EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)

Hans-Ulrich Musolff / Stephanie Hellekamps
Geschichte des pädagogischen Denkens
München: Oldenbourg 2006
(382 S.; ISBN 978-3-486-58034-1; 34,80 EUR)
Geschichte des pädagogischen Denkens Die von Stefanie Hellekamps und Hans-Ulrich Musolff verfasste „Geschichte des pädagogischen Denkens“ bietet dem Lesenden einen umfassenden Ein- und Überblick über pädagogische Reflexionen von Anfang des 15. bis in das 20. Jahrhundert. Die Auswahl der einzelnen pädagogischen Autoren wird durch die sie verbindenden Fragestellungen wie auch durch ihre Auseinandersetzung mit- und kritische Absetzung voneinander begründet. Auf diese Weise wird die Geschichte pädagogischer Reflexionen als eine von „Brüchen, Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten“ (1) durchzogene erzählt. Die beiden Autoren benennen ihr Lesepublikum nicht eigens, aber man kann feststellen, dass sich dieses Buch aufgrund seiner Konzeption sowohl für Einsteiger in das Fach wie auch für wissenschaftlich Versierte eignet. Durch die Einführung der einzelnen Denker über thematische Schwerpunkte wird Studierenden ein Einblick in die Entwicklung, Verlagerung und Überlagerung pädagogischer Probleme und Fragestellungen gegeben. Dabei werden die einzelnen Ansätze durch Rückgriff auf ausgewiesene Sekundärliteratur sehr detailliert dargestellt und kontrovers diskutiert, wodurch sich auch der kundige Leser pädagogischer Theorien und Auseinandersetzungen erneut vergewissern kann.

Die „Geschichte des pädagogischen Denkens“ gliedert sich in drei Epochen, die, ohne dass dies allerdings im Inhaltsverzeichnis markiert wird, in einzelne Kapitel unterteilt sind, die thematische Schwerpunkte der Darstellungen hervorheben.

Die erste Epoche, die zwei Kapitel umfasst, erstreckt sich vom 15. bis in das 19. Jahrhundert. Im ersten Kapitel „Pädagogik der frühen Neuzeit: Gelehrsamkeit und Tugend“ werden die Schriften des Humanismus und der Renaissance ausgehend von Vergerio über Erasmus, Melanchthon, Montaigne bis hin zu Comenius vorgestellt. Die italienischen Humanisten begreifen pädagogische Reflexionen als eine eigene kulturelle Gattung, die Ratschläge und Hinweise für die Erziehung der nachwachsenden Generation bietet. Zentrales Moment in den Schriften der verschiedenen Autoren ist die Ermöglichung eines rational geführten Lebens, das sich durch Tugendhaftigkeit und Gelehrsamkeit auszeichnet. Dabei korreliert die Befähigung der Kinder zu einer solchen Lebensführung nicht mit gesellschaftlichen Positionen, sondern hängt vielmehr von den individuellen Anlagen und Fähigkeiten der Kinder ab, welche durch Erziehung und Unterricht geschult und kultiviert werden sollen. Eine allgemeine Charakterbildung wird anvisiert, die keineswegs klerikalen Mustern gehorcht, sondern ihre Autorität den pädagogischen Reflexionen selbst verdankt. Obgleich auch Johann Amos Comenius der Idee des ‚alle alles im Ganzen‘ lehren verpflichtet ist, basiert seine Didaktik durchaus auf einer göttlichen Ordnung, die sich in den Dingen selbst erkennen lässt.

