EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)

Sammelrezension zur Geschichte der ReformpÀdagogik

Winfried Böhm
Die ReformpÀdagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren
MĂŒnchen: Beck 2012
(126 S.; ISBN 978-3-406-64052-0; 8,95 EUR)
Ulrich Herrmann / Steffen SchlĂŒter (Hrsg.)
ReformpĂ€dagogik – Eine kritisch-konstruktive VergegenwĂ€rtigung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(320 S.; ISBN 978-3-7815-1846-9; 19,90 EUR)
Wolfgang Keim / Ulrich Schwerdt (Hrsg.)
Handbuch der ReformpĂ€dagogik in Deutschland (1890–1933)
2 BĂ€nde
Frankfurt am Main: Peter Lang 2013
(1256 S.; ISBN 978-3-631-62396-1; 139,00 EUR)
Damian Miller / JĂŒrgen Oelkers (Hrsg.)
ReformpĂ€dagogik nach der Odenwaldschule – Wie weiter?
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2014
(358 S.; ISBN 978-3-7799-2929-1; 24,95 EUR)
Die ReformpĂ€dagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren ReformpĂ€dagogik – Eine kritisch-konstruktive VergegenwĂ€rtigung Handbuch der ReformpĂ€dagogik in Deutschland (1890–1933) ReformpĂ€dagogik nach der Odenwaldschule – Wie weiter? Nach der Aufdeckung der nie vorgestellten Anzahl von FĂ€llen sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule mit dem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 6. MĂ€rz 2010 ist eine Kontroverse ĂŒber den Zusammenhang zwischen ReformpĂ€dagogik und sexuellem Missbrauch von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern durch Erzieher ausgebrochen. Wie nach diesem Schock noch Geschichtsschreibung zur ReformpĂ€dagogik möglich ist und was sie zur AufklĂ€rung der Ursachen und UmstĂ€nde sexualisierter Gewalt beitragen kann, soll an vier sehr unterschiedlichen und Ă€ußerst streitigen Veröffentlichungen aufgezeigt und geprĂŒft werden: (1) einer Kurzdarstellung von Böhm (2012), (2) einem voluminösen Handbuch von Keim und Schwerdt (2013), (3) einer von Herrmann und SchlĂŒter herausgegebenen Aufsatzsammlung (2012) sowie (4) einem von Miller und Oelkers edierten Tagungsband (2014).

(1) Die ganze ReformpÀdagogik in einem schmalen Taschenbuch

Zu den VorfĂ€llen in dem ĂŒber 100 Jahre bestehenden Vorzeige-Landerziehungsheim gibt es inzwischen mehrere Monographien [1], unzĂ€hlige AufsĂ€tze, TV-Features und sogar Dokumentarfilme; demnĂ€chst wird ein Spielfilm zum Thema herauskommen. Wer sich ĂŒber die Medienreaktionen informieren will, kann sich leicht in langen Link- und Literaturlisten zum Beispiel auf den Internetseiten der Odenwaldschule selbst oder der Vereinigung „Blick ĂŒber den Zaun“ [2] bedienen. Schon 2010 hatte sich JĂŒrgen Oelkers zu den Möglichkeiten der Historiographie zur ReformpĂ€dagogik in dieser neuen Konstellation geĂ€ußert [3]. Statt die Auslegung von Absichten, Personenkult und moralisierende Idealisierung fortzusetzen, votierte er dafĂŒr, die Perspektive auf die epochenĂŒbergreifende praktische BewĂ€hrung von Reformschulen im staatlichen Schulwesen zu richten, denn „dann verliert die ReformpĂ€dagogik ihren Sonderstatus“ (15). Gleichzeitig schlug er einen Ă€ußerst scharfen Ton an, indem er fĂŒr den Ausschluss der freien LektĂŒre belasteter Autoren aus dem wissenschaftlichen Diskurs (18) eintrat. Den anderen Extrempol in der Kontroverse dieses Jahres bildete Hartmut von Hentigs erneute Verteidigung von Zuneigung und Liebe zum Kind als unverzichtbarem Element von Erziehung in einem Vortrag [4]. „FrĂŒher“, so Hentig, „hat man das den ‚pĂ€dagogischen Eros‘ genannt. Diesen Gott hat Platon in die Erziehung eingefĂŒhrt“ (90). Verharmlosend kritisierte er die Reaktionen der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf die MissbrauchsfĂ€lle als „in diesem Punkt kleinmĂŒtig“ (ebd.). Offenbar hatte er den Zusammenhang zwischen philosophisch ĂŒberhöhender Rede von pĂ€dagogischem Eros und platonischer Knabenliebe einerseits und pĂ€derastischen Verbrechen unter diesem Schutzmantel andererseits immer noch nicht begriffen.

