EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Georg Eckert / Carola Groppe / Ulrike Höroldt (Hrsg.)
Preußische Staatsmänner
Herkunft, Erziehung und Ausbildung, Karrieren, Dienstalltag und Weltbilder zwischen 1740 und 1806
Berlin: Dunker & Humblot 2023
(276 S.; ISBN 978-3-428-18869-7; 89,90 EUR)
Preußische Staatsmänner „Staatsmänner“, das klingt angesichts der aktuellen Konjunkturen der Geschichtswissenschaft und auch der historischen Bildungsforschung eher wie ein unzeitgemäßes, wenn nicht wie ein altertümliches Thema, als kämen wieder die Haupt- und Staatsaktionen und ihre Akteure auf die Tagesordnung. Aber der Sammelband, aus einer interdisziplinären Tagung entstanden, zu der sich Historiker:innen und Bildungshistoriker:innen 2021 in Potsdam getroffen haben, auch unterstützt vom Freiburger SFB „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ (womit auch die SFB-übliche triadische Formel nicht fehlte), wirft zwar einen Blick auf den Staat, wählt aber eine Akteursgruppe, die erst im ausgehenden 18. Jahrhundert begriffsgeschichtlich auftritt und die auch so noch nicht untersucht wurde, wie es hier in zehn immer sehr materialreichen, immer breit in der Forschung verankerten (und in ausführlichen Fußnoten nachgewiesenen) Beiträgen mit großem Erkenntnisgewinn dokumentiert wird. Dabei werden den Leser:innen, gut begründet, serielle Daten und Tabellen erspart, aber es gibt eine luzide Einleitung der Herausgeber:innen, die den Stand der Forschung und den Kontext zeigt und die Lust am Thema weckt.

Den Analyseperspektiven entsprechend sind die zehn Beiträge in vier Abteilungen gegliedert: „Bildungswelten“, „Denkwelten“, „Handlungswelten“ und „Karrierewelten“. Zum Thema werden hoch bekannte Persönlichkeiten, aber nicht die Regenten selbst, sondern die leitenden Staatsdiener. Für die „Bildungsreformer“ stehen bei J. Flöter, dem Spezialisten für sächsische Fürstenschulen, die den Bildungshistoriker:innen vertrauten Berliner „Schulmänner“ – zeitgenössisch ja auch so benannt – J.H.L. Meierotto und F. Gedike im Vergleich mit dem Sachsen J.H. Ernesti. Flöter analysiert „sozialisationshistorisch“, so wie auch viele andere Autor:innen argumentieren.

An B.G. Niebuhr und G.H.L. Nicolovius wird die für beide anfänglich zentrale Rolle Schleswig-Holsteins behandelt, bevor andere Erfahrungsräume wichtig und universitär oder politisch zu Akteuren der preußischen Reformen wurden (J. Kurig). Die „Denkwelten“ werden von T.F. Meiner mit der interessanten Frage nach dem „politisch-ökonomischen Wissen preußischer Beamter“ eröffnet, die nicht zentriert auf eine Person, sondern für ein Thema beantwortet wird, nämlich die „Judengesetzgebung“ von 1787-1806. Die Rolle des Referenzwissens für die leitenden Akteure wird zwischen der Hallenser Kameralistik, die am Ende doch dominierte, und der Klassik der Ökonomie entschieden, schon im Titel des Beitrags in Anspielung auf die „unsichtbare Hand“ und Adam Smith präsent. Dann folgt die schöne Frage, „Wie kommt die Aufklärung in die Regierung“, und zwar am Beispiel von K.A. v. Zedlitz und dem Finanzmister C.A. v. Struensee (C. Groppe), die ja hinreichend deutlich auch die Konflikte erlebt haben, die ein der Aufklärung verpflichteter und in der „Berlinischen Monatsschrift“ publizierender Staatsmann erleben konnte. Wilhelm von Humboldt wird, paradox, wie es sich gehört, als „Staatsmann wider Willen“ gewürdigt, der sich aber als Preuße und Plato-Leser zugleich nicht wehrt, als „Diener des Staates“ (144) seine Pflicht zu erfüllen (J. Overhoff). „Männlichkeitskonstrukte“, also doch moderne Perspektiven, werden vor allem an den Tagebüchern des jungen Ludwig von Vincke, dem späteren beamteten Bildungs- und Sozialreformer in Westfalen, studiert, und sie zeigen die Bedeutung der nur scheinbar allein privaten Geschichte von Emotionen für die Aufklärung öffentlicher Praxis und die Selbstkonstruktion als „neuer Mann“ (A. Albert).

„Handlungswelten“ werden dann doch im Kontext großer Politik aufgesucht, an den Reichstagsgesandten Friedrichs II. und dem schweren Stand, den sie in den Regensburger Verhandlungen während des Siebenjährigen Kriegs als Preußen hatten und den sie mit ihrer „Professionalisierung“ – so die nicht unproblematische Zuschreibung des Autors – als Verhandler bearbeiteten (M. Rohrschneider). Die Ausbildung der Staatsmänner und das dafür relevante Wissen wird von J.J. Moser und J.S. Pütter aus analysiert, den früh prominenten, viel gelesenen, schon deutsch publizierenden und – bis in die USA – folgenreichen Staatsrechtlern und -wissenschaftlern (W. Burgdorf).