Im zweiten Kapitel, das die Überschrift „Kritik der Tradition, Paradoxie der Erziehung“ trägt, werden pädagogische Denker vorgestellt, deren Reflexionen sich nach wie vor in einem metaphysischen Rahmen bewegen und die im Unterschied zu ihren Vorgängern den Verlauf der Geschichte und des menschlichen Werdens anders verstehen. Sie begreifen diese als offene, ungerichtete Prozesse, eine Vorstellung, die sowohl in Jean-Jacques Rousseaus Theorie in Bezug auf dessen Gedanken der ‚perfectibilité‘ als auch im Kapitel über Immanuel Kant in ihrer Ambivalenz dargestellt wird. Diese zeigt sich in der möglichen Vervollkommnung sowie in der möglichen Verrohung. Für beide Autoren besteht die Aufgabe der Erziehung darin, den Menschen dazu zu befähigen, einen moralischen Charakter zu gewinnen. Ein Auftrag, der sich vor das Problem der Kultivierung der „Freiheit bei dem Zwange“ (Kant) gestellt sieht. Neben Kant werden als Vertreter der Aufklärungspädagogik Christian Gotthilf Salzmann und Johann Bernhard Basedow vorgestellt, von denen sich Wilhelm von Humboldt in seiner Bildungstheorie absetzt. Abschließend wird Johann Friedrich Herbarts erziehender Unterricht vorgestellt, den er in Auseinandersetzung mit Kant entwickelt. Die Auswahl der genannten Autoren wird durch deren thematisches Interesse begründet, das sich in der Konzeption des moralischen Charakters, dem Problem der Freiheit bei gleichzeitigem Zwange, dem Verständnis von Bildung als Selbstbildung und der Schulung der Urteilskraft zeigt. Themen, die, wie Hellekamps und Musolff hervorheben, seit dem Humanismus das Reflektieren über pädagogische Prozesse bestimmen.

Die zweite Epoche umfasst den Zeitraum von 1900 bis 1968. Hier werden Theorien referiert und diskutiert, die sich um die Konzeption der so genannten „neuen Erziehung“ bemühen. Die Auswahl der vorgestellten pädagogischen Konzeptionen wird von den Verfassern mit dem spezifischen Wahrheitsverständnis begründet, dem die verschiedenen Autoren verhaftet seien, wobei sie Wahrheit als ein substanzielles Moment begreifen würden, von dem aus ihre Theorien Legitimität und Plausibilität erhalten sollen: „Unsere Auswahl der Hauptfiguren dieser zweiten pädagogischen Epoche erhebt ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber diese Auswahl ist ebenso wenig zufällig. Die vorgestellten Autoren repräsentieren unseres Erachtens am besten die postmetaphysischen Dilemmata des Habitus der Wahrheit“ (3). Gemeint ist beispielsweise das Verständnis einer ganz spezifischen Natur des Kindes, wie es die reformpädagogischen Erziehungskonzeptionen bedingte.

Unter der Kapitelüberschrift „Pädagogik als abgeleitete Wissenschaft und Unterrichtslehren“ werden die Konzeptionen der theoretischen wie auch praktischen Lehrerausbildung der Herbartianer Tuiskon Ziller und Karl Volkmar Stoy ausführlich diskutiert. Im anschließenden Kapitel „Individualität, Geschichtlichkeit und das erzieherische Verhältnis“ werden die bekanntesten Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik vorgestellt. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Verbindung einiger dieser Vertreter zum Nationalsozialismus nachgezeichnet wird. Eine Affinität, die auf der Grundlage ihrer theoretischen Konzeptionen einsichtig gemacht wird. Im Kapitel „Die neue Erziehung: Reformpädagogische Entwicklungen“ werden die reformpädagogischen Hoffnungen auf die Hervorbringung eines neuen Menschen am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Hermann Lietz und Paul Geheeb referiert. Diese Auseinandersetzung wird mit Blick auf die jeweiligen Leitfiguren der beiden Reformpädagogen nachgezeichnet, die ihr unterschiedliches Erziehungsverständnis zum Ausdruck bringen: Parzival, den Lietz als pädagogischen Helden feiert, und Nietzsches Zarathustra, den Geheeb favorisiert und den er der Lietz´schen Pädagogik, die er aufgrund des geforderten Pflichtgefühls und Selbstlosigkeit ablehnt, entgegensetzt. Abschließend wird die Pädagogik der Persönlichkeit von dem wohl weithin unbekannten Walter Rest, von 1953 bis 1978 Professor für Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Münster, ausführlich diskutiert, dessen Einordnung in die Reihe von Klassikern doch etwas überrascht.

