EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Friedrich Wilhelm Graf
Ernst Troeltsch
Theologe im Welthorizont
Eine Biographie
MĂŒnchen: C.H. Beck 2022
(638 S.; ISBN 978-3-406-790140-0; 38,00 EUR)
Ernst Troeltsch Zu besprechen ist das Buch eines emeritierten MĂŒnchener Systematischen Theologen ĂŒber einen 1865 nahe Augsburg geborenen protestantischen Theologen, ebenfalls Systematiker, der 1923 – dann aber als Ordinarius fĂŒr „Religions-‚ Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte“ der Berliner UniversitĂ€t – gestorben ist und von dem der Autor sagt, dass er heutzutage wohl doch der Öffentlichkeit ausdrĂŒcklich vorgestellt werden mĂŒsste. Schon in Berlin tue man sich schwer mit Ernst Troeltsch, z.B. 1914 beim Versuch, ihn in die Theologie zu berufen, erneut in der Bundeshauptstadt, die eine Gedenktafel fĂŒr Troeltsch 2022 jedenfalls nicht anbringen wollte, wie Graf mitteilen kann [1]. Aber trotz solch enger Verwandtschaft von Autor und Gegenstand und der eindeutigen Absicht, dem Helden seines Buches endlich die Anerkennung zu verschaffen, die er historisch, politisch und theologisch verdient, ist das ein Biographie, die man unbedingt lesen sollte. Sie liefert reichen Ertrag, wenn man ĂŒber das akademisch-politische Deutschland vom ausgehenden 19. Jahrhundert und bis 1923 reden will oder eine Innensicht auf die protestantische Theologie beim Übergang ins 20. Jahrhundert braucht oder neue Hinweise auf die Konstitutionsprobleme der Weimarer Demokratie. Man kann es auch einfach nur aus VergnĂŒgen lesen, denn es ist eine höchst unterhaltsam geschriebene Biographie ĂŒber ein hoch interessantes Leben.

Dieses Leben beginnt in einem protestantischen Elternhaus in Haunstetten nahe Augsburg, wo Troeltsch am 17.2.1865 als Ă€ltester Sohn einer Arztfamilie geboren wird, 1883 als Jahrgangsbester Abitur macht, nach einem Studienjahr in dem von Benediktinern getragenen Lyzeum in Augsburg und nach dem einjĂ€hrig-freiwilligen MilitĂ€rdienst ab 1884/85 in Erlangen Theologie studiert, wo man das um diese Zeit als bayerischer Protestant eben tut. Troeltsch lebt dort das studentische Leben, schließt sich also auch einer Studentenverbindung an, der 1836 gegrĂŒndeten Uttenruthia. Es ist dies die erste nichtschlagende, farbentragende, christliche Verbindung am Ort, die Graf als Keimzelle protestantischer Kultur und als Ursprungsort fortdauernd bedeutsamer Netzwerke protestantischer Akademiker und Intellektueller beschreibt. Troeltsch vergisst beim studentischen Leben (und Trinken – wobei Graf dem exzessiven Biertrinken wenig Geschmack abgewinnen kann) aber die Theologie nicht, wird nach weiteren Studien in Berlin und Göttingen mit 27 Jahren 1892 als Extra-Ordinarius der Systematischen Theologie nach Bonn berufen und schon 1894 Ordinarius in Heidelberg. Dort, „im ‚Weltdorf‘ Heidelberg“ (277) gehört er zu den fĂŒhrenden Akteuren dieses weltberĂŒhmten intellektuell-akademischen Milieus, kultiviert seine „Fachmenschenfreundschaft“ – so Graf – mit Max Weber und macht sich im Salon von Max und Marianne Weber einen Namen. UniversitĂ€r, in der Theologie und publizistisch gewinnt er Reputation als historisch argumentierender systematischer Theologe. Kritisch gegen die traditionelle Theologie entfaltete er seine These, dass Religion trotz aller Historisierung der Kultur ihre Bedeutung behĂ€lt, weil man trotz der starken Differenz von Religion und moderner Weltauffassung von der „Zusammenbestehbarkeit“ des Transzendenten und der SĂ€kularitĂ€t der Welt ausgehen mĂŒsse. In seinen werkgeschichtlichen und kontextualisierenden Analysen spiegelt sich Grafs sympathetische Lesart dieser Theologie, die er mit Troeltsch in die Formel vom „protestantisch-religiösen Individualismus der persönlichen Überzeugung“ ebenso bekrĂ€ftigt wie das Konstrukt der Theologie als normative, Transzendenz reflektierende Kulturwissenschaft. Nicht zufĂ€llig gehört Troeltsch 1910 zu den MitbegrĂŒndern der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Soziologie. 1915 wird er, auch dank höchster UnterstĂŒtzung, aber gegen das Votum der Theologie, an die Berliner UniversitĂ€t berufen, auf die eigens fĂŒr ihn geschaffene, in der Denomination so bezeichnende Professur fĂŒr „Religions-‚ Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte“ – aber in der Philosophischen, nicht in der Theologischen FakultĂ€t. Im Krieg noch zuerst auf der nationalistischen Seite, wird Troeltsch bald zu einem der frĂŒhen BefĂŒrworter einer gesellschaftlich-politischen Neuordnung Deutschlands. Er gehört nach 1918 zu den GrĂŒndern der Deutsche Demokratischen Partei (DDP), arbeitet kurzzeitig auch als UnterstaatssekretĂ€r im Preußischen Kultusministerium und stirbt 1923 – hochgeachtet, wie die Grabreden belegen.