In dieser aufgeheizten Situation wird man nun in dem BĂ€ndchen des emeritierten WĂŒrzburger Erziehungswissenschaftlers Winfried Böhm knapp, kompakt und kompetent ĂŒber das, was man die internationale ReformpĂ€dagogik nennen könnte, informiert. Zu Beginn unterscheidet er fĂŒnf erziehungswissenschaftliche Rezeptionsweisen der ReformpĂ€dagogik nach 1945 und kritisiert sie allesamt als verfehlt oder unzureichend:

  • KANONISIEREN: Die ReformpĂ€dagogik werde in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Traditionsquelle und Ideenreservoir fĂŒr pĂ€dagogische Gegenwartslösungen dargestellt.
  • IGNORIEREN: In der Bildungsreformphase um 1970 blende man quasi sozialtechnologisch gestimmt selbst offensichtliche ZusammenhĂ€nge mit historischen Reformmodellen aus.
  • POLEMISIEREN: Besonders in der Aufdeckung von KontinuitĂ€tslinien zwischen ReformpĂ€dagogen und Nationalsozialismus verabsolutiere man eine Negativsicht.
  • DEKONSTRUIEREN: In ideologiekritischen Analysen wĂŒrde die ReformpĂ€dagogik als eine Epochenfiktion von Programmen mit guten Absichten und problematischen Theorieannahmen verworfen.
  • REDUZIEREN: Die modernisierungstheoretischen ErklĂ€rungsversuche verfehlten die historisch konkrete Konzentration der Reformströmungen um 1900.

Das Bild der ReformpĂ€dagogik erweise sich bislang als ein flirrendes Vexierbild konkurrierender Interpretationen und Projektionen, die in ihrer VieldimensionalitĂ€t zugleich Anlass fĂŒr eine Neudarstellung sein mĂŒssten.

Die Vielfalt von Strömungen und Richtungen der pĂ€dagogischen Epoche der ReformpĂ€dagogik verdeutlicht Böhm in den folgenden vier Kapiteln durchaus in einem zusammenhĂ€ngend strukturierten und lesbaren Text, der weit ĂŒber ein Fakten-Repetitorium hinausgeht. Langfristige historische Voraussetzungen werden in Kapitel zwei aufgezeigt. Dazu gehören erziehungstheoretische Konzepte der Neuzeit, Traditionen der Schulkritik, die Distanzierung vom Christentum und Varianten des Bezugs auf Rousseau. Im folgenden Kapitel werden hierzulande teilweise unbekannte konzeptionelle und praktische ReformansĂ€tze aus Russland, Italien, Spanien, Frankreich und den USA vorgestellt. Systematischer angelegt ist das vierte Kapitel. In ihm sind Grundkategorien aus dem deutschen Diskurs wie Gemeinschaft, Leben, Kind, Arbeit und Kunst abgehandelt. Das abschließende Kapitel wagt sich dann personenzentriert an eine Auswahl von wiederum deutschen Konzeptionen: Hermann Lietz und die Landerziehungsheime, Peter Petersen und den Jenaplan, Rudolf Steiner und die WaldorfpĂ€dagogik, Maria Montessori und die Kosmische Erziehung sowie Paul Oestreich und die Einheitsschule. Mit Ausnahme von Oestreich werden allen von Böhm zu Recht ideologiekritische und philosophische EinwĂ€nde vorgehalten. Was wollte der Autor mit dieser Selektion belegen? Die Einheit der deutschen ReformpĂ€dagogik als Gruselkabinett? Wohl kaum.

