdarstellung nachkommen. Im Hinblick auf einen Beitrag zur Analyse begutachteter Kindheiten gereicht sie zum Nachteil, da die Bedeutung der ins Anekdotische gehenden Beispiele hĂ€ufig vage und letztlich deskriptiv bleibt.

Insofern bleibt Friedmanns Beitrag zur Geschichte „begutachteter Kindheiten“ eher marginal, vergleicht man sie mit Studien wie der von Hafner zur Kinderbeobachtungsstation in Bern oder Ralsers Untersuchung zur Konstruktion von SubjektivitĂ€t durch Begutachtung [3]. Dennoch: Friedmann hat mit ihrer Studie eine reichhaltige, sich detailliert an den Quellen orientierende Untersuchung der HeilpĂ€dagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik vorgelegt, die als fundierte Gesamtdarstellung einer Institution durchaus Beachtung verdient.

[1] Wright, K., Swain, S. & Sköld, J. (2017). The Age of Inquiry. A global mapping of institutional abuse inquiries. https://doi.org/10.4225/22/591E1E3A36139.
[2] Vgl. u.a. Dietrich-Daum, E. (2018). Über die Grenze in die Psychiatrie. Südtiroler Kinder und Jugendliche auf der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl in Innsbruck (1954–1987). UniversitĂ€tsverlag Wagner; Rose, W., Fuchs, P.& Beddies, T. (2016). Diagnose „Psychopathie“. Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918-1933. Böhlau Verlag.
[3] Hafner, U. (2022). Kinder beobachten. Das Neuhaus in Bern und die AnfÀnge der Kinderpsychiatrie, 1937-1985. Chronos; Ralser, M. (2010). Das Subjekt der NormalitÀt. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900. Wilhelm Fink.
Jona Garz (ZĂŒrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jona Garz: Rezension von: Friedmann, Ina: AbnormalitĂ€t (de-)konstruiert, Die HeilpĂ€dagogische Abteilung der Wiener UniversitĂ€ts-Kinderklinik und ihre Patient*innen in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts. Wien / Köln: Böhlau 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978320521541.html