Der Blick auf die „Karrierewelten“, wie sie sich für preußische „Amtsträger“ „zwischen Rittergut und Kanzlei“ (F. Göse) bzw. für die „Fürstendiener“ zwischen „Hof und Bürokratie“ (Th. Stamm-Kuhlmann) darstellen, bilden den Schluss dieser bildungshistorisch und sozialisationstheoretisch höchst lehrreichen Abhandlungen. Sie dokumentieren die Entfaltung und Modernisierung der Administration und die historische Konstruktion staatlich gesuchter Expertise bereits für die Endphase des alten Reiches und noch vor dem Übergang in eine von oben gesteuerte Reform nach 1806. Ein Personenregister erlaubt es überdies, auch die Verbindungen zu sehen, die in der Geschichte diverser Wissenschaften bestehen, und zu Akteuren, die als Theologen oder Philosophen, wie Schleiermacher oder Kant, diesen Prozess reflexiv oder handelnd mit begleitet haben.

Es entspricht der Distanz gegenüber kollektivbiographischen Analysen und dem eher exemplarischen Zugriff auf die „Staatsmänner“, dass die Autor:innen vor allem daran arbeiten, die Vielfalt der Wege ins Amt oder die Konstruktion ihrer eigenen Ansichten und Wertvorstellungen zwischen Aufklärung und Pietismus, preußischen Traditionen und Herkunftsmilieus darzustellen. Man sieht z.B., dass es noch kein Juristenprivileg für die Staatstätigkeit gibt, aber immer akademische Qualifikationen offenbar notwendig sind, dass aber auch, wie bei Gedike, klassische Philologie die notwendige Erfahrungsbasis, Urteilskraft und Handlungsstrategien liefern kann. Regionale Differenzen und Verflechtungen werden ebenfalls sichtbar, z.B. die Offenheit der Karrieren über die Staaten hinweg, die Tatsache, dass Schulen, nicht nur Schulpforta, auch die Fürstenschulen z.B. in Brandenburg oder Reform-Universitäten in Halle oder Göttingen, schon bereitstehen, an denen die später notwendigen und politisch nachgefragten Qualifikationen erworben werden können. Wenn schließlich der Bedarf landesintern nicht gedeckt werden kann, wie das offenbar für Preußen doch relativ gut geht, dann werden die Qualifikationen eben importiert, wie z.B. die „Nordlichter“, die in Bayern nach 1804 die Reform des Staates und auch des Bildungswesens mit vorantrieben, die Montgelas, der auch bei dem oben erwähnten Pütter studiert hat, initiieren kann. Aber das gehört nicht in den zeitlichen und thematischen Kontext dieses so empfehlenswerten Bandes, legt aber vergleichende Nachfolgestudien nahe.

Gibt es nichts zu meckern, abgesehen von der für manche Leser:innen vielleicht doch ärgerlichen Tatsache, dass es keine Kollektivbiographie und handliche Statistiken, samt ihrer Suggestionen für Kausalitäten und typische Strukturen oder Netzwerke gibt? Als disziplin- und bildungshistorisch interessierter Leser hätte sich der Rezensent ein wenig mehr Aufmerksamkeit für die Veränderungen im Bildungsbereich gewünscht, denn die beginnen ja nicht erst mit Humboldt oder lokal nur in Berlin und mit Gedike und Meierotto, sondern philanthropisch sehr viel breiter, aber dann wohl auch eher außerpreußisch, und wahrscheinlich hat auch nur Schlözer in Göttingen (der unerwähnt bleibt) im Kontext der Staatswissenschaften auch der „Erziehungswissenschaft“ den Status des Expertenwissens zudenken können. Aber das ist ein eigenes Thema, das aber bedeutsam bleibt, wie schon Herbart belegt, wenn er 1810 in der Reflexion der öffentlichen Erziehung auch auf die Rolle der „Staatsmänner“ [1] rekurriert, aber damit vor allem die Administration und die Regenten meint, für die Bildungsreform ein Dauerthema wird, aber nicht die Experten, die fallweise rekrutiert werden. Auch hier setzt offenbar funktionale Differenzierung ein, wenn es nach 1800 darum geht, die öffentlichen Angelegenheiten zu ordnen – Anschlussarbeiten sind deshalb nur erwünscht.

[1] Herbart, J. F. (1810/1919). Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. In O. Willmann & Th. Fritzsche (Hrsg.), Johann Friedrich Herbarts pädagogische Schriften (Bd. 3, S. 231). Zickfeldt.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Eckert, Georg / Groppe, Carola / Höroldt, Ulrike (Hg.): Preußische Staatsmänner, Herkunft, Erziehung und Ausbildung, Karrieren, Dienstalltag und Weltbilder zwischen 1740 und 1806. Berlin: Dunker & Humblot 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978342818869.html