EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Florian von Rosenberg
Die beschädigte Kindheit
Das Krippensystem der DDR und seine Folgen
MĂĽnchen: C.H. Beck 2022
(288 S.; ISBN 978-3-406-79199-4; 18,00 EUR)
Die beschädigte Kindheit Ab 1949 wurde in der DDR das kleinbürgerliche Familienideal, welches hauptsächlich den Müttern die Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern zuschrieb, radikal in Frage gestellt. Kinder wurden konsequent aus ihren Familien genommen und in staatlichen Einrichtungen betreut und erzogen. Florian von Rosenberg setzt sich in seinem erinnerungspolitischen Werk „Die beschädigte Kindheit – Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ mit dem umfangreichen Ausbau der Tages- und Wochenbetreuung und den „negativen Konsequenzen“ (10) dieser sozialistischen Familienpolitik auseinander. Die vorliegende Monografie gründet auf der Auswertung von „Akten des zuständigen Ministeriums für Gesundheitswesen“ sowie auf den „medizinischen, psychologischen und pädagogischen Fachveröffentlichungen der DDR-Krippenforschung“ (11). Diese Veröffentlichungen wiesen, im Gegensatz zur DDR-Propaganda, auf Schwierigkeiten und Mängel im Krippensystem hin. Mit der Auswertung dieser Dokumente gewährt von Rosenberg den Leser:innen entlang exemplarisch ausgewählter Themen und Fälle Einblick in ein trauriges und düsteres Kapitel der DDR-Geschichte.

Im ersten Kapitel verdeutlicht von Rosenberg anhand von Dokumenten über den acht Monate alten Peter, dessen Gesundheitszustand sich nach seiner Aufnahme in die Krippe verschlechterte, die Betreuungssituation in den Krippen. Er zeigt auf, wie die Beschwerden der Eltern, die Kritik der Kinderärzt:innen sowie die warnenden Studienergebnisse von Wissenschaftler:innen in den 1950er Jahren gegenüber einem Ausbau der Krippen ignoriert oder in den öffentlichen Diskussionen verharmlost wurden.

Im zweiten Kapitel rückt die sozialistische Familienpolitik der DDR in den Blick, die das Ziel verfolgte, Frauen zu ermutigen, berufstätig zu sein und Kinder frühzeitig in staatliche Einrichtungen zu geben. Von Rosenberg setzt den Schwerpunkt darauf zu verdeutlichen, dass dieses Konzept, ähnlich wie in der Weimarer Republik und der Sowjetunion, auf ideologischen Vorstellungen von der Befreiung der Frau durch Arbeit und der Überwindung traditioneller Familienstrukturen basierte. Und auch hier wurden nachdrücklich geäußerte Bedenken ignoriert.

Das dritte Kapitel widmet sich zunächst dem Fall des Jungen Martin, der in einem Säuglingsdauerheim in Leipzig untergebracht war. An diesem Beispiel und an vergleichenden Studienergebnissen von Berliner Forscher:innen ab Ende der 1950er Jahre erläutert und illustriert von Rosenberg tabellarisch, dass „Krippenkinder“ im Vergleich zu „Familienkindern“ (42) oft mit Gewichtsverlust, Krankheiten und psychischen Problemen auf die Trennung reagierten. Als Grund wurden sogenannte „Anpassungsstörungen“ (37), erhöhte Infektionsrisiken in der Gruppenbetreuung, unzureichende hygienische Bedingungen und die Überbelegung der Krippen genannt. Wie von Rosenberg verdeutlicht, führten diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Kinder zu Konflikten zwischen Familien und Krippen.

Das vierte Kapitel blickt zunächst auf die Propaganda der DDR, in der die Krippen als fortschrittliche Einrichtungen dargestellt wurden. Dabei nutzte die DDR die Popularität von einzelnen Personen, wie beispielsweise Jussuf Ibrahim, einem Kinderarzt, um den Ausbau von Kinderkrippen voranzutreiben, ohne dabei seine Involviertheit bei den Euthanasie-Programmen im Nationalsozialismus zu erwähnen. Dass die Arbeitskraft der Mütter höher bewertet wurde als der Schutz der Kinder hatte, wie von Rosenberg zeigt, tragische Konsequenzen. Kinder waren nicht nur von schweren Krankheiten betroffen, wie „toxische Dyspepsien“ (67), die bis Mitte der 1960er Jahre auch eine der häufigsten Todesursachen für Säuglinge waren, sondern auch von Ruhigstellungen durch das Festschnallen mit „Lederriemen“ (75) und die Verabreichung von „Propaphenin“ (83), einem Beruhigungsmittel.

Das fünfte Kapitel betrachtet divergierende Diskussionen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre über die Krippenbetreuung und die Frage der Berufstätigkeit von Müttern. Während sich die Gegner für das Hausfrauendasein aussprachen oder darauf verwiesen, dass die Krippen kapitalistisch seien und den Kindern schaden würden, argumentierten die Befürworter, dass berufstätige Mütter ein Vorbild für die Kinder seien und die staatliche Betreuung die Entwicklung der Kinder fördern müsse. Die kritischen Stimmen, auch die der Mütter, liefen, wie der Autor exemplarisch aufzeigt, ins Leere oder wurden gar als oppositionell gewertet.
Kapitel sechs beschäftigt sich mit Forschungsergebnissen zu „Entwicklungsrückstände(n)“ (99), wie sie die Vergleichsstudien von Eva Schmidt-Kolmer im Jahr 1963 bestätigte. Die Ergebnisse zeigten, dass Kinder, die längere Zeit in der Krippe verbrachten, schlechter in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung abschnitten. Mit dem in der Zeit gängigen Begriff „Hospitalismus“ (116) verwies man auf die traumatischen Auswirkungen der institutionalisierten Kindheit. Verschärft wurde diese Problematik, wie der Autor festhält, durch schlechte Arbeitsbedingungen und hohe Personalfluktuation in den Säuglingsdauerheimen.

