EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Jessika Piechocki
BĂŒrgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800
August Hermann und Agnes Wilhelmine Niemeyer in Halle
(Hallesche Forschungen: Band 63)
Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2022
(438 S.; ISBN 978-3-447-11872-9; 68,00 EUR)
BĂŒrgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800 Jessika Piechockis Dissertationsschrift lĂ€sst sich in eine Reihe von neueren Arbeiten einordnen, die sich mit Person und Werk August Hermann Niemeyers (1754-1828) beschĂ€ftigen. [1] Die Autorin prĂ€sentiert dazu einen neuen Blickwinkel, indem sie darauf abzielt, am mikrohistorischen Beispiel des Ehepaars Niemeyer gebildete Geselligkeit innerhalb der Stadt- und UniversitĂ€tsgesellschaft in Halle um 1800 darzustellen. Sie will untersuchen, wie die Niemeyers durch kulturelle Praktiken zu Mitspielern im ‚Projekt BĂŒrgertum‘ wurden (1). Die Autorin verortet ihre Forschungen damit hauptsĂ€chlich innerhalb der inzwischen etwas angestaubten BĂŒrgertums-Forschung (was bereits ein Blick in das Literaturverzeichnis bestĂ€tigt: nur sehr wenige zitierte Werke sind nach 2010 erschienen).

ZunĂ€chst geht Piechocki auf die ElternhĂ€user des spĂ€teren Ehepaares Niemeyer sowie deren dortige Kindheit und Jugend ein. Der Vater von Agnes Wilhelmine Köpken (1769-1847), spĂ€tere Niemeyer, Friedrich (von) Köpken (1737-1811), war Sohn eines Kanonikus in Magdeburg, aber – noch wichtiger – mĂŒtterlicherseits Nachkomme der bekannten Gelehrtenfamilie Calvisius [2]. Köpken verlor seinen Vater bereits, als er wenige Wochen alt war. Die Mutter wendete große Teile des umfangreichen Vermögens ihrer Familie fĂŒr seine Erziehung und die seiner Schwester auf. Friedrich Köpken erhielt umfangreichen Privatunterricht und besuchte anschließend alle wichtigen höheren Schulen Magdeburgs: das AltstĂ€dtische Gymnasium, das PĂ€dagogium des Klosters Unser Lieben Frauen sowie das bei Magdeburg gelegene PĂ€dagogium Kloster Berge. Anschließend studierte er in Halle Jura und nahm dort an verschiedenen Geselligkeiten in der Stadt teil, was ihn nachhaltig prĂ€gte (84). Nachdem er 1761 die juristische StaatsprĂŒfung in Berlin erfolgreich absolviert hatte, ging er zurĂŒck nach Magdeburg und machte schnell Karriere: Er wurde Syndikus verschiedener Institutionen seiner Heimatstadt, bekam den Titel eines königlichen Hofrats und wurde 1796 gar in den Adelsstand erhoben. Zur Mutter Agnes Wilhelmines ist leider nur wenig ĂŒberliefert.

Agnes Wilhelmine Köpken verbrachte ihre Kindheit im neu angelegten Magdeburger Viertel am FĂŒrstenwall, in dem sich viele Angehörige der stĂ€dtischen Oberschichten niederließen. Der Vater veranstaltete Geselligkeiten mit vielen bedeutenden Literaten und Musikern der Stadt und förderte seine Tochter intensiv. Er ließ sie privat in Englisch und Französisch unterrichten und legte einen Fokus auf den Klavierunterricht. Dabei nahm er als Klavierlehrer nicht „irgendeinen Musiker“, sondern den Magdeburger Musikdirektor Johann Friedrich Leberecht Zacharias (1753-1807) (169).

August Hermann Niemeyer stammte aus der Familie Francke-Freylinghausen-Niemeyer, sein Urgroßvater mĂŒtterlicherseits war August Hermann Francke (1663–1727). Piechocki betont zwar die pietistischen Überzeugungen der Großeltern- und Elterngeneration, gleichzeitig aber das sich wandelnde theologische und erzieherische VerstĂ€ndnis ab der Jahrhundertmitte, welches in die Familie hineinwirkte (125). Als Niemeyer neun Jahre alt war, starb seine Mutter. Sein ĂŒberforderter Vater, der wenig spĂ€ter ebenfalls starb, gab ihn und seine Geschwister in die Obhut der kinderlosen Verwandten Sophie Antoinette Lysthenius, geb. von Wurm (1709-1790). Das erwies sich trotz der UmstĂ€nde als GlĂŒcksfall fĂŒr Niemeyer, da Lysthenius eine sehr belesene und gebildete Frau war, die ihn nachhaltig positiv beeinflusste (131-136). Nach seiner fĂŒr ihn ebenso prĂ€genden Schulzeit am PĂ€dagogium Regium, in der er sich besonders mit der aufkommenden deutschen Literatur von Autoren wie Klopstock oder Lessing beschĂ€ftigte (141), studierte er ab 1771 anschließend in Halle. Er nahm frĂŒh an den Geselligkeiten der Stadt teil und es gelang ihm kurz nach seinem absolvierten Studium, zu einem anerkannten Gelehrten zu werden. Im Jahr 1779, als er Agnes Wilhelmine Köpken kennen lernte, wurde Niemeyer mit bereits 25 Jahren zum außerordentlichen Professor der Theologie befördert.