Zwar geht Böhm bereits auf die Missbrauchsskandale an der Odenwaldschule ein. Er arbeitet auch das problematische Familienprinzip der sozialen Organisation in Landerziehungsheimen ebenso heraus wie im Anschluss an Sabine Seichter [5] die mĂ€nnerbĂŒndische und elitĂ€re Legitimationsformel vom platonischen Eros und der pĂ€dagogischen Liebe zum Kind. Gleichzeitig relativiert er diesen Befund aber, indem er den Zusammenhang mit reformpĂ€dagogischem Denken und Handeln auf die Landerziehungsheime beschrĂ€nkt. Nicht die ganze ReformpĂ€dagogik sei diskreditiert. Die vier von Oelkers in „Eros und Herrschaft“ 2011 analysierten Internatsschulen machten „bestenfalls gerade einmal zwei Prozent der deutschen Reformschulen“ (16) aus. Auch sei Oelkers Pauschalisierung der ganzen Epoche in sich widersprĂŒchlich; wenn er von „den dunklen Seiten der ReformpĂ€dagogik“ schreibe, dann setze er doch voraus, dass es auch lichte Seiten gebe. Von der von Oelkers seit vielen Jahren vertretenen Gesamtdeutung, die ReformpĂ€dagogik sei eine zuerst geisteswissenschaftliche und seit 1968 links-alternative Erfindung, hĂ€lt Böhm schon gar nichts. Wer wie Oelkers selbst stĂ€ndig LehrbĂŒcher und Handbuchartikel ĂŒber „Die ReformpĂ€dagogik“ schreibe, hebe seine „These von der ReformpĂ€dagogik als reiner Fiktion selbst auf“ (ebd.).

FĂŒr Böhm gibt es eine „erstaunliche gedankliche Übereinstimmung“ (18) der vielen reformpĂ€dagogischen Strömungen. Die ReformpĂ€dagogik sei eine geschichtliche Tatsache und eine unterscheidbare pĂ€dagogische Denkweise. Im Rahmen seiner personalen PĂ€dagogikvorstellung sieht Böhm ihren Kern – in einer an Theodor Litt angelehnten Wendung – in der Anerkennung der Unaufhebbarkeit der beiden Pole FĂŒhren und Wachsenlassen sowie von Reform- und RegelpĂ€dagogik als unendlichem Projekt jeder Erziehung.

(2) Ein erstes Handbuch der deutschen ReformpÀdagogik

Handelt es sich bei dem Ende 2013 erschienenen und von den beiden Bildungshistorikern Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt herausgegebenen Handbuch um einen neuen Aktualisierungsversuch reformpĂ€dagogischer Theorie und Praxis mit historiographischen Mitteln? Und warum benötigt dieses zweibĂ€ndige Werk mehr als 1.250 Druckseiten und 38 BeitrĂ€ge zu Einzelthemen von 27 verschiedenen Autoren, wo doch Winfried Böhm als Einzelautor mit weniger als einem Zwanzigstel des Textumfangs ausgekommen ist, um sogar die ReformpĂ€dagogik in ihrer InternationalitĂ€t darzustellen? Allein der Artikel von Ulrich Schwerdt ĂŒber „Unterricht“ (949–1009) ist so umfangreich wie das ganze BĂŒchlein von Böhm.

Eine wesentliche Leistung der Autoren und Herausgeber des Handbuchs besteht darin, dass die in den vergangenen Jahrzehnten erschienene Forschung mit regionalgeschichtlichen Schwerpunkten und zu einzelnen Vertreterinnen und Vertretern der deutschen ReformpĂ€dagogik ausgewertet und integriert worden ist. Die beiden Herausgeber haben die Aufgabe gelöst, allen Handbuchartikeln eine gemeinsame Grundstruktur zu geben. Diese besteht zum einen in der durchgĂ€ngig gesellschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung pĂ€dagogischer Konzepte in ihren kulturellen, politischen und sozialen ZusammenhĂ€ngen. Zum anderen ist es gelungen, alle BeitrĂ€ge auf eine einheitliche diachrone Strukturierung zu verpflichten, die von (a) lĂ€ngerfristigen Traditionslinien ĂŒber die beiden Hauptabschnitte (b) des wilhelminischen Kaiserreichs bis zum Ersten Weltkrieg und (c) der Weimarer Republik sowie abschließend (d) der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte nach 1933 reicht. Dies ist fĂŒr die Lesbarkeit des Gesamtwerkes von großem Nutzen.

Im Unterschied zu allen bisherigen Geschichten der ReformpĂ€dagogik bieten die beiden BĂ€nde keine Einzeldarstellungen der ĂŒblichen reformpĂ€dagogischen Hauptströmungen und der prominenten Hauptprotagonisten, sondern eine systematische Gliederung von Abhandlungen zu vier Themenfeldern:

(A) Als „Gesellschaftliche Kontexte“ firmieren BeitrĂ€ge zu politischen Parteien,
der Arbeiterbewegung, der konservativen Revolution, der Friedensbewegung, der Jugendbewegung und zu pÀdagogischen BerufsverbÀnden sowie der Erziehungswissenschaft und Psychologie.