Im siebten Kapitel, mit dem Titel „Politik und Pädagogik“, verdeutlicht der Autor die politischen Repressionen in den 1960er Jahren gegen Krippenforscher:innen und kritische Kinderärzt:innen. Veränderungen, wie die im Nachbarland Tschechoslowakei, wurden missbilligend beäugt. In der DDR hielt dagegen zu dieser Zeit Pawlows Forschung zur Konditionierung Einzug in die Krippenerziehung. Kinder wurden als „Reiz-Reaktions-Maschinen“ (146) verstanden und sollten im Rahmen pädagogischer Programme konditioniert werden.

In Kapitel acht werden die Maßnahmen und die Konsequenzen der Kapazitätssteigerung ab den 1970er Jahren in den Blick genommen. Die gestiegene Zahl der Krippenkinder führte zu Überbelegung in den Krippeneinrichtungen und zu noch mehr ungünstigen Bedingungen sowohl für das Personal als auch für die Kinder. Diagnostiziert wurden vermehrt chronische Krankheiten, auf die mit Abhärtungsmaßnahmen wie kalten Waschungen reagiert wurde, aber auch sprachliche und kognitive Entwicklungsdefizite.

Das neunte Kapitel behandelt die Konsequenzen von „Unterbesetzung“ (169) und der fehlenden „Zuwendung“ (172) durch qualifizierte Fachkräfte. Die negativen Auswirkungen des schlechten Personalschlüssels, die bereits in Forschungsarbeiten der 1950er und 1960er Jahre beschrieben wurden, wurden auch in den 1970er Jahren bestätigt. Tragische Konsequenzen hatten die schlechten Bedingungen in den Regelbetrieben vor allem für Kinder mit Behinderungen, sogenannte „Problemkinder“ (182). Erst ab 1975 wurde die Gründung von „Sonderkrippen und Sondergruppen in Krippen“ (187) politisch forciert, um auf die speziellen Bedürfnisse dieser Kinder eingehen zu können.

Dass die SED ab den 1970er Jahren damit begann, verschiedene Maßnahmen wie das Babyjahr für das zweitgeborene Kind (ab 1976) oder eine bezahlte Freistellung bis zum ersten Geburtstag (ab 1986) einzuführen, wird im zehnten Kapitel lediglich kurz angerissen. Von Rosenberg konzentriert sich hier vor allem auf die Problematik der fehlenden langsamen Eingewöhnung in Anwesenheit der Mütter, die erst ab 1986 eingeführt wurde.

Wie von Rosenberg im letzten Kapitel aufzeigt, rückten mit der Verbesserung der hygienischen Bedingungen in den 1980er Jahren nun verstärkt öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Fragen zu „Bindungen, Emotionen und Gefühlen der Kinder“ (203) in den Fokus der Diskussionen, die, so eine Forderung, ebenfalls Einzug in die Krippen halten sollten. Von Rosenberg blickt dann erneut in die defizitären 1950er und 1960er Jahre und stellt Verbindungen zu Erziehungsidealen vor 1945 her, deren Überwindung, so von Rosenberg, in den 1980er Jahren greifbar erscheinen.

Insgesamt hat Florian von Rosenberg eine 288 Seiten lange und mit 26 Abbildungen versehene Monografie vorgelegt, die einen Beitrag zur Aufarbeitung einer dunklen Seite der DDR-Geschichte leistet. Es ist ein schwerwiegendes Thema, das nicht verharmlost dargestellt wird und Einblick in ausgewählte Teile des Alltagsgeschehen der Krippen bietet. Der Verfasser regt mit seiner Monografie dazu an, weiteren von ihm lediglich angeschnitten Forschungsfragen nachzugehen. Beispielweise wäre interessant zu fragen, wie die politische und berufsbiografische Sozialisation der Krippenfachkräfte unter den schwierigen Bedingungen wie Personalmangel oder der politischen Kontrolle verlief. Gab es oppositionelle Bemühungen unter den Fachkräften?

Welche sozialisatorischen Folgen hatte die Trennung der Kinder von den Familien für betroffene Mütter? Für die Leser:innen wäre zudem interessant gewesen, wenn von Rosenberg seine erkenntnispolitische Analyse in den aktuellen Forschungsdiskurs zur DDR-(Krippen-)Geschichte [1], die insbesondere in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, verortet hätte. Was bislang fehlte – und das leistet von Rosenberg –, ist eine Offenlegung der massiven Missstände in der institutionellen Fremdbetreuung von Säuglingen und Kindern. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass tiefergehende sozialgeschichtliche Analysen der Krippensozialisation und Krippenerziehung unter Berücksichtigung kulturgeschichtlicher Perspektiven allemal lohnend sind. Von Rosenberg bietet eine interessante Lektüre für alle Leser:innen, die sich mit der DDR-Frühpädagogik auseinandersetzen möchten.

[1] exemplarisch:
Baberowski, J., Kindler, R., & Donth, S. (2021). Disziplinieren und Strafen. Dimensionen politischer Repression in der DDR. Campus.
Zintler, U. (2021). Politische Sozialisation im Kindergarten der DDR. Wie Kinder zur Heimatliebe erzogen werden sollten. Peter Lang.
Morvarid Dehnavi (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Morvarid Dehnavi: Rezension von: Rosenberg, Florian von: Die beschädigte Kindheit, Das Krippensystem der DDR und seine Folgen. MĂĽnchen: C.H. Beck 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340679199.html