
Die Familie Colsmann war bereits – mit einer anderen zeitlichen sowie einer inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf der Unternehmensgeschichte – Gegenstand einer 2004 erschienenen Studie der Autorin. [1] Im vorliegenden Band werden vier Ehepaare dieser weitverzweigten, wohlhabenden, international agierenden Seidenfabrikantenfamilie, die kurz vor der Gründung und während des Kaiserreichs heirateten, in detailliert gezeichneten Fallstudien untersucht. Als Quellenmaterial greift die Autorin u.a. auf umfangreiche Korrespondenzen der Familienmitglieder zurück. Das reichhaltige Quellenkorpus lässt sich zurückführen auf die häufige beruflich bedingte Abwesenheit der Familienväter, die außerhäusliche (Aus-)Bildung der Söhne und Töchter sowie auf Urlaubsreisen, Besuche bei Verwandten und Kuraufenthalte, die auch den Ehefrauen als regelmäßige „‚Auszeiten‘ von Familie und Kindern“ zustanden (75).
Briefe scheinen für die Autorin gegenüber Autobiografien einen höheren Authentizitätsgrad zu besitzen, da sie wiederholt gegenüber Autobiografien als aussagekräftigere Quellen in Stellung gebracht werden. Im Vergleich mit Briefen sei der Wert von Autobiografien gemindert, weil „deren retrospektive Darstellungen nicht von den späteren Selbstpositionierungen und Weltdeutungen der Schreiberinnen und Schreiber getrennt werden können“ (2, vgl. auch 42, 57, 150). Obwohl die Autorin sich in der Einleitung zu einem Konzept von Historischer Sozialisationsforschung bekennt, das Sozial- und Kulturgeschichte miteinander verbindet (6ff.), scheinen hier methodische Vorbehalte aus der Bielefelder Sozialgeschichte gegen die Quellengattung Autobiografien reproduziert zu werden. Dabei müssen sowohl Autobiografien wie Briefe sorgfältig „gegen den Strich“ gelesen werden, um nicht zeitgenössische Selbstpräsentationen als Ausdruck für gelebte Realitäten zu halten. Als ein wichtiges Ergebnis des Kapitels über frühkindliche Sozialisation in der Familie ist bspw. festzuhalten, dass sich die Ehepaare regelmäßig über ihre Kinder, deren körperliche und kognitive Entwicklung austauschten und dass in allen Familien ein enger körperlicher Kontakt mit den Kindern gepflegt wurde.
Die Söhne der Familie gingen Verbindungen mit Unternehmertöchtern aus der Region ein, während die Töchter ihre Heiratskandidaten im (inter-)nationalen Wirtschaftsbürgertum oder im Bildungsbürgertum fanden. Für die jungen Männer, deren Motive im vorhandenen Quellenkorpus deutlich besser dokumentiert sind als die ihrer Schwestern, scheint es sich ausschließlich um Neigungs- und nicht um arrangierte Ehen gehandelt zu haben. Dass die Beziehungen der Ehepaare nicht nahtlos mit dem Konzept von der „Polarisation der Geschlechtscharaktere“ übereinstimmten, bestätigt den Befund einer erheblichen Diskrepanz zwischen bürgerlicher Geschlechtertheorie und deren praktischer Umsetzung, die schon Anne-Charlott Trepp [2] und Rebekka Habermas [3] in ihren familiengeschichtlichen Studien über das Hamburger bzw. Nürnberger Bürgertum herausgearbeitet haben. Eine Orientierung am hegemonialen Männlichkeitsideal, das eine offene Artikulation intimer Gefühle nicht zuließ, lässt sich der Autorin zufolge nur bei einem 1861 geborenen Mann der Familie feststellen, aber auch damit seien nicht automatisch hierarchisch strukturierte Ehebeziehungen verbunden gewesen.
Allerdings findet sich in der Korrespondenz dieses Paares eine zunehmende Betonung getrennter Geschlechtersphären. Die These der Autorin von der „Gleichrangigkeit“ der Ehepartner (137), die durch die „milieugleiche Herkunft der Ehefrauen gefördert“ worden sei, mag nicht so recht überzeugen, selbst wenn „deren Bedeutung als sozio-ökonomisches Netzwerk für die unternehmerisch tätigen Ehemänner sehr hoch war“ (137). Dagegen spricht nicht nur die Rechtsstellung verheirateter Frauen unter die Vormundschaft des Ehemannes, sondern auch die ungleiche Verteilung von (Aus-)Bildungschancen für Jungen und Mädchen. Die Notwendigkeit einer qualifizierten Schul- und Berufsausbildung – vergleichbar mit der ihrer Brüder – ergab sich für die Töchter der Familie im 19. Jahrhundert nicht. Der Besuch der wohnortnahen Elementarschule erfolgte noch gemeinsam mit den Brüdern, aber der weitere schulische Weg erfolgte geschlechtergetrennt. Die Mädchen besuchten Pensionate oder nahmen Haustochterstellen ein. Die Pensionate werden von der Autorin als Entstehungsorte internationaler Frauennetzwerke gewürdigt (320, 368), aber den zitierten Briefstellen ist leider nicht zu entnehmen, ob die entstandenen Freundschaftsbeziehungen über das Pensionat hinaus Bestand hatten. Für einige Töchter der Familie eröffneten sich erst um die Jahrhundertwende Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten im Kunstgewerbe, in der Krankenpflege, als Sekretärin oder Fotografin (364). Der in Preußen ab 1908 mögliche reguläre Zugang zu Abitur und Studium wurde im Gegensatz zu Mädchen bildungsbürgerlicher Herkunft nicht genutzt, weil Heirat und Familiengründung nicht zur Disposition standen.
