EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Marc Willmann
De-Psychologisierung und Professionalisierung der Sonderpädagogik
Kritik und Perspektiven einer Pädagogik für „schwierige“ Kinder
MĂĽnchen: Reinhardt-Verlag 2012
(195 S.; ISBN 978-3-497-02323-3; 29,90 EUR)
De-Psychologisierung und Professionalisierung der Sonderpädagogik Es ist selten geworden – zumindest einer gefühlten Leseerfahrung nach –, dass eine Gesamtdarstellung einer Domäne aus dem Spektrum der Erziehungswissenschaften als Autorenbuch gewagt wird und nicht in Form eines modularen Baukastens mit (im Prinzip) austauschbaren Texten daher kommt. Mit „Autorenbuch“ ist gemeint, dass das Buch die Handschrift des Autors, der Autorin trägt, womit eine spezifische Konstruktionsleistung verbunden ist, die über die bloße Darstellung hinaus das Wesentliche des Buches, seinen Erkenntnisgehalt, trifft. Das Buch verleitet und verführt geradezu zum Denken des Gegenstandes. Und wie bereits Titel und Untertitel in Aussicht stellen, geht es nicht primär um eine Darstellung der Pädagogik bei Verhaltensstörungen im engen Sinne, sondern auch und vor allem um deren reflexive Erschließung und Verortung: „Die Sonderpädagogik der Erziehungshilfe ist weniger eine spezielle Pädagogik als vielmehr eine spezifische Perspektive auf Erziehungs- und Bildungsprozesse unter erschwerten Bedingungen“ (145). Die Erkenntnisprobleme im Gegenstandsbereich sind gegenüber der – vermeintlichen – Positivität fachspezifischer Wissensangebote systematisch vorrangig, was eine Enkulturation in das Fachgebiet und sein „Making-of“ ermöglicht.

Das Buch ist in drei Teile mit drei (I), zwei (II) respektive vier Kapiteln (III) gegliedert. Willmann beginnt dort, wo es am meisten weh tut: Bei der um sich greifenden „Verunsicherung in der Erziehung in der Gegenwart“ (22). Der Autor zeichnet im ersten Kapitel die aktuellen öffentlichen Problematisierungsformen von Erziehungs- und Bildungsfragen nach. Umstritten erscheinen darin sowohl die empirische wie die normative Dimension von Pädagogik – also Unsicherheiten zugleich über Wirksamkeiten und über Wertvorstellungen in Erziehung und Bildung. Die öffentliche und das heißt in weiten Teilen die medial vermittelte Problemlage wird von Willmann aber nicht nur selbstbezüglich reflektiert, sondern als Anfrage an die Erziehungswissenschaft formuliert. Im folgenden Kapitel greift Willmann auf historisches Wissen zurück, um einen Zugang zu den Konstitutionsproblemen wissenschaftlicher Reflexion über Erziehungsschwierigkeiten zu finden. So werden Probleme der Definition und der Begrifflichkeit von Erziehungsschwierigkeiten in ihrer historisch-gesellschaftlichen Relativität sichtbar (25). Was das konkret bedeutet, wird im dritten Kapitel über die Institutionalisierung und Ausdifferenzierung einer Pädagogik bei Verhaltensstörungen entfaltet. Sichtweisen auf Erziehungsschwierigkeiten formen Problemlösestrategien, deren Durchsetzungserfolge langfristige Institutionalisierungsvorgänge implizieren und Sichtweisen zugleich träge und dominant machen. Das materielle und symbolische Feld, das sich so konstituieren konnte, wird bezogen auf Deutschland detailliert und informativ dargestellt (29ff). Dass die „Verhaltensgestörtenpädagogik“ in der Darstellung Willmanns als Teil, d.h. als Akteur im Feld der Erziehungsschwierigkeiten sichtbar wird, ist nicht ohne zentrale Pointe: Sie verfügt nicht über einen Gegenstand, den sie unabhängig von kultureller und politisch-ökonomischer Formierung zum Aufbau distanzierter Beforschung nutzen könnte – was zugleich erklärt, dass und wieso es ihr nicht gelingen konnte (und nicht gelingen kann) „ein kohärentes Selbstverständnis zu entwickeln“ (52). Damit schließt der erste von insgesamt drei Teilen des Bandes mit einer Fülle von Wissen, die es für eine anspruchsvolle Dekonstruktion braucht.

