EWR 10 (2011), Nr. 5 (September/Oktober)

Sammelrezension zum Thema Zeit und PĂ€dagogik

Marie-Theres SchönbÀchler / Rolf Becker / Armin Hollenstein / Fritz Osterwalder (Hrsg.)
Die Zeit der PĂ€dagogik
Zeitperspektiven im erziehungswissenschaftlichen Diskurs
Bern: Haupt Verlag 2010
(302 S.; ISBN 978-3-2580-7537-2; 32,00 EUR)
Helga Zeiher / Susanne Schröder (Hrsg.)
Schulzeiten, Lernzeiten, Lebenszeiten
PĂ€dagogische Konsequenzen und zeitpolitische Perspektiven schulischer Zeitordnungen
Weinheim: Juventa 2008
(172 S.; ISBN 978-3-7799-2226-1; 16,95 EUR)
Schulzeiten, Lernzeiten, Lebenszeiten „Zeit“ war lange ein relativ vernachlĂ€ssigtes Thema in der Erziehungswissenschaft. In den letzten Jahren sind allerdings verschiedene Arbeiten erschienen, die sich mit Zeit in institutionellen und außerinstitutionellen Bildungsprozessen beschĂ€ftigen. Das Spektrum reicht von theoretischen und empirischen Studien, welche die grundlegende Bedeutung von Zeit in der Erziehung, Bildung und im Lernen klĂ€ren möchten, bis hin zu solchen, die Zeit als einen bedeutsamen Aspekt neben anderen hinsichtlich bestimmter Bereiche spezifizieren. DarĂŒber hinaus erfĂ€hrt das Thema ein verstĂ€rktes Interesse im Kontext der VerĂ€nderung von schulischen Zeitstrukturen, beispielsweise im Hinblick auf Strukturierung und Rhythmisierung an Ganztagsschulen. Schließlich wird Zeit hinsichtlich gesellschaftlicher Wandlungs- und Beschleunigungsprozesse untersucht.

(I) Die Zeit der PĂ€dagogik

Der Band mit dem Titel „Die Zeit der PĂ€dagogik“ ist als Festschrift fĂŒr Walter Herzog erschienen und soll Anschluss und WĂŒrdigung an dessen 2002 erschienenes Werk „ZeitgemĂ€ĂŸe Erziehung. Die Konstruktion pĂ€dagogischer Wirklichkeit“ bieten. Die BeitrĂ€ge nehmen jeweils einen mehr oder weniger engen Bezug zu Herzogs Arbeiten. Im Vorwort wird darauf verwiesen, dass es den Herausgebern eher darum gehe, „die verschiedenen Dimensionen der Zeit, mit denen die pĂ€dagogische Forschung konfrontiert ist oder die sie erarbeitet, zu inventarisieren“ (9). Das Themenspektrum ist dementsprechend vielfĂ€ltig. In manchen BeitrĂ€gen werden Dimensionen der Zeit eher beilĂ€ufig aufgegriffen, wohingegen sich andere um eine zentrale Hervorhebung des Zeitaspekts bemĂŒhen. Die BeitrĂ€ge gliedern sich in drei Bereiche, welche das Thema Zeit auch empirisch in den Blick nehmen. Im Folgenden werden aus jedem dieser Bereiche einige ausgewĂ€hlte BeitrĂ€ge kurz vorgestellt.

Unter dem Begriff „Erziehungszeit“ sind BeitrĂ€ge gruppiert, die Zeit in Schule, Unterricht und Familie als „gemeinsam verbrachte Zeit“ fokussieren. Diese erhĂ€lt jeweils eine bestimmte QualitĂ€t, beispielsweise durch Peerbeziehungen der SchĂŒlerInnen, welche die Wahrnehmung schulischer Umwelt und ihre Schul(un)lust beeinflussen, aber auch durch Beziehungen zur Lehrperson, welche die Wahrnehmung der KlassenfĂŒhrung beeinflussen. Letzteres zeigen Simon BĂ€rtschi und Marie-Theres SchönbĂ€chler im ersten Beitrag mit dem Titel „Unterricht als gemeinsam verbrachte Zeit“, in der sie die Ergebnisse ihrer quantitativ angelegten Studien vorstellen.