Niemeyer lernte Agnes Wilhelmine bei den von ihm besuchten geselligen AnlĂ€ssen im Hause seines Freundes Friedrich von Köpken kennen. Es entwickelte sich eine stetige Korrespondenz zwischen der anfangs zehnjĂ€hrigen A.W. Köpken und dem 15 Jahre Ă€lteren A.H. Niemeyer. Piechocki unterstreicht hier den erzieherischen Anspruch gegenĂŒber der jĂŒngeren Agnes Wilhelmine in den Briefen Niemeyers, der auch noch in den ersten Ehejahren ab 1786 erhalten bleibt und vom Vater unterstĂŒtzt wird (171-187). Piechocki stellt die Mittelposition der Ideen Niemeyers bezĂŒglich der Töchter- und MĂ€dchenerziehung heraus. Niemeyer wollte in seinen Konzepten zur MĂ€dchen- und Töchtererziehung besonders Töchtern aus höherer Gesellschaftsschichten Bildung angedeihen lassen. Seine Ideen lassen sich somit zwischen den Forderungen der englischen Schriftstellerin Mary Wollstonecraft (1759-1797), die MĂ€dchen gleichwertig wie Jungen erziehen lassen wollte, und den Konzepten des deutschen PĂ€dagogen Joachim Heinrich Campe (1746-1818), der darauf bestand, MĂ€dchenerziehung ausschließlich auf die ‚kĂŒnftigen Verpflichtungen des weiblichen Geschlechts‘ hin auszurichten, einordnen (191).

Der Hauptteil der Studie besteht aus einer Abhandlung zur geselligen Bildung beziehungsweise zur gebildeten Geselligkeit anhand des Beispiels im Hause des Ehepaares Niemeyer. Ausgehend von einigen zeitgenössischen Theorien zur Geselligkeit werden die Einrichtungen des Hauses am Großen Berlin auf der Basis der erhaltenen Korrespondenz dargestellt. Nachgehend wendet sich Piechocki spezifischen kulturellen Praktiken der Geselligkeit im Hause Niemeyer zu. Bei diesen Praktiken handelte es sich namentlich um das Schreiben von Briefen, das Spazierengehen (und das damit einhergehende Genießen der Natur), das Musizieren, das Tanzen sowie das Lesen. Die Autorin bewertet all diese Praktiken in ihrer Ausformung am Ende des 18. Jahrhunderts als spezifisch ‚neuartige‘ Praktiken der sich formierenden BĂŒrgerlichkeit um 1800. Die Praktik des Briefeschreibens sei in ein Medium des „geselligen Betragens“ transformiert worden (276), der Spaziergang des Individuums in einem Park wĂŒrde jenes in „einen bĂŒrgerlichen Menschen“ verwandeln (288) und die höhere WertschĂ€tzung der Musik ginge einher mit „der langsamen Erosion der stĂ€ndischen Gesellschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert“ (289). Ähnliches schreibt Piechocki den Praktiken des Tanzens und des Lesens zu.

Im letzten Kapitel geht die Autorin auf Grundlage von erhaltenen Korrespondenzen verschiedener Zeitgenossen den Beschreibungen der Charaktere des Ehepaares Niemeyer nach, wobei diese stets Agnes Wilhelmine als sehr liebenswĂŒrdige und gute Gesellschafterin ansahen, wĂ€hrend ihr Mann oftmals als „steif“ oder gar „hochmĂŒtig“ charakterisiert wurde (334).

Die von Piechocki vorgelegte Studie bereichert ohne Zweifel die kĂŒnftige Niemeyer-Forschung. Ihr Ansatz, geschichtliche VorgĂ€nge immer auch als rĂ€umliche und örtliche zu begreifen [3], ist als sehr gelungen hervorzuheben. Mit dem von ihr gewĂ€hlten geschlechtshistorischen Zugang schafft es Piechocki, oftmals wenig beachtete Frauen in den Vordergrund zu rĂŒcken. Positiv zu unterstreichen ist zudem das von der Autorin ausgewertete zahlreiche Quellenmaterial, welches bezĂŒglich der dargestellten Protagonisten viel Neues zu Tage fördert.