(B) Von den „Leitideen und Diskursen“ werden Entwicklung, Kindorientierung, Ganzheit, Natur, SelbsttĂ€tigkeit, IndividualitĂ€t, ReligiositĂ€t / SpiritualitĂ€t, Gemeinschaft und Gesellschaft, PĂ€dagogischer Eros [6], Zukunft sowie Macht und Grenzen der Erziehung analysiert.

(C) In dem Teil „Praxisfelder“ finden sich Artikel zu Vorschulerziehung, Schule, Berufsbildung, HeilpĂ€dagogik, SozialpĂ€dagogik, Erwachsenenbildung und GefĂ€ngnispĂ€dagogik.

(D) Beim Oberbegriff „Handlungssituationen“ werden Unterricht, Arbeit, Spiel, Sprache und Literatur, Musik, Kunstunterricht, Darstellendes Spiel, LeibesĂŒbungen sowie Feste und Feiern abgehandelt.

Dies mag auf den ersten Blick den Nachteil haben, dass man hier keine konzentrierten Informationen zu den gewohnten Namen und Richtungen findet, die man ĂŒblicherweise mit der deutschen ReformpĂ€dagogik verbindet. Dieser Ansatz eröffnet stattdessen den Blick auf querliegende Konzeptionen und BedingungszusammenhĂ€nge. Die im Text hĂ€ufig anzutreffende parallelisierte und ausdifferenzierte Darstellung des reformpĂ€dagogischen Diskurses in den drei unterschiedlichen politisch-sozialen Milieuvarianten des elitĂ€r-konservativen Nationalismus, des bildungsbĂŒrgerlich-fortschrittlichen Liberalismus und des sozialistisch-emanzipatorischen Kosmopolitismus ist dafĂŒr ein Exempel.

Das Handbuch bietet keine isolierte Geschichte von Motiven und Ideen der deutschen ReformpĂ€dagogik, sondern pflegt eine Historie der Erziehungswirklichkeit, die die Ambivalenz dieser pĂ€dagogischen Bewegung schon in ihrer Genese erkennbar zu machen versucht. Die deutsche ReformpĂ€dagogik wird als ein facettenreicher, aber mit identifizierbaren Gemeinsamkeiten versehener Antwortversuch auf die mentalen und sozialstrukturellen Herausforderungen gesamtgesellschaftlicher Modernisierung in der Hochindustrialisierungsphase gesehen. Sie wird als Teil der Lebensreformbewegungen um die Jahrhundertwende verstanden, die in enger Beziehung zu den sozialen Emanzipationsbewegungen der Jugend, Arbeiter und Frauen stehen. So rekonstruieren die Handbuchautoren ReformpĂ€dagogik auch als kritische Reaktion und Versuch zur Etablierung einer alternativen Sozialisations- und Erziehungspraxis gegenĂŒber Geist und Struktur der starren Institutionalisierung von Schule und Schulsystem, wie sie das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat.

An vielen Beispielen wird ĂŒberzeugend die politische ZĂ€sur von 1918 fĂŒr die quantitative und soziale Verbreiterung reformpĂ€dagogischen Denkens und Handelns verdeutlicht. Was als ĂŒberschaubare Zahl punktueller Projekte im autoritĂ€ren System des Wilhelminismus begann, wird hĂ€ufig in der Weimarer Demokratie von Regelinstitutionen des Bildungs- und Erziehungswesens aufgegriffen und vielfĂ€ltiger praktiziert, jedoch ohne sich wirklich als gesellschaftlicher Standard durchsetzen zu können.

Das Handbuch wird ganz ohne Zweifel zu einem unverzichtbaren Standardwerk der Bildungsgeschichtsschreibung werden. Es hat sein selbst gestecktes Ziel konsequent verfolgt: „Wenn das Handbuch zum VerstĂ€ndnis wie zu einer gewissen Distanz gegenĂŒber der historischen ReformpĂ€dagogik einerseits, zu Neugier auf die von damaligen PĂ€dagoginnen und PĂ€dagogen entwickelten Ideen, Projekte und Modelle andererseits anregten, hĂ€tte es seine Intention erfĂŒllt“ (35).