Anders Rolf Becker in seinem Beitrag. Er untersucht ebenfalls in einer qualitativen Untersuchung die Zeit, die Großeltern mit ihren Enkeln verbringen hinsichtlich der Konsequenzen fĂŒr darin erzeugte Bildungsprozesse und verbesserte Bildungschancen. Diese sollen einen Beitrag zur VergrĂ¶ĂŸerung von gesellschaftlichen Bildungsungleichheiten leisten können.

Marianne SchĂŒpbach bezieht sich auf den aktuellen bildungspolitischen Diskurs in der Schweiz und thematisiert die „GanztĂ€gige Bildung von Schulkindern im Wandel der Gesellschaft“. Mit dem Aufbau der Tagesstrukturen differenzieren sich neue zeitliche Formen in der Institution Schule heraus. Die Autorin spricht sich fĂŒr ein VerstĂ€ndnis von Schule als Bildungs- und Lebensraum aus und plĂ€diert fĂŒr Blockzeiten, die eine obligatorische ganztĂ€gige Rhythmisierung und Strukturierung ermöglichen und die in Zusammenhang mit einer neuen Unterrichtskultur stehen können. Hier wĂ€re zu fragen, wie sich die verĂ€nderten Zeitstrukturen der Blöcke in den von SchĂŒpbach skizzierten Rahmen der gesellschaftlichen VerĂ€nderungen und Anforderungen tatsĂ€chlich einfĂŒgen.

Der zweite Schwerpunkt „Zeitmodelle der PĂ€dagogik“ versammelt Arbeiten zu Zeit in unterschiedlichen pĂ€dagogischen Theorien, teils in historischer Perspektive, teils aber auch in Hinblick auf die zugrunde liegende zeitliche Struktur der Erziehung. Hermann Forneck greift in seinem Beitrag „Zur GouvernementalitĂ€t schulischer Zeitregimes“ ein wichtiges Thema auf. Forneck zeigt, dass Erziehung grundlegend durch ein „ausdifferenziertes Zeitregime“ (89) charakterisiert ist, welches das professionelle Handeln orientiert und maßgeblich die im Handlungsvollzug entstehenden pĂ€dagogischen Beziehungen strukturiert sowie legitimiert. Mit Bezug auf Foucaults Arbeiten zur Pastoralmacht und den Machtformen des Neoliberalismus wird die spezifische MachtausĂŒbung in Bildungsprozessen auch in ihrer Zeitlichkeit analysierbar.

Forneck zeigt, dass Erziehung von chronologischen Ordnungen durchzogen ist. Es handelt sich nicht nur um die Differenzierung und Seriation von Lebens- und Entwicklungsphasen, die fĂŒr das professionelle Handeln eine Art empirisches Programm darstellen (z.B. in Curricula und Artikulationsschemata), sondern ebenfalls um die jeweils mit den Phasen verknĂŒpfte Vorstellung ĂŒber ihr Gelingen. Die PĂ€dagogik bestehe so aus einer Ikonochronologie und einer Chronopathologie. In diesen zeitlichen professionellen Praktiken deute sich ein neues sĂ€kulares Pastorat an (98). Die konkreten Implikationen des daraus folgenden Zeitregimes sowohl fĂŒr professionell Handelnde als auch fĂŒr Subjektivierungsprozesse gilt es noch genauer zu erforschen. Es bleibt zu hoffen, dass sich vermehrt gouvernementalitĂ€tstheoretisch orientierte empirische Analysen diesem Thema widmen.