Problematisch ist jedoch der Versuch von Piechocki, die Geselligkeit des Ehepaares Niemeyer ohne grĂ¶ĂŸere Kontextualisierung und BerĂŒcksichtigung neuerer historischer Forschungsliteratur in die Narrative der Ă€lteren BĂŒrgertums-Forschung einzuordnen. Sowohl Agnes Wilhelmine als auch August Hermann Niemeyer stammen aus Gelehrtenfamilien. Die von der Autorin hervorgehobenen kulturellen und geselligen Praktiken (Briefe schreiben, Spazieren gehen, Musizieren, Tanzen und Lesen) lassen sich in weiten Teilen schon in Gelehrtenhaushalten der FrĂŒhen Neuzeit finden [4] und sind keineswegs erst spezifische Ausdrucksformen „des BĂŒrgertums“ um 1800. Die Forschung zu studentischen und gelehrten Kulturen vor 1800 betont beispielsweise, dass in ihnen Spazierengehen und vor allem das Musizieren bereits einen hohen Stellenwert einnahmen. [5] Besonders frappierend sind Piechockis Wertungen bezĂŒglich des Schreibens von Briefen: So stellt sie die These auf, dass der „Boom des Briefes“ am Ende des 18. Jahrhunderts den Übergang von der stĂ€ndischen zur bĂŒrgerlichen Gesellschaft markiere (66), und lĂ€sst dabei das breit beforschte PhĂ€nomen der ‚republic of letters‘ im 17. und frĂŒhen 18. Jahrhundert außer Acht. Besonders das letzte Beispiel verdeutlicht, dass in dieser Arbeit nicht nur die oftmals fehlende historische Einordnung von Geselligkeit und ihren Praktiken problematisch ist, sondern vor allem die Überzeichnung einiger Praktiken als Symptome fĂŒr das Ende der StĂ€ndegesellschaft und den Anfang des ‚bĂŒrgerlichen Zeitalters‘. Generell wĂ€re eine Einordnung der Niemeyers als Kinder des 1. Standes – also der Gelehrten – notwendig gewesen [6], wobei der von Piechocki genutzte reichhaltige Quellenkorpus anschlussfĂ€higere neue Erkenntnisse fĂŒr die aktuelle Forschung generiert und zudem zu einer differenzierteren Betrachtung von Verhaltensweisen der Oberschichten um 1800 beigetragen hĂ€tte.

[1] Exemplarisch fĂŒr das neue Interesse an A. H. Niemeyer: Koerrenz, R. (2019). ReformpĂ€dagogik als Projekt der Moderne. August Hermann Niemeyer und das pĂ€dagogische 18. Jahrhundert. Ferdinand Schöningh Verlag.
[2] Unter anderen Sethus Calvisius (1556-1615) oder Sethus Calvisius der JĂŒngere (1639-1698), worauf die Autorin leider nicht eingeht.
[3] Die Autorin bezieht sich hierbei auf: Schlögel, K. (2009). Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser Verlag.
[4] Dazu besonders: Jancke, G. (2013). Gastfreundschaft in der frĂŒhneuzeitlichen Gesellschaft – Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten. V&R Verlage. Dies.: „Man leistet uns gu(o)te geselschaft“. Gastlichkeit und Geselligkeit in der Gelehrtenkultur der FrĂŒhen Neuzeit. In Bernhardt, K., Krug-Richter, B., Mohrmann, R. E. (2013). Gastlichkeit und Geselligkeit im akademischen Milieu in der FrĂŒhen Neuzeit (S. 153-174). Waxmann.
[5] Dazu etwa die SammelbĂ€nde: Krug-Richter, B., Mohrmann, R. E. (2009). FrĂŒhneuzeitliche UniversitĂ€tskulturen: kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. V&R Verlage. Bernhardt, K., Krug-Richter, B., Mohrmann, R. E. (2013). Gastlichkeit und Geselligkeit im akademischen Milieu in der FrĂŒhen Neuzeit. Waxmann. Sowie zum Spazierengehen: Barbara Krug-Richter unt. Mitarb. v. Tina Braun: Gassatum gehen. Der Spaziergang in der studentischen Kultur der FrĂŒhen Neuzeit. In: Jahrbuch fĂŒr UniversitĂ€tsgeschichte 9, 2006, 35–50.
[6] Bosse, H. (2012). Bildungsrevolution 1770–1830, Herausgegeben mit einem GesprĂ€ch von Nacim Ghanbari. UniversitĂ€tsverlag Winter.
Michael Rocher (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Rocher: Rezension von: Piechocki, Jessika: BĂŒrgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800, August Hermann und Agnes Wilhelmine Niemeyer in Halle. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen . In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978344711872.html