EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Martina Hehn-Oldiges
Wege aus Verhaltensfallen
Pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen
Weinheim: Beltz 2021
(202 S.; ISBN 978-3-407-63202-9; 25,60 EUR)
Wege aus Verhaltensfallen Bei all den Fragen, wie mit den sichtbaren Folgen der Corona-Pandemie an Kitas und Schulen umzugehen ist, kommen Bücher, die sich ausdrücklich mit der Beziehungsebene zwischen den Pädagog:innen und den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen befassen, genau zur rechten Zeit. Denn es war ja gerade der häufige Verlust von sozialen Beziehungen, der es Schüler:innen bis heute schwermacht, sich wieder in den normalen Schulbetrieb einzufinden. Neben den oft erwähnten Lernrückständen geht es dabei nicht nur um das Fehlen von Lernmotivation, sondern auch um das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen bis hin zu psychischen Auffälligkeiten wie andauernde Müdigkeit, depressive Verstimmungen oder Angststörungen. Dass dadurch für Lehrer:innen zusätzliche Belastungen entstanden sind, liegt auf der Hand und ist gut dokumentiert.

Das Buch ,Wege aus Verhaltensfallen. Pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen‘ von Martina Hehn-Oldiges soll dabei helfen, solche Belastungen zu mindern. Gezielt geht die Autorin auf Situationen ein, in denen Schüler:innen ihre Lehrer:innen und deren pädagogisches Geschick besonders herausfordern. Als Förderschullehrerin, Schulleiterin und Fortbildnerin blickt sie dabei auf eine jahrzehntelange Praxis zurück, was sich in den vielen der von ihr angeführten anschaulichen Beispielen bemerkbar macht. Ausgangspunkt ihres Buches ist eine ethisch begründete Pädagogik, wie sie die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel in einer Art Manifest, den „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ [1] vorgestellt hat. Kernpunkte sind, Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe zu begegnen, sie nicht übergriffig, respektlos oder demütigend zu behandeln, ihre Leistungen zu würdigen, sie nicht zu entmutigen oder auszugrenzen.

Damit ist der Rahmen abgesteckt, den auch die Autorin selbst für den Umgang mit schwierigen Situationen in Kita, Unterricht und Schule wählt. Der Begriff der „Verhaltensfalle“ ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Auf den ersten Blick fragt man sich, wer hier wen in eine „Verhaltensfalle“ lockt: Schüler:innen mit ihrem herausfordernden Verhalten die Lehrer:innen oder umgekehrt, diese sich selbst, wenn sie nicht angemessen auf das Verhalten der einzelnen Schüler:innen reagieren. Beides scheint der Fall zu sein, wobei die Definition der Autorin den Fokus auf die Reaktion der an der Situation beteiligten Pädagog:innen richtet: „Mit diesem Begriff (der Verhaltensfalle, A. d. A.) werden Denkmuster und Einstellungen umschrieben, die in Situationen hoher emotionaler Belastung professionelle Zugänge für Problemlösungen überlagern und erschweren können. Es kann zu Fehldeutungen und emotional geprägten Aktionen und Reaktionen unsererseits (gemeint sind die Pädagog:innen, A. d. A.) kommen, wenn unser Handeln und ergriffene Maßnahmen nicht zu positiven Entwicklungen führen und vermehrt Gefühle wie Resignation oder Ratlosigkeit sowie Ärger oder Abwehr in der Erwartung schwieriger Ergebnisse entstehen.“ (17) Mit anderen Worten liegt die Verantwortung, in solchen Situationen zu bestehen und angemessene Lösungen zu finden, immer bei den Pädagog:innen und kann nicht an die Kinder und Jugendlichen delegiert werden.