Der Dimension der Zeitlichkeit in der Erziehung nĂ€hert sich JĂŒrgen Oelkers in „Zeit verlieren. Eine Paradoxie Rousseaus“ in historischer Perspektive. Einer der am hĂ€ufigsten zitierten Rousseauschen Aussagen lautet, dass es in der Erziehung nicht darum gehe, Zeit zu gewinnen, sondern diese zu verlieren. Die naturgemĂ€ĂŸe Entwicklung eines Kindes benötigt vor allem eines: Zeit – sie kann nicht abgekĂŒrzt werden. Zeit soll aber fĂŒr Emile nicht in ihrer chronometrischen Eigenschaft erfahrbar werden. Er soll vielmehr an den Dingen lernen ohne Zeit, weil diese ihn aufgrund ihres kontinuierlichen VorrĂŒckens in eine AbhĂ€ngigkeit fĂŒhren wĂŒrden. Darum soll Emile in der Gegenwart leben im Modus der unmittelbaren Erfahrung. Die Erziehung muss darauf achten, dass das Kind sich wie die Natur entwickeln kann „in ungebrochenen Sequenzen, die nacheinander abfolgen mĂŒssen und die ausschließen, dass etwas vor der Zeit geschieht“ (158). Dies kann allerdings nur durch ein organisiertes und strikt kontrolliertes didaktisches Programm geleistet werden, bestehend aus arrangierten Lernumwelten. Zeit ist dann didaktisch genutzte Zeit. Paradoxerweise ist die ablaufende Zeit bei Rousseau abwesend, der einzige zeitliche Ablauf im Emile ist jener der Erziehungsalter. Aufgrund der „Gegenwart des Erlebens“ kann aber weder Zeit verloren noch gewonnen werden. DarĂŒber hinaus ist Rousseaus Erziehung „hochgradig kĂŒnstlich“ anstatt natĂŒrlich. Rousseaus Erziehungstheorie ist damit durch harte Indoktrination als durch Befreiung gekennzeichnet. Der Kult um Rousseau ĂŒberrasche daher umso mehr.

Im dritten Abschnitt „Erziehung zur und in der Zeit“ geht es zum einen um Wiederkehr und Dauerhaftigkeit bestimmter pĂ€dagogischer Themen sowie um die Formen ihrer Thematisierung. Zum anderen sind BeitrĂ€ge versammelt, die Zeit zum Gegenstand erzieherischen BemĂŒhens machen. Exemplarisch sei hier auf den Beitrag von Claudia Crotti mit dem Titel: „Mehr MĂ€nner in die Klassenzimmer“ verwiesen, in welchem sie eine historische Analyse der scheinbar konstanten Debatte um die Frage nach dem Geschlecht in der LehrtĂ€tigkeit vornimmt. Sie zeigt, dass diese Frage in der Schweiz seit Mitte des 19. Jahrhunderts in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden immer wieder auftaucht. Crotti arbeitet dabei heraus, dass zumeist die gleichen Argumente fĂŒr die allgemeine Verringerung der Frauen im Lehrberuf oder auch fĂŒr die BeschrĂ€nkung auf bestimmte Schulformen geltend gemacht wurden. Das Thema wurde schließlich im Jahr 2004 in Zusammenhang mit „PISA“ wieder aktuell. Letztlich, so bilanziert Crotti, handele es sich auch hier um nicht gerechtfertigte GrĂŒnde, das GeschlechterverhĂ€ltnis anzuzweifeln, sondern um Professionsinteressen.

Insgesamt gibt das Buch einen breiten Einblick in historische und aktuelle Themen pĂ€dagogischer Theoriebildung und Forschung. Es versammelt interessante WeiterfĂŒhrungen von Herzogs Überlegungen zur Zeit sowie Anbindungen an empirische Forschung. Das Themenspektrum ist jedoch so groß, dass die Systematisierung in die drei Schwerpunkte teilweise diffus und schwer nachvollziehbar bleibt. Einen soliden Überblick ĂŒber die möglichen Zeitperspektiven im aktuellen pĂ€dagogischen Diskurs gibt das Buch ebenso wenig wie eine Inventarisierung der Zeitdimensionen fĂŒr pĂ€dagogische Forschung.

