In ihrer Habilitationsschrift analysiert die Erziehungswissenschaftlerin Christiane Micus-Loos die autobiographischen Werke von zehn namhaften ost- und westdeutschen SchriftstellerInnen. Ihr Anliegen ist es, durch einen Vergleich von SchriftstellerInnen der Geburtsjahrgänge um 1920 (Eva Zeller, Carola Stern, Günter de Bruyn, Christa Wolf und Günter Kunert) mit denen der um 1945 Geborenen (Uwe Timm, Monika Maron, Rita Kuczynski, Ulla Hahn und Hans-Josef Ortheil) die Ambivalenzen von Bildung, Identität und Geschichte als Generationenerfahrungen des 20. Jahrhunderts zu erörtern. Die so entstandene, durchweg flüssig lesbare Studie umfasst gut vierhundert Seiten, die in sechs Kapitel untergliedert sind.
Theoretisch-konzeptionell schließt sich Micus-Loos eng an die von Karl Mannheim geprägten Begriffe der Generationslagerung und des Generationszusammenhangs an. Damit verfolgt die Autorin die Frage, „ob sich generationale Erfahrungen als wichtige und tragfähige Prägung erweisen, die sich auf das ganze Leben auswirken, und inwiefern sich bei den AutorInnen über die Zugehörigkeit zu einer Generationenlagerung hinaus etwas Gemeinsames oder mit Mannheim gesprochen ein ‚einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinn geformtes Mitschwingen und Gestalten’ der Individuen einer Lagerung beschreiben lässt“ (77). Dieser auf die Identifizierung von kollektiven Identitäten setzende historisch-soziologische Generationenbegriff wird mit dem genealogischen Generationenbegriff und dem pädagogischen Generationenbegriff verknüpft. Insbesondere die bildungstheoretischen Ausführungen über das Verhältnis von Autobiographie und pädagogischen Generationenbeziehungen sind aufschlussreich. Im Anschluss an Jürgen Hennigsen führt Micus-Loos aus, dass für die Erziehungswissenschaft autobiographische Schriften nicht nur eine historische Quelle und ein sprachlich gestaltetes Bildungsschicksal repräsentieren, sondern auch Lern- und Bildungsprozesse bei den LeserInnen intendieren. Allerdings bleiben die Auseinandersetzung mit der erziehungswissenschaftlichen Bedeutung des Formats der Autobiographie wie auch quellenkritische Überlegungen auf eine Verhältnisbestimmung von Fiktion und Realität in autobiographischen Erzählungen beschränkt. Eine interdisziplinäre Perspektive, die das literaturwissenschaftliche Wissen um Familien- und Generationenromane integriert – etwa die von Neuschäfer identifizierte parallele Motivstruktur von fiktionalen und autobiographischen Generationenerzählungen [1] –, aber auch aktuelle erzähltheoretische Perspektiven berücksichtigt, wäre in Bezug auf die methodische Anlage der Studie sowie bei der Reflexion der Ergebnisse wünschenswert gewesen.
Subjektkonstitution, Bildung und Geschichte sind drei von Micus-Loos hermeneutisch-interpretativ gewonnene Kategorien, die für Konstruktionsprozesse von „generativen Identitäten“ in Bezug auf Generationslagerung und Generationszusammenhang bedeutsam sind. Diese Kategorien stellen gleichzeitig Gliederungspunkte dar, entlang derer die einzelnen autobiographischen Texte vorgestellt und anschließend zu Generationenporträts zusammengeführt werden. Für die Generation der um 1920 Geborenen finden sich – und dies überrascht nicht – vielfach bekannte Topoi zur sogenannten Kriegsgeneration wie die hohe biographische Bedeutsamkeit des Krieges, die Orientierung am beruflichen Aufstieg in der Nachkriegszeit und eine die familiale Sphäre dominierende Mutter. Ein zentrales Interpretativ für die Subjektkonstitution dieser Generation ist für Micus-Loos das der Notwendigkeit „Fluchtmöglichkeiten aus der unerträglichen Realität“ (256) zu haben. Dies gälte auch für jene AutorInnen, die dem Nationalsozialismus nahe standen und somit nicht unter Verfolgung gelitten hätten (Wolf, Zeller, Stern), denn Grund zur Flucht sei auch der familial bedingte Anpassungsdruck. Ein weiteres Muster in den Autobiographien von Autoren, die um 1920 geboren wurden, sei das „Interesse am Auskunftgeben“ und das Ringen um „Sprache als Medium der Vermittlung menschlicher Erfahrung“ (264). Für die autobiographischen Texte der um 1945 Geborenen ist der Analyse Micus-Loos’ zufolge, konstitutiv dass, „keine gesicherten, gefestigten, kohärenten und widerspruchsfreien Identitäten präsentiert“ (370) werden, sondern in die Vergangenheit gerichtete Suchbewegungen. Dabei geht es insbesondere um die Verarbeitung familialer Kriegsfolgen: „Bei den 1945 Geborenen findet sich das Trauma durch den Verlust des Bruders (Timm, Ortheil), das Trauma erlebter väterlicher Gewalt (Hahn, Kyczynski) oder das Trauma durch den Verlust der Großeltern“ (371). Micus-Loos kommt zu dem Ergebnis, dass es in dieser Generation erst der Bearbeitung der Familiengeschichte bedarf, bevor die Individualgeschichte erzählt werden kann. Dies komme in den autobiographischen Texten durch die Multiperspektivität der familialen Schicksalsschilderungen zum Ausdruck, hinter die auch das autobiographische Ich zurücktrete.