Graf eröffnet seine Biographie mit der Totenfeier fĂŒr Troeltsch. Dabei fördert er mit den Grabreden, u.a. von Adolf von Harnack, nicht nur Indizien fĂŒr Ruhm und Bekanntheit von Troeltsch zutage, sondern demonstriert zugleich seine Kunst, die Quellen, hier die Grabreden, theologisch, systematisch und homiletisch so zum Sprechen zu bringen, wie das eine Grabrede verdient (und Graf ist dafĂŒr Experte) [2]. Die Einleitung stimmt zugleich auf den Tonfall der Darstellung ein, die Graf liefert, immer in der souverĂ€n gehandhabten Einheit von ErzĂ€hlung und Analyse, Theologie und Historiographie. Die Theologie Grafs liefert in Einleitung und Schluss den theoretischen Rahmen dieser Biographie, wo „Troeltschs Gott [als] ein Individualisierungsgarant“ (548) vorgestellt wird. Zugleich stellt der Historiker Graf diese Biographie und die Rolle der Religion seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den weiteren politischen und gesellschaftlichen Kontext einer sich radikal sĂ€kularisierenden Welt. Das geschieht immer höchst quellennah. Als (Mit-)Herausgeber von Troeltschs Werken mit ihm so intensiv vertraut wie niemand sonst, schildert und analysiert er souverĂ€n die Biographie wie das Werk von Troeltsch, den theologischen Kontext, in dem er arbeitete, die akademische Kultur, in der Troeltsch in Erlangen und Göttingen, Heidelberg und Berlin hoch geachtet und intellektuell prĂ€sent agierte, wie er mit Max Weber gemeinsam bei einer Reise zur Weltausstellung in St. Louis auch die Neue Welt erkundete, offen fĂŒr die Erfahrungen jenseits deutscher Enge, ein „Theologe im Welthorizont“, wie Grafs schönes Etikett lautet. Ebenso empathisch wie distanziert wird Troeltschs Weg vom gelehrten und höchst sichtbaren systematischen Theologen zum „wilhelminischen Mandarin“ und „zum Großstadtintellektuellen“ (184ff.) in Berlin aufgezeigt. Troeltsch agiert hier nah bei den historisch-politisch und gesellschaftlich bedeutsamen Akteuren, mit dem Kaiser angefangen, wird im akademischen Berlin berĂŒhmt, ist aber z.B. auch fĂŒr Rudolf Steiners Anthroposophie offen (in der Lesart Friedrich Rittelmeyers) und mit Walther Rathenau befreundet. Dessen Ermordung am 24. Juni 1922 empfindet er als einen tiefen Einschnitt in seinem Leben und fĂŒr seine PlĂ€ne, aber zugleich auch als BestĂ€tigung seiner kritischen Diagnosen ĂŒber den Zustand der Republik, die er in den seit 1919 und bis 1922 im reformerischen „Kunstwart“ zuerst unter dem Pseudonym „Spectator“, dann unter seinem Namen veröffentlichten „Briefen“ kontinuierlich publiziert hatte (462ff.). Troeltschs Biographie verdeutlicht deshalb auch den schwierigen, selbst fĂŒr ihn umweghaften, insgesamt von zu wenigen Zeitgenossen, auch von zu wenigen Akteure des protestantischen akademischen Deutschlands beschrittenen Weg zu Demokratie und Republik.