(II) Schulzeiten, Lernzeiten, Lebenszeiten

Die „Deutsche Gesellschaft fĂŒr Zeitpolitik“ (DGfZP) legt mit diesem Sammelband die Ergebnisse ihrer Jahrestagung 2006 vor, mit dem sie auf die zeitlichen Folgen bildungspolitischer Entscheidungen fĂŒr das Leben von Schulkindern aufmerksam machen möchte. Die Konsequenzen von VerkĂŒrzung und Verdichtung der Schulzeit sowie der frĂŒheren Einschulung als Folgen von Reformentscheiden beispielsweise erzeugten ein „enges Zeitkorsett“, ein machtvolles schulisches Zeitregime und beschleunigte Lernzeiten. Die Konsequenzen dieser Bildungspolitik und der zeitlichen VerĂ€nderungen seien folgenreich; sie reichen unter anderem von Motivationsverlusten ĂŒber Bildungsbenachteiligung bis hin zu einer prinzipiellen Verschlechterung der LebensqualitĂ€t der Menschen.

Auch außerschulische ZusammenhĂ€nge werden im Rahmen der Betrachtung der zeitlichen LebensverhĂ€ltnisse von Kindern thematisiert. Es geht den Autoren um eine Vertretung der Kinderrechte, das Bewusstsein darĂŒber, dass „Schulzeit gegenwĂ€rtige Lebenszeit ist“ (9) und dass bildungspolitische Entscheidungen immer auch zeitpolitisch fungieren. Die insgesamt sechzehn EinzelbeitrĂ€ge des Bandes gliedern sich in vier systematische Abschnitte. Im Folgenden soll jeder Abschnitt charakterisiert werden, so dass die in den einzelnen BeitrĂ€gen (etwa von Helga Zeiher, Wolfgang Edelstein, Karlheinz Geißler, Mechthild Oechsle oder Ulrich MĂŒckenberger) vorgebrachten Argumente gebĂŒndelt werden.

Im ersten Abschnitt mit dem Titel „Schulzeiten und Lebenszeiten“ werden Zeitbedingungen und -probleme von Bildung in Schule, frĂŒhkindlicher Förderung und Familie im Lichte aktueller gesellschaftlicher und politischer VerĂ€nderungen thematisiert. Es geht zumeist um das MissverhĂ€ltnis von zunehmender Verknappung von Zeitressourcen und faktisch benötigter Zeit zum Lernen und gemeinsamen Leben. So wird dargelegt, dass die historisch gewachsene Menge an Zeit fĂŒr Bildung seit einiger Zeit zugunsten des BeschĂ€ftigungssystems wieder verkĂŒrzt wird. Dies sei Folge der gesellschaftlichen VerĂ€nderungen wie beschleunigte Wissensveralterung, erhöhte Qualifikationsnachfrage und Demographie (26). Die Konsequenzen seien fĂŒr die Menschen je nach Position im Qualifikationssektor sehr unterschiedlich.

Im Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel wird auch das Thema des Zukunftsbezugs schulischer Lernprozesse aufgegriffen, der in einer tiefen Krise gesehen wird. Aufgrund von Fortschrittsorientierung, moderner Ökonomie sowie anthropologischer Entsprechung des „Noch-Werden“ des Kindes werde die Gegenwart des Kindes der Zukunft unterworfen. Problematisch wird dies zunehmend, weil Zukunft als Kategorie immer weniger antizipierbar ist und eine kĂŒrzere GĂŒltigkeitsdauer besitzt. Schulen haben darauf zu reagieren, indem sie den Umgang mit Unsicherheit oder die Kompetenzen zum Lebenslangen Lernen lehren. Es solle aber auch die Gegenwart der Kinder wieder ernster genommen werden. In diesem Zusammenhang mĂŒssten aber die konkreten schulischen Zeitstrukturen verĂ€ndert werden, denn diese seien durch „OrganisationsrationalitĂ€t“ charakterisiert und sperren das Lernen in ein „ZeitgefĂ€ngnis“ ein (41). Stattdessen soll Zeit als relative und individuell bestimmbare GrĂ¶ĂŸe verstanden werden. Auch in der frĂŒhkindlichen Bildung und in modernen Familienstrukturen mit zwei erwerbstĂ€tigen Elternteilen wird eine Verknappung der Zeit zulasten der BedĂŒrfnisse der Kinder identifiziert.