Der zweite Teil des Buches ist mit den Kapiteln vier und fünf zwei Perspektiven auf das „Deutungsmuster des ‚schwierigen’ Kindes“ (55) gewidmet. Zunächst geht es um die klinische, individuumsbezogene Perspektive, deren Methodologie, Methodiken und empirischen Daten im Zusammenhang mit der Erfassung und Intervention bei Verhaltensauffälligkeiten. Eine besondere Stärke der Darstellung liegt in der Übersichtlichkeit und in der Rezeption englischsprachiger Literatur. Vor dem Hintergrund des ersten Buchteils werden sowohl die Beschränkungen wie die Leistungen dieser Perspektive deutlich. Kapitel fünf ist der (sonder-)pädagogischen Perspektive gewidmet, die sich von der individuumsbezogenen Sichtweise insofern unterscheidet, als für sie Verhaltensauffälligkeiten in pädagogischen Prozessen lokalisiert sind. Auf der institutionellen Ebene des Bildungssystems geht es zuerst um Förderquoten und bildungsstatistische Daten, d.h. um Zuweisungs- und Angebotsdynamiken. Auf der Ebene pädagogischer Prozesse unterscheidet Willmann die Konzeptionalisierung von Verhaltensauffälligkeiten als Unterrichtsstörung (78) einerseits, als spezifischen Förderbedarf (80f) andererseits. Die Konzeptionalisierung als Unterrichtsstörung erlaubt eine Verknüpfung von (auffälligem) Handeln und Verhalten in der Schule mit Fragen nach der Unterrichts- und Schulqualität, zielt also auf die komplexen Prozesse der Gestaltung von Settings für Lernen und Unterricht. Die Konzeptionalisierung als Förderbedarf ermöglicht die Begrenzung der unterrichtsbezogenen Sichtweise unter Rückgriff auf ein Individuum, an welchem zusätzlich ein Förderbedarf konstatiert werden kann. Allerdings bleibt dabei nach Willmann der Identifikationsvorgang (trotz klinischer Perspektive) weitgehend ungeklärt: „Die Ausgangslage ist paradox: Durch die sonderpädagogische Selektionspraxis werden Schülerinnen und Schüler nach unbestimmten Kriterien bestimmten Förderschwerpunkten und Förderorten zugeordnet“ (82). Was nun? „Die pädagogische Reflexion über schwieriges Schülerverhalten beginnt mit einem deskriptiven Zugang zum konkreten Einzelfall“ (84), so der Vorschlag von Willmann. Und als Einzelfall gilt hier nicht das Individuum, sondern sein Involviertsein in das Interaktionsgeschehen in pädagogischen Prozessen. Erst auf diesem Hintergrund lohnt sich, so der Fortgang der Darstellung, ein Blick in die Deutungs- und Handlungsangebote pädagogischer Diagnostik und Begutachtung, nach Willmann insbesondere in Ansätze wie dem Multiaxialen Diagnosesystem Jugendhilfe [1], das vor den Fragen der subjektiven Bedeutung, Interessen- und Rechtslage von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nicht zurückschreckt und diese nicht nur konsultativ, sondern konstitutiv miteinbezieht. Auf der Interventionsebene führt ein solches Verständnis zu einer Gewichtung protektiver Faktoren innerhalb einer heterogenitätssensiblen Pädagogik und ihrer Möglichkeiten, geeignete Settings herzustellen (Unterricht, Förderung, Beratung, Therapie) sowie zu einer Kritik an Trainingsansätzen, die nicht mehr auf Bildung, sondern auf Verhaltensmodifikation zielen (100).