(3) Eine Verteidigungsschrift gegenwÀrtiger ReformpÀdagogik

Ganz anders bestimmt die von Ulrich Herrmann und Steffen SchlĂŒter herausgegebene Textsammlung „ReformpĂ€dagogik – eine kritisch-konstruktive VergegenwĂ€rtigung“ ihren Gegenstand. Im einleitenden Beitrag von Theodor Schulze heißt es, „ReformpĂ€dagogik besteht heute weiter“ (23); diese wird als AnknĂŒpfung an die historische ReformpĂ€dagogik verstanden, wie sie sich gegenwĂ€rtig zum Beispiel in der Vereinigung „Blick ĂŒber den Zaun“, im „Deutschen Schulpreis“ und der „Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime“ (seit 2013: „Die Internate-Vereinigung“) organisiert. AuffĂ€llig in der Komposition des Buches ist die Argumentationsfigur, jĂŒngere neurowissenschaftliche Befunde und neurodidaktische Konzeptionen wĂŒrden eine kongeniale Aktualisierung und BestĂ€tigung reformpĂ€dagogischer Einsichten ermöglichen.

Der Sammelband besteht aus bereits an anderer Stelle veröffentlichten AufsĂ€tzen, RadiobeitrĂ€gen und Buchkapiteln aus neuerer Zeit sowie einigen OriginalbeitrĂ€gen. Die Verteidigungsschrift ist gegliedert in BeitrĂ€ge zur Kontroverse seit dem Odenwaldschul-Skandal 2010, zu historischen und internationalen BezĂŒgen, zu ihrer Kritik sowie neurowissenschaftlichen und entwicklungspĂ€diatrischen Perspektiven.

Eine sehr differenzierte Position nimmt Sabine Seichter in ihrem Beitrag ein, in dem sie auf fundierte Weise die in der historischen ReformpĂ€dagogik auftretende Reduzierung der erzieherischen Leitidee der Liebe auf Eros rekonstruiert (219–230) und die Möglichkeit konzediert, hierdurch „Schlupflöcher oder Legitimationen fĂŒr erzieherische (auch ‚professionelle‘) GrenzĂŒberschreitungen und -verletzungen aufzutun“ (225). Überhaupt tendiere die in vielen reformpĂ€dagogischen AnsĂ€tzen vertretene Einheit von Geist und Körper dazu, die beiden im Eros-Begriff enthaltenen Dimensionen der verstehenden Zuwendung und der sexuellen Beziehung zu integrieren (222).

Das erste und durchaus schlagende Argument gegen die These von einem diskreditierenden Verursachungszusammenhang zwischen ReformpĂ€dagogik und sexualisierter Gewalt in Landerziehungsheimen ist der Hinweis auf ĂŒberzogene Verallgemeinerung. Jörg Link (30–46) weist an Hand von Fritz Karsens Sammlung „Die neuen Schulen in Deutschland“ von 1924 nach, dass es sehr viele Gegenbeispiele von nicht-gefĂ€hrdenden pĂ€dagogischen Reformprojekten gab.

Zweitens nimmt der Herausgeber Ulrich Herrmann eine Ă€ußerst bemerkenswerte Problemverschiebung vor: Im Zusammenhang mit dem Odenwaldschul-Skandal gehöre „nicht die ReformpĂ€dagogik oder die Odenwaldschule auf den PrĂŒfstand“, sondern nur die dortige „Organisation des Zusammenlebens und -wohnens im Landheim“ und besonders „die heute ĂŒbliche Lehrerbildung“, die den „Erziehungs- und Bildungsauftrag [
] vollkommen vernachlĂ€ssigt“ (109).

Das dritte wesentliche Gegenargument ist die Trennung zwischen Straftaten des sexuellen Missbrauchs nach § 176 StGB von einzelnen ReformpĂ€dagogen und dem Konzept der Reform- und LanderziehungsheimpĂ€dagogik. Zwischen ihnen gebe es keinen „verursachenden Zusammenhang“, sondern nur „begĂŒnstigende Strukturen und pĂ€dagogische Praxen“ (241).

(4) Kritische Aufarbeitung der Odenwaldschul-Vergangenheit

Ulrich Herrmann wirft den Analysen von Oelkers eine Kriminalisierung der ganzen ReformpĂ€dagogik vor. In gleicher Weise, aber mit umgekehrter Stoßrichtung, könnte man Herrmann eine Pathologisierung von EinzeltĂ€tern vorwerfen, die zufĂ€llig auch PĂ€dagogen sind. Eine solche Diskussionsfront fĂŒhrt ganz offensichtlich nicht weiter.