Was die höhere Schulbildung von Jungen anbelangt, so ging die bildungshistorische Forschung bislang davon aus, dass diese wohnortnah erfolgte. Mit diesem – durch den bisherigen Fokus auf großstädtische Milieus entstandenen – Narrativ räumt die vorliegende Studie gehörig auf. Da im kleinstädtischen Langenberg vor 1911 keine höhere Knabenschule mit der auch für Handel und Industrie bedeutsamer werdenden Berechtigung für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst existierte, verließen die Jungen spätestens mit 15 Jahren das Elternhaus und besuchten staatliche höhere Schulen mit angeschlossenen Internaten oder Schülerpensionen, die als Ersatzfamilien fungierten. Die berufliche Ausbildung erfolgte im Ausland, in England, der Schweiz, in den USA. In den während des Militärdienstes – abgeleistet in Form des Einjährig-Freiwilligen-Dienstes in exklusiven Garde-Kavallerie-Regimentern – entstandenen Korrespondenzen finden sich keine Hinweise, die die These von der zunehmenden Militarisierung des deutschen Bürgertums stützen. Den Briefen zufolge stellte der Dienst keine hohen Ansprüche an die jungen Männer. Deutlich mehr Bedeutung wurde der „Teilhabe an der Hauptstadtkultur und -gesellschaft“ beigemessen (404), die u.a. der Anbahnung oder Intensivierung geschäftlicher Beziehungen diente. Auch die vielfach beschworene Kriegsbegeisterung der bürgerlichen Jugend zu Beginn des Ersten Weltkriegs vermochte sich bei den Familienmitgliedern angesichts ihrer transnational verflochtenen Geschäftsbeziehungen nicht einzustellen.
Ein nach wie vor wenig beleuchtetes Kapitel bildungshistorischer Forschung stellt der Umgang der bürgerlichen Jugend mit Sexualität dar. In Anlehnung an Goffmann spricht die Autorin von der „Vorderbühne“, auf der sich das gesellschaftliche Leben abspielte, über das die jungen Männer ausführlich nach Hause berichteten, und von der „Hinterbühne“, den Verlockungen des Berliner Nachtlebens (419), über die sich die Söhne in Briefen an die Eltern wohlweislich ausschwiegen. Dagegen appellierten insbesondere die Väter mehrfach an die Vernunft der Söhne und warnten vor übermäßigem Alkoholgenuss und – verschlüsselt in den Codes des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – vor den unerwünschten Folgen sexueller Aktivität: Geschlechtskrankheiten und uneheliche Kinder (420). Dass auch bürgerliche Mädchen kleinen Flirts „zur Erprobung der eigenen Attraktivität“ nicht abgeneigt waren (304), geht aus Briefen eines 1836 geborenen Mädchens an eine Freundin hervor. Welche vorehelichen Erfahrungen Heranwachsende im Umgang mit Sexualität tatsächlich machen konnten, versucht die Studie über den Umweg einer „Rekonstruktion möglicher Erfahrungsräume“ zu beantworten (437).
Carola Groppes Studie wartet mit vielen neuen Erkenntnissen über das Aufwachsen von Jungen und Mädchen in einer wirtschaftsbürgerlichen Familie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf. Das gilt insbesondere für die Befunde zur frühkindlichen Sozialisation, über Erziehungspraktiken im Umgang mit kleinen Kindern. Ob den Ergebnissen über die Familie Colsmann hinaus Aussagekraft für größere Teile des deutschen Wirtschaftsbürgertums zukommt, wird Aufgabe weiterer Studien sein.
[1] Groppe, Carola: Der Geist des Unternehmertums – eine Bildungs- und Sozialgeschichte. Die Seidenfabrikantenfamilie Colsmann (1649 – 1840). Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004.
[2] Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.
[3] Habermas, Rebekka: Männer und Frauen des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.