Im die Studie abschließenden Ausblick wird der Vergleich der beiden Generationen um die Perspektive von SchriftstellerInnen, die in den Jahren um 1970 geboren wurden (Julia Franck, Jakob Hein, Jana Hensel und Florian Illies), erweitert. Dabei zeige sich, dass der Mauerfall für die westdeutschen AutorInnen nicht in gleicher Weise generationsprägend gewesen ist wie für die ostdeutschen. Das Verhältnis zur Elterngeneration sei indes in ost- wie in westdeutschen autobiographischen Texten eher als geduldig und schonend, bisweilen sogar als distanziert und ignorant zu beschreiben. Eine intergenerationale, klärende Verarbeitung von Vergangenheit sei nicht zu finden (wobei zu überlegen wäre, welche erziehungswissenschaftlichen Kriterien für eine solche Einschätzung maßgeblich sein könnten). Micus-Loos wirft im Ausblick Fragen auf, die es wert gewesen wären, detaillierter bearbeitet zu werden und von denen zwei abschließend kurz aufgegriffen werden: So schreibt die Autorin im Kontext ihrer Ergebnisse bezogen auf die 1970er-Generation erstens: „Es muss offen bleiben, ob sich der für die beiden älteren Generationen beschriebene Generationenzusammenhang nicht erst hergestellt hat, nachdem die Reflexionen der AutobiographInnen den Filter jahrelanger Be- und Verarbeitung von Nationalsozialismus und Krieg passiert hatten“ (398). Diese, das Generationenkonzept von Mannheim kritisch hinterfragende Reflexion lässt die autobiographischen Texte weniger als Zeugnisse generationeller Identitäten gesellschaftlicher Großgruppen, denn als soziokulturelle, Sinn und Orientierung stiftende Narrative, als generationelle Erzählung im gesellschaftlichen Diskurs erscheinen [2]. Zweitens wird angesichts des Ergebnisses, dass sich das autobiographische Ich im Verlauf der rekonstruierten drei Schriftstellergenerationen sukzessive zurückbildet, die Frage aufgeworfen, ob dies ein Resultat gesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse oder ein Effekt des Alters der AutobiographInnen ist.
Insgesamt betrachtet ist es das große Verdienst der Studie von Micus-Loos, das Verhältnis von historischem Wandel, Identität und intergenerationellen Bildungsprozessen in den Fokus erziehungswissenschaftlicher Überlegungen zu stellen. Dabei wird das Thema der Erinnerungskulturen wird als eine Herausforderung weiterer pädagogischer Forschungen deutlich.
[1] Neuschäfer, Markus: Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman. In: Lauer, Gerhard (Hrsg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationenforschung. Göttingen: Wallstein 2010, 165-203.
[2] Bohnenkamp, Björn / Manning, Till / Silies, Eva-Maria (Hrsg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster. Göttingen: Wallstein 2009, 19.
EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)
Bildung, Identität, Geschichte
Ost- und westdeutsche Generationenerfahrungen im Spiegel autobiographischer Texte
Paderborn / München / Wien / Zürich: Schöningh 2012
(440 S.; ISBN 978-3-506-77127-8; 54,00 EUR)
Alexandra Retkowski (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexandra Retkowski: Rezension von: Micus-Loos, Christiane: Bildung, Identität, Geschichte, Ost- und westdeutsche Generationenerfahrungen im Spiegel autobiographischer Texte. Paderborn / MĂĽnchen / Wien / ZĂĽrich: Schöningh 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677127.html
Alexandra Retkowski: Rezension von: Micus-Loos, Christiane: Bildung, Identität, Geschichte, Ost- und westdeutsche Generationenerfahrungen im Spiegel autobiographischer Texte. Paderborn / MĂĽnchen / Wien / ZĂĽrich: Schöningh 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677127.html