Eine zukunftsorientiertere Themenstellung hatte sich die Tagung „ReformpĂ€dagogik nach der Odenwaldschule – Wie weiter?“ an der PĂ€dagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen am Schweizer Ufer des Bodensees im September 2012 vorgenommen. Die BeitrĂ€ge des von Damian Miller und JĂŒrgen Oelkers herausgegebenen Bandes dokumentieren umfassend ein großes Themenspektrum. Neben weiterfĂŒhrenden erziehungswissenschaftlichen und bildungsgeschichtlichen Analysen stehen authentische Berichte von Betroffenen und Verantwortlichen ĂŒber die VorgĂ€nge und Aufarbeitungsversuche an der Odenwaldschule. Aber auch aktuelle Beispiele kritisch-reflektierter Praxis von Reformschulen werden aufgefĂŒhrt. Einen paukenschlagartigen Kontrapunkt zu diesen Versuchen stellte das viel beklatschte Schlusswort des Vortrags von Andreas Huckele (alias JĂŒrgen Dehmers) dar: „Sperrt den Laden endlich zu!“ (232).

JĂŒrgen Oelkers verlĂ€ngert in seinen VortrĂ€gen auf der Tagung die Liste von bekannt gewordenen pĂ€dophilen PĂ€dagogen aus dem reformpĂ€dagogischen Umfeld. Jeder Leser von Hartmut von Hentigs schultheoretischen und schulpĂ€dagogischen Veröffentlichungen kennt seine Formel, eine Schule mĂŒsse „a place for kids to grow up in“ sein [7]. Sie stammt von dem libertĂ€ren US-Schriftsteller Paul Goodman (1911–1971), der sich fĂŒr eine Entschulung der Gesellschaft eingesetzt hatte. Hentig hatte ihn als GewĂ€hrsmann fĂŒr seine Auffassung von der „Entschulung der Schule“ hĂ€ufiger angefĂŒhrt. Oelkers berichtet nun, dass Goodman sich öffentlich fĂŒr das Recht des Lehrers auf sexuelle Beziehungen zu SchĂŒlern eingesetzt hat und wegen illegitimer Beziehungen zu jugendlichen SchĂŒlern mehrfach aus dem Schuldienst entlassen worden ist (65).

In einem Tagungsbeitrag von Patrick BlĂŒher zur psychoanalytisch inspirierten ReformpĂ€dagogik in Österreich und der Schweiz wird von dem Jugendheimleiter und Theoretiker der Erziehungsberatung August Aichhorn berichtet, der offensiv fĂŒr eine suggestive Therapie der Übertragung eingetreten ist, die gezielt mit einer erotischen Beziehung zwischen Erzieher und Zögling arbeiten soll (264).

Unter den vielen sehr bedenkenswerten AufsĂ€tzen in dem Band von Miller und Oelkers sei nur noch der ĂŒberzeugende Versuch von Christoph Maeder hervorgehoben (112–137). Er kennzeichnet das Landerziehungsheim Odenwaldschule organisationssoziologisch als krasses Beispiel einer „totalen Institution“ (nach Erving Goffmann), das Missbrauch und grenzverletzende Gewaltanwendungen institutionell begĂŒnstigt. In diesem Ansatz stimmt er mit Ulrich Herrmann ĂŒberein (Herrmann / SchlĂŒter, 242).

Auf dieser Spur beschreiten die BĂ€nde von Herrmann / SchlĂŒter und Miller / Oelkers parallele ErklĂ€rungsversuche. Es werden begĂŒnstigende und verhindernde Bedingungen von sexualisierter Gewalt in pĂ€dagogischen Institutionen und Interaktionen aufgelistet (Herrmann, 239f) und ansatzweise untersucht. Hier wĂ€ren zu nennen: das Familienprinzip in Internaten [8], die Theorie des pĂ€dagogischen Eros und die Balance zwischen Inhalts- und Beziehungsebene in Lern- und Erziehungsprozessen. DarĂŒber hinaus werden Zukunftsaufgaben fĂŒr Erziehungswissenschaft und Bildungsgeschichte herausgearbeitet: Es mĂŒssen die praktischen Wirkungen pĂ€dagogischer AbsichtserklĂ€rungen erforscht werden sowie die Verbreitung sexualisierter Gewalt außerhalb (reform-)pĂ€dagogischer Landerziehungsheime. Es steht zu vermuten, dass auch in Institutionen wie Kirche, MilitĂ€r und Familie solche Bedingungen Missbrauch begĂŒnstigen: 1) totale Machtstrukturen, 2) Hyper-Idealisierungen und 3) Dominanz der Beziehungsebene.