Bleiben WĂŒnsche offen? FĂŒr den Disziplinhistoriker der PĂ€dagogik ist die Darstellung der Neuordnung des Bildungswesens bis 1920, an der Troeltsch im preußischen Kultusministerium mitwirkte, ebenso zu knapp wie die der disziplinhistorisch fĂŒr die Erziehungswissenschaft zĂ€sursetzenden Konferenz von 1917, als der preußische Kultusminister Trott zu Solz das „Heimatrecht“ der PĂ€dagogik an UniversitĂ€ten einrĂ€umte und ihr, von Spranger unterstĂŒtzt, eine immanent politisch-ideologische Funktion fĂŒr die Zeit nach dem Krieg zusprach [3]. Troeltsch, Akteur hier wie da, hat 1917 neben dem (bei Graf nicht erwĂ€hnten) Frankfurter Ordinarius Julius Ziehen mit Thesen die Verhandlungen eröffnet und der PĂ€dagogik die Rolle zugewiesen, „die praktische Seite der philosophischen FakultĂ€t“ endlich zur Geltung zu bringen, auf der Reichschulkonferenz von 1920 agierte er auf der Seite der UniversitĂ€ten und eher konservativ. Hier schreibt Graf nicht nur sehr knapp, sondern auch ein wenig zu sehr auf Troeltsch und die protestantischen Probleme fixiert, im Ergebnis relativ kontextfern. Aber das ist eine Petitesse, schon weil Graf immer neu damit ĂŒberzeugt, dass er auch den Alltag einer Gelehrtenbiographie nicht ignoriert. Dies gilt nicht nur fĂŒr den Bier-Konsum, sondern z.B. auch bezĂŒglich der Folgen der Inflation in der frĂŒhen Phase der Republik fĂŒr einen akademischen Haushalt, der höchst anschaulich vergegenwĂ€rtigt wird, oder mit Blick auf die Rolle, die z.B. Honorare spielten, die Troeltsch fĂŒr Veröffentlichungen erhielt. Diese Dimensionen akademischer Kultur, neben den Theorien und Ideen meist verschwiegen, sind bei Graf ebenso Thema wie die immer reflektiert, kritisch und kontextbewusst analysierte Kommunikation im akademisch-intellektuellen und politisch-gesellschaftlichen Umfeld, in dem Troeltsch lebte und arbeitete, schrieb und kritisierte. Deshalb: Graf lesen, heißt nicht nur Troeltsch kennenlernen, sondern Distanz auch zur historischen Rolle der PĂ€dagogik gewinnen und die Bedeutung von Religion, Theologie und Kirche zu sehen, nicht allein systemisch, wie das hĂ€ufig diskutiert wird, sondern im Lichte einer Biographie, die Praxis, Reflexion und die gesellschaftliche Bedeutung der Religion zugleich thematisiert. Hier bildet Lesen wirklich.

[1] Seit 2023, also nach Erscheinen des hier besprochenen Buches, gibt es allerdings eine Gedenktafel, und zwar am ehemaligen Wohnhaus von Troeltsch am Theodor-Heuss-Platz in Charlottenburg/Westend.
[2] Als Beleg mag eine Grabrede reichen, die er selbst gehalten hat: Graf, F.-W. (2014): Leichenpredigt fĂŒr Hans-Ulrich Wehler. Zeitschrift fĂŒr Ideengeschichte 8, S.113-118.
[3] FĂŒr diesen Kontext vgl. Tenorth, H.-E. (2002): PĂ€dagogik fĂŒr Krieg und Frieden. Eduard Spranger und die Erziehungswissenschaft an der Berliner UniversitĂ€t, 1913-1933. In: Horn, K.-P./Kemnitz, H. (Hrsg.): PĂ€dagogik Unter den Linden. Von der GrĂŒndung der Berliner UniversitĂ€t im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart, S. 191-226.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Graf, Friedrich Wilhelm: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont. Eine Biographie. MĂŒnchen: C.H. Beck 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/9783406790140.html