Im dritten und letzten Teil des Bandes (Kapitel 6 bis 9) arbeitet Willmann an der „Reformulierung einer pädagogischen Position für die schulische Erziehung ‚schwieriger Kinder’“ (103). Das Problem, um das es ihm geht, ist der Umstand, dass bestimmte fachliche Perspektiven und Konstruktionsweisen im Unterschied zu anderen dazu neigen, Erziehungsschwierigkeiten fernab gesellschaftlicher Sozialisations- und Bildungsverhältnisse als private seelische Probleme zu konstruieren und damit Tendenzen der Entsolidarisierung im Umgang mit Erziehungsschwierigkeiten begünstigen (116). Für erforderlich hält er demgegenüber „genuin pädagogische“ (113, i.O. kursiv) Problembeschreibungen, die bereits im Ansatz Strukturen, Kulturen und Praktiken von Bildung und Erziehung, innerhalb derer Schwierigkeiten wahrgenommen werden können, mitreflektieren. Der Name dieser Positionsfindung heißt bei Willmann De-Psychologisierung, was unterstreicht, dass es hier um eine kritische Absetzung vom Mainstream geht – auch innerhalb des eigenen Faches (146ff). Im anschließenden Kapitel zu Standards in der Bildung wird exemplarisch deutlich, wie man in diesem Sinne besser nicht vorgeht. Kapitel acht ist der Positionsfindung gewidmet und analysiert zunächst die Wissensangebote und Deutungsmuster einer Pädagogik der Erziehungshilfe. Aus der Unlösbarkeit der Konstitutionsprobleme einer solchen Pädagogik (vgl. Teil 1 des Bandes) heraus formuliert Willmann eine reflexive Position: „Schulische Verhaltensgestörtenpädagogik entfaltet sich daher immer als Junktim von Intervention und Reflexion bei schulischen Erziehungsschwierigkeiten“ (153, i.O. kursiv). Diese Festlegung ermöglicht es, von vorhandenen Problemwahrnehmungen und -beschreibungen auszugehen (151) und die systematische Ungenauigkeit und die institutionelle Bindung aller Determinationsversuche erster Ordnung zugleich kritisch zu hinterfragen. Kurz: Die primäre Funktion einer Pädagogik für „schwierige Kinder“ ist es, Reflexionshilfe zu sein. Im neunten und letzten Kapitel setzt sich Willmann mit der Frage nach Inklusion bei Verhaltensstörungen auseinander. Nach einer knappen Situierung der Debatte wird der Inklusionskritik viel Raum geboten, ohne dass eine im Vergleich zu den vorangehenden Kapiteln ähnlich reflexive Position aufgebaut würde. Das Szenario jedoch, mit dem das Buch warnend schließt, erklärt sich nicht von selbst: „Die mit Inklusionsemphase vorgetragenen Forderungen (...) drohen indes nicht nur in einer Deprofessionalisierung im Umgang mit Behinderungen und Beeinträchtigungen zu münden, sondern es besteht die reale Gefahr, dass gleichsam die bereits stark marginalisierte Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit emotional-sozialen Schwierigkeiten und Verhaltensstörungen noch weiter aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wird“ (161).

Wenn der vorliegende Band von Willmann durch seinen Kenntnisreichtum im Fachgebiet und die Erarbeitung eines reflexiven Umgangs mit den langfristigen Problemen des Faches überzeugt, so lässt das letzte Kapitel eine offene Frage zurück: Warum nur gelingt es in der Sonderpädagogik dann doch so häufig nicht, auch einen reflexiven Umgang mit der Frage von Integration/Inklusion zu etablieren? Die Gefahr, von der oben die Rede ist, geht ganz bestimmt nicht vom Gehalt des Inklusionsdiskurses aus. Nur schon um sich auch um diese Frage zu kümmern lohnt sich die Lektüre des vorliegenden Bandes und die Diskussion, Aneignung und Vermittlung seiner Mittel zum Nachdenken über das, was mit entsprechender Definitionsmacht in Bildung und Erziehung für „schwierig“ gehalten werden kann.

[1] Jacob, André / Wahlen, Karl (2006): Das Multiaxiale Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J). München, Ernst Reinhardt Verlag.
Jan Weisser (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Weisser: Rezension von: Marc, Willmann,: De-Psychologisierung und Professionalisierung der Sonderpädagogik.. MĂĽnchen: Reinhardt-Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978349702323.html