Die dritte und letzte Epoche stellt pädagogische Theorien von 1968 bis in unsere heutige Gegenwart hinein vor: theoretische Ansätze, die aus bestimmten Selbstdeutungen der Moderne entspringen und nach Ansicht der beiden Autoren 1968 ihren Anfang nahmen. Dieses Kapitel ist mit „Zwischen Reformhoffnungen und Selbstreflexion“ überschrieben und vereint Herwig Blankertz` Versuch einer Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung, Wolfgang Klafkis didaktische Konzeption, Klaus Pranges und Horst Rumpfs Auseinandersetzung mit der Zeitstruktur (in) der Pädagogik, das Spannungsverhältnis von Natur und Kultur in Dietrich Benners Schriften, Klaus Mollenhauers Korrekturen am Bildungsbegriff und Dieter Lenzens reflexive Erziehungswissenschaft. Dabei zeichnen Hellekamps und Musolff nach, wie die einzelnen Autoren mit ihren theoretischen Überlegungen auf gesellschaftliche Umstrukturierungen wie auch problematisch gewordene pädagogische Theoriefiguren antworten.

In ihrer detailreichen Darstellung und auch Diskussion der prominentesten Vertreter pädagogischer Theoriebildung greifen die beiden Autoren immer wieder auf ausgewiesene Sekundärliteratur zurück, ohne die eine breite und tiefgehende Einführung kaum möglich wäre. Allerdings sind die Auswahl und der Umgang mit der Sekundärliteratur in einigen Kapiteln problematisch, z.B. wenn der ausgewiesene Comeniusforscher Klaus Schaller weder in den Ausführungen zu Comenius Erwähnung findet noch seine Schriften im Literaturverzeichnis angeführt werden. Die meisten Kapitel jedoch sind unter Einbeziehung ausgewiesener Sekundärliteratur verfasst, wodurch die hier erzählte Geschichte der Pädagogik über weite Teile hinweg den bekannten Wegen folgt. In einigen Abschnitten dominiert die sekundärliterarische Darstellung so stark, dass diese sich einer bloßen Reproduktion annähern. Dies zeigt sich besonders in den Kapiteln zu Rousseau, Kant und Herbart, die unter Einbeziehung von Bucks Schriften bzw. derjenigen Benners dargestellt werden.

Der möglichen Frage, warum die Geschichte des pädagogischen Denkens mit Lenzens reflexiver Erziehungswissenschaft endet und nicht auch heutige allgemeinpädagogische Theorien Berücksichtigung finden, begegnen Hellekamps und Musolff durch ein bestimmtes Verständnis heutiger allgemeinpädagogischer Theoriebildung. Sie kennzeichnen diese als idiosynkratisch. Damit ist nicht nur gemeint, dass jede pädagogische Reflexion individuell und unwiederholbar ist, sondern auch persönlich in dem Sinne sei, dass sie nicht mehr schulbildend wirke und auch selbst keiner Schule nachfolge: „Was wir Postmoderne nennen, ist kein –ismus, sondern der Niedergang der –ismen. Es ist das Akzeptieren dessen, daß der Allgemeine Pädagoge kein Schulgründer ist, und sich nicht in eine bereits vorhandene Abfolge einstellt. Vielmehr ist der Allgemeinpädagoge er selbst und nur er selbst“ (359). Wird die Abfolge nicht als epigonale Bezugnahme interpretiert, müsste man hervorheben, das sich Allgemeinpädagogen nach wie vor auf Theorien beziehen, indem oder wenn sie auch Brüche und Verschiebungen markieren. Zudem lassen sie sich durchaus in ihren Ansätzen von bestimmten Disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Soziologie und Ethnographie leiten, deren Figurationen und Begrifflichkeiten sie für den pädagogischen Diskurs fruchtbar zu machen suchen. So betrachtet hätte einer weiterführenden Darstellung nichts im Wege gestanden.
Christiane Deibl (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Deibl: Rezension von: Musolff, Hans-Ulrich / Hellekamps, Stephanie: Geschichte des pädagogischen Denkens. München: Oldenbourg 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978348658034.html