Im zweiten Abschnitt „Kompetenzen fĂŒr das Umgehen mit Zeit“ befassen sich Autoren mit der Frage, wie in verschieden Kontexten des Lernens eine „Zeitkompetenz“ erworben werden kann, welche aufgrund der o.g. gesellschaftlichen Erfordernisse immer wichtiger wird. Mittlerweile haben sich diesbezĂŒglich vielfĂ€ltige Konzepte entwickelt und ein großer Markt an Ratgeberliteratur etabliert (Stichworte: Work-Life-Balance oder Zeitmanagement). Aufgabe der Schule sei es, ein „Bewusstsein fĂŒr das gesellschaftliche Ziel des Zeitwohlstandes“ zu kultivieren (93).

Ein aktives und produktives Umgehen mit Zeit beinhalte, unterschiedlichen Zeitanforderungen souverĂ€n begegnen und ein angemessenes Maß an Muße realisieren zu können. Erworben könne dies durch Lernformen „ohne Zeitdruck“, wie beispielsweise in WochenplĂ€nen. Auch fĂŒr die Herausbildung von IdentitĂ€t sei Zeitkompetenz wichtig. Dies könne aber nur in einer „Schule der Lebenskunst“ (63) gelingen. In einer anderen Hinsicht sei die Herausbildung eines ökologischen Zeitbewusstseins in der Bildung fĂŒr nachhaltige Entwicklung zentral. Das Wissen ĂŒber Zeit sei Voraussetzung dafĂŒr, dass kĂŒnftige Situationen antizipiert und verĂ€ndert werden könnten.

Insgesamt werden in diesen BeitrĂ€gen vorwiegend die Erfordernisse der Ausbildung verschiedener zeitspezifischer Kompetenzen betont. Wie jedoch derartige Zeitkompetenzen im Lernprozess konkret ausgebildet werden können, bleibt meistens unklar. Einig sind sich die Autoren darin, dass Entschleunigung der Beschleunigung entgegenstehe und genĂŒgend Zeit in Lernprozessen zur VerfĂŒgung gestellt werden mĂŒsse.

Im Abschnitt „Lernen zeitlich organisieren“ werden die Zeitstrukturierungen in der Schule in feinkörniger Perspektive analysiert. Es werden unter anderem verschiedene Schulmodelle, insbesondere Reformschulen und „Regelschulen“ gegenĂŒbergestellt und die in ihnen vorherrschenden zeitlichen AusprĂ€gungen der Lehr-Lernprozesse untersucht. So wird beispielsweise von einer ethnographischen Studie berichtet, die die Arbeitsweisen von Kindern unter der Fragestellung vergleicht, wie sich die schulische Zeitorganisation auf Lernen auswirkt.

Es wird fĂŒr eine Schule plĂ€diert, die eine selbststĂ€ndige Arbeitsgestaltung der SchĂŒler gemĂ€ĂŸ ihrer Eigenzeit erlaubt. Die tradierten, kleinteilig getakteten Zeitstrukturen der Schule seien den aktuellen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Die schulischen Reformen stĂ€nden aber einer fortschreitenden Ökonomisierung der Schule gegenĂŒber (beispielsweise durch Wettbewerb oder Schulautonomie), die in Konflikt zu den Eigenzeiten aller Akteure stehe. Dennoch könnten Schulen in fĂŒnf unterschiedlichen Gestaltungsbereichen ihre Zeitorganisation bestimmen (126).