Ein bekanntes Muster, um in solche Verhaltensfallen zu geraten, kann zum Beispiel darin bestehen, dass Lehrer:innen die Schuld und die Verantwortung für das jeweils „herausfordernde Verhalten“ (18) eines Kindes einseitig bei ihm suchen und sich auf diese Weise selbst aus dem Spiel nehmen, so als sei man gänzlich unbeteiligt an dem, was sich in der Beziehung mit dem jeweiligen Kind oder Jugendlichen gerade abspielt. Um solche und andere „Fallen“ zu vermeiden, rät die Autorin zu folgendem Dreischritt (37ff.): Zunächst gilt es, die „Verhaltensfalle“, also die jeweils gegebene Situation, aus einer gewissen Distanz heraus genau zu beschreiben, um zu verhindern, einseitig emotional auf ein unerwünschtes Verhalten zu reagieren. Verbote, herabwürdigende Einlassungen helfen, wie viele Studien es zeigen, in den meisten Fällen nur kurzfristig und verstärken eher das nur scheinbar gegen den Lehrer oder die Lehrerin gerichtete Verhalten [2, 3, 4]. Insofern sollte als nächster Schritt das herausfordernde Verhalten dahingehend analysiert werden, warum sich der Schüler oder die Schülerin zum Beispiel abfällig über einen Lehrer oder eine Lehrerin äußert, seinen bzw. ihren Aufforderungen widerspricht, Regeln und Gebote nicht befolgt, Mitschüler:innen beim Lernen stört und vieles andere mehr. Es geht also darum, die Gründe herauszufinden, die den betreffenden Schüler oder die betreffende Schülerin zu solchem Verhalten motiviert haben. Es gilt, das herausfordernde Handeln nicht als Bedrohung für einen selbst zu sehen, sondern, wie die Autorin betont, den „subjektiven Sinn“ (72) zu entschlüsseln, der sich hinter derlei Provokationen verbergen könnte. Dies geschieht am besten zusammen mit anderen Kolleg:innen, die ihre jeweilige Sicht einbringen und einander unterstützen, mit entsprechenden Konflikten klarzukommen. Als dritter Schritt folgt dann die Suche nach alternativen Wegen. Wie könnte sich das gezeigte Verhalten ändern lassen, wenn, wie es für die Autorin selbstverständlich ist, auf Druck, Strafe, Missbilligung, Entwürdigung oder einen zynischen Umgang mit den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen verzichtet wird. Letzteres gelingt wohl am besten im Rahmen von multiprofessionellen Teams, deren Teilnehmer:innen ihr unterschiedliches Fachwissen dort einbringen. Allerdings bestehen solche regelmäßig tagenden Gruppen, wie der Rezensent bei seiner Beratungstätigkeit an Kitas und Schulen selbst immer wieder zur Kenntnis nehmen muss, nur an einer recht überschaubaren Anzahl von Schulen.

Was in dieser kurzen Zusammenfassung nur im Ansatz beschrieben werden kann, breitet die Autorin in ihrem Buch vor dem Hintergrund eines akribischen Rückgriffs auf ungezählte Studien, Entwicklungsmodelle, persönliche Beobachtungen und für ganz unterschiedliche Situationen aus. Damit verschafft sie ihrem Ansatz eine breite und empirisch gut begründete Grundlage. Ferner erläutert sie detailliert den Hintergrund und die Sinnhaftigkeit herausfordernden Verhaltens. Und ebenso reflektiert sie, welche Dispositionen bei den beteiligten Pädagog:innen selbst dazu führen, in entsprechende Verhaltensfallen hineinzugeraten. In Schaubildern wird die ganze Fülle der sich gegenseitig bedingenden Einflussgrößen, die aufseiten der Lehrer:innen oder auch Erzieher:innen zu solchen „Verhaltensfallen“ führen, aber auch wieder herausführen können, immer wieder dargestellt.

In dieser breitgefächerten Grundlage liegt sowohl die Stärke als auch die Schwäche dieses Buches. Einerseits findet sich hier, auch über anschauliche Beispiele vermittelt, eine hilfreiche Grundlage, wie eine ethisch gut vertretbare Beziehungs-Pädagogik in Situationen, denen Lehrkräfte häufig machtlos und auch ängstlich gegenüberstehen, gelingen kann. Gleichzeitig aber führt die Dichte des Textes dazu, sich beim Lesen streckenweise in der Wissens- und Informationsflut von Theorien, Entwicklungsmodellen und empirischen Untersuchungen zu verlieren.

Äußerst nützlich sind wiederum die in den Anhängen vorgestellten auch als online-Materialien verfügbaren Arbeitsblätter, die die einzelnen Schritte hin zu einer guten Problemlösung noch einmal zusammenfassen und auch zur Selbstreflexion des eigenen Verhaltens anregen. Als Grundlage für pädagogische Teams oder die kollegiale Fallberatung helfen sie dabei herauszufinden, welche pädagogischen Interventionen aus der Konfrontation mit herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen am besten herausführen können.

[1] Prengel, A., Heinzel, F., Reitz, S. & Winklhofer, U. (2021). Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen. Rochow Edition.
[2] Dreikurs, R., Grunwald, B. B., & Pepper, F. C. (2007). Lehrer und Schüler lösen Disziplinprobleme (H. J. Tymister, Hrsg.). Julius Beltz.
[3] Prengel, A. (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Verlag Barbara Budrich.
[4] Tillack, C., Fischer, N., Raufelder, D., & Fetzer, J. (Hrsg.). (2014). Beziehungen in Schule und Unterricht. Teil 1: Theoretische Grundlagen und praktische Gestaltungen pädagogischer Beziehungen. Verlag Barbara Budrich.
Claus Koch (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claus Koch: Rezension von: Hehn-Oldiges, Martina: Wege aus Verhaltensfallen, Pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen. Weinheim: Beltz 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340763202.html