Auf der Homepage der Odenwaldschule ist zu Beginn des Schuljahres 2014 / 15 zu lesen: „Das Zusammenleben von Lehrern / Lehrerinnen und SchĂŒlern / SchĂŒlerinnen in Familien ist ein durch SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern grundsĂ€tzlich positiv bewertetes Konzept, das deswegen beibehalten und zugleich deutlich modifiziert wurde.“ [9] Man sieht: Der Versuch die Frage „wie weiter?“ zu beantworten, hat gerade erst begonnen. Und die Bildungsgeschichte hat dabei ein wichtiges Problem zu bearbeiten: Wie können machtbasierte Beziehungen in geschlossenen Institutionen entstehen und was kann sie verhindern?

[1] In Auswahl: Kaufmann, M. / Priebe, A. (Hrsg.): 100 Jahre Odenwaldschule. Der wechselvolle Weg einer Reformschule. Berlin: Verlag fĂŒr Berlin-Brandenburg 2010; Oelkers, J.: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der ReformpĂ€dagogik. Weinheim und Basel: Beltz 2011; FĂŒller, C.: SĂŒndenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln: DuMont 2011; Dehmers, J. (alias A. Huckele): Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Reinbek: Rowohlt 2011.
[2] Odenwaldschule: Wissenschaftliche Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt an der Odenwaldschule – Ein Überblick. Stand 12. Juni 2012. URL: http://www.odenwaldschule.de/fileadmin/-user_upload/-resources/pdf/Verantwortung/22.6.2012UEberblick-Wissenschaftl._Aufarbeitung_.pdf (letzter Aufruf 13.09.2014); Schulverbund Blick ĂŒber den Zaun: Zusammenstellung ReformpĂ€dagogik und sexuelle Gewalt. 28. September 2011. URL: http://www.blickueberdenzaun.de/index.php/textarchiv/161-zusammenstellung-reformpaedagogik-und-sexuelle-gewalt (letzter Aufruf 13.09.2014).
[3] Oelkers, J: Probleme der Geschichtsschreibung der deutschen ReformpÀdagogik. Vortrag am 12. Dezember 2010 in Bad Boll. URL:http://www.ife.uzh.ch/research/emeriti/oelkersjuergen/vortraegeprofoelkers/vortraege2010/BadBolldef.pdf (letzter Aufruf 14.09.2014).
[4] Vgl. Hentig, H. von: Die Elemente der Erziehung. In: BlĂ€tter fĂŒr deutsche und internationale Politik. 55. Jg. (2010), Heft 5, 85-98, hier 89f.
[5] Vgl. Seichter, S.: PĂ€dagogische Liebe. Erfindung, BlĂŒtezeit, Verschwinden eines pĂ€dagogischen Deutungsmusters. Paderborn: Schöningh 2007.
[6] In diesem Artikel (559–575) arbeiten Reinhard Uhle und Detlef Gaus (LĂŒneburg) auf ĂŒberzeugende Weise die BegrĂŒndungsmuster von pĂ€dagogischer Liebe und Eros einschließlich ihrer „AbgrĂŒnde“ auf ĂŒberzeugende Weise auf.
[7] Z. B.: Hentig, H. von: Die Schule neu denken. 1. Auflage. MĂŒnchen Wien: Hanser 1993, 9.
[8] Vgl.: Kessel, F. u. a.: Die inszenierte Familie. Familialisierung als Risikostruktur. In: Andresen, S. / Heitmeyer, W. (Hrsg.): Zerstörerische VorgĂ€nge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012, 164–177.
[9] Homepage der Odenwaldschule: Die besondere Verantwortung. URL: http://www.odenwaldschule.de/ver-antwortung/die-verantwortung.html (letzter Aufruf: 16.09.2014).
Hans-Joachim von Olberg (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Joachim von Olberg: Rezension von: Böhm, Winfried: Die ReformpĂ€dagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren. MĂŒnchen: Beck 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340664052.html