Schließlich unternehmen zwei BeitrĂ€ge eine analytische Differenzierung der fĂŒr Bildungsprozesse konstitutiven Zeitordnungen. Zentral seien das VerhĂ€ltnis und die Synchronisierung von Eigenzeiten und anderen schulischen Zeiten. Bildungsprozesse könnten dann erfolgreich sein, so die Vermutung, wenn das biologisch-psychische System des Subjektes, das Zeitsystem der Bildungsinstitution und die Zeitsysteme des Bildungsgegenstandes aufeinander abgestimmt werden. Des Weiteren sind Lehrer gefordert, körperliche, affektive und kognitive Eigenzeiten zu unterscheiden und zu beobachten.

Der letzte Beitrag ist separat im Abschnitt „Schule in der lokalen Alltagswelt“ gruppiert und befasst sich mit der Frage, wie Schulen Bildungsknotenpunkte im Quartier werden können. Dies mache eine neue Raum-Zeitgestaltung des Lernens in der VerschrĂ€nkung mit der nahrĂ€umlichen Umwelt erforderlich, wie es Modelle aus den USA schon aufgreifen.

Alle BeitrĂ€ge plĂ€dieren durchgehend und teilweise polemisch fĂŒr eine Entschleunigung zeitlicher Lebens- und Bildungsbedingungen der Kinder. Allen liegt eine stark polarisierte VerhĂ€ltnisbestimmung von ökonomisierter Gesellschaft und individueller Eigenzeit zugrunde. Letztlich ist dieser Dualismus der klassischen Differenz von objektiver und subjektiver Zeit geschuldet. Es wird damit gleichzeitig behauptet, dass es bestimmte natĂŒrliche und feststehende zeitliche BedĂŒrfnisse von Kindern gibt, die auf die anthropologische Erfahrung einer a priori gegebenen subjektiven Zeit zurĂŒckzufĂŒhren sind.

Eine derartige polarisierende GegenĂŒberstellung verdeckt aber, dass die postulierten Zeitordnungen und Zeiterfahrungen nicht unabhĂ€ngig voneinander zu erfassen, sondern vielmehr aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig hervorbringen. AnschlĂŒsse an temporalphilosophische Reflexionen wĂ€ren an dieser Stelle hilfreich gewesen, um diese Unterbestimmtheit und Reproduktion des alten (neuzeitlichen) Dualismus zu ĂŒberwinden. Um das genaue Zusammenspiel von Zeitordnungen und darin erzeugten faktischen ZwĂ€ngen oder Freiheiten und den tatsĂ€chlichen produktiven oder unproduktiven Folgen fĂŒr Bildungsprozesse zu verstehen, werden vertiefende theoretische und empirische Studien benötigt, die eine Mikroperspektive auf die Zeitlichkeit der in verschiedenen Schulformen und didaktischen Arrangements stattfindenden Lernprozesse werfen.

Abschließend kann resĂŒmiert werden, dass die beiden SammelbĂ€nde einen aktuellen Einblick in die pĂ€dagogische Debatte um Zeit bieten. An beiden Publikationen kann deutlich werden, dass der Umgang mit Zeit in pĂ€dagogischen Kontexten einer vertiefenden allgemeinpĂ€dagogischen Auseinandersetzung bedarf, welche die PrĂ€missen von pĂ€dagogischen ZeitbedĂŒrfnissen und gegenwĂ€rtigen Umgangsweisen mit Zeit herausarbeitet. Auf diese Weise wird eine zugleich zentrale und vielfĂ€ltige Frage bearbeitet werden können, die den erziehungswissenschaftlichen Diskurs nun seit einigen Jahren bewegt: die nach einer zeitgemĂ€ĂŸen Erziehung.
Kathrin Berdelmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin Berdelmann: Rezension von: SchönbĂ€chler, Marie-Theres / Becker, Rolf / Hollenstein, Armin / Osterwalder, Fritz (Hg.): Die Zeit der PĂ€dagogik, Zeitperspektiven im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. Bern: Haupt Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978325807537.html