EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)

Klaus Vieweg / Michael Winkler (Hrsg.)
Bildung und Freiheit
Ein vergessener Zusammenhang
Paderborn: Schöningh 2012
(248 S.; ISBN 978-3-506-77202-2; 29,90 EUR)
Bildung und Freiheit Der Tagungsband „Bildung und Freiheit – Ein vergessener Zusammenhang“ ist das Ergebnis der internationalen Tagung „Bildung und Freiheit“, welche im September 2010 durch die fachĂŒbergreifende Forschergruppe „Bildung zur Freiheit – Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel“ an der Friedrich-Schiller-UniversitĂ€t in Jena ausgerichtet worden ist. Er versammelt unter drei disziplinĂ€r abgrenzbaren Perspektiven (PĂ€dagogik/Erziehungswissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft – Soziologie – Politikwissenschaft) die BeitrĂ€ge der Tagungsteilnehmer/innen und bietet dadurch einen interdisziplinĂ€ren Zugang zu einem Schwerpunkt des Bildungsdiskurses, der gegenwĂ€rtig nur selten zur Sprache kommt: Es geht um den „weitgehend vergessenen bzw. marginalisierten Zusammenhang der Begriffe Bildung und Freiheit“ (9) und dessen Bedeutung fĂŒr die Erschließung eines modernen Bildungsbegriffes, der sich gegenwĂ€rtig und zukĂŒnftig stellenden Anforderungen genĂŒgen können soll. Die Autoren/innen des Tagungsbandes – Professoren/innen und Dozenten/innen an europĂ€ischen, sĂŒdkoreanischen und US-amerikanischen UniversitĂ€ten – wollen diesem Zusammenhang aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln gerecht werden: Es sollen gehaltvolle Bildungsdebatten eröffnet werden, die einen souverĂ€nen lösungsorientierten Umgang mit Problemfeldern moderner Gesellschaften ermöglichen. DisziplinĂŒbergreifend wird dabei „Hegels elaborierte Bildungstheorie“ (Klappentext) zum Maßstab.

Im grundlegend metaphysischen Zugang des Werkes liegt seine Bedeutung fĂŒr den erziehungswissenschaftlichen Diskurs; denn die Autoren erinnern daran, dass allen Bildungsdebatten ein klar bestimmter, wissenschaftlicher Bildungsbegriff zu Grunde liegen muss, hierbei aber gerade auch aus erziehungswissenschaftlicher Sicht empirische ÜberprĂŒfbarkeit als alleiniges Kriterium von Wissenschaftlichkeit nicht genĂŒgt. Wenn Bildung sinnvoll von Begriffen wie Ausbildung oder Sozialisation abgegrenzt werden soll, so gilt weiterhin, dass sie nicht nur im Sinne einer Vermittlung von Wissensinhalten oder kulturellen Konventionen bestimmt werden darf, sondern dass gleichwertig dem menschlichen Streben nach IndividualitĂ€t, nach (Willens-)Freiheit und Selbsterkenntnis als PhĂ€nomenen menschlicher Entwicklung und Wirklichkeit, Rechnung getragen wird [1]. Die meisten BeitrĂ€ge des Tagungsbandes greifen mithin ein neuhumanistisches BildungsverstĂ€ndnis in dem Sinne auf, dass die Entwicklung des Individuums weder gesellschaftspolitischen noch ökonomischen Interessen untergeordnet werden darf, und kontrastieren es mit gegenwĂ€rtigen Bildungskonzeptionen, die tendenziell als inhaltsleer oder irrefĂŒhrend charakterisiert werden. So fragt Michael Winkler streitbar, ob Bildung momentan nicht eher die Gefahr der „EntmĂŒndigung“ (11ff) in sich berge. Er kritisiert den inflationĂ€ren Gebrauch des Begriffs „Bildung“, der „nur noch einen Diskursmarker“ (15) darstelle, wobei „die hohe semantische Aufladung des Bildungsbegriffes zu seiner eigenen Vernichtung beitrĂ€gt“ (16). Bildung wird nach Winkler zum sozialen Heilsversprechen und zur standardisierten gesellschaftlichen Anforderung an die FunktionalitĂ€t des Einzelnen. Mit der „Reflexion des Subjekts“ (13) habe sie dabei „nichts mehr zu tun“ (13); denn zunehmend werde sie von metaphysischen Einsichten entkoppelt und „an Steuerung und Messung geknĂŒpft, die sich an sogenannten [sic] Standards orientieren“ (13). Was heute unter Bildung verstanden wird, ziele demnach nicht mehr auf freien Willen und Selbsterkenntnis, sondern werde zunehmend zu einem Durchlaufen verschiedener institutionalisierter PrĂŒfungsstufen. Diese Bildung, die in Form von Nachweisen erworben werden kann, werde teilweise zur Ware. Das trage zur Zertifizierung des Menschen bei, ermögliche ihm aber kaum mehr eine souverĂ€ne Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt.

Wiewohl Winklers Analyse der heutigen Bildungssituation stellenweise etwas drastisch wirken mag, legt sie doch ein grundlegendes Problem offen: Werden Lerninhalte zunehmend standardisiert und funktionalisiert oder durch formelle Anforderungen ersetzt, trĂ€gt das unter UmstĂ€nden nicht zur MĂŒndigkeit, sondern zur Uniformierung der Subjekte bei. Unter solchen UmstĂ€nden wird der Lernende kaum zu einer kritischen Distanz gegenĂŒber gegenwĂ€rtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten ermutigt, da er nicht viel mehr als eine Ausbildung erfĂ€hrt, die eine Anpassung an eben jene Gegebenheiten zum Maßstab fĂŒr Gelingen und Scheitern erhebt.

Hans-Peter MĂŒller analysiert diese Dynamiken aus soziologischer Perspektive und bringt das Problem als „Bildung ohne Bildung“ (223) sprachlich auf den Punkt. Dieses Paradox birgt fĂŒr den Bildungssuchenden offensichtlich ein erhebliches Frustrationspotenzial in sich, nicht zuletzt weil Bildung eigentlich, wie sich bei Ralf Beuthan zeigt, im Kern eine Fortentwicklung im Kontrast zum Verfall benennen sollte (101 ff). Auch Reinhard Mehring weist auf die Gefahren fĂŒr das kritische und wissenschaftliche Denken hin, die sich aus einer Überbetonung von Bildung als bloßer Wissensvermittlung ergeben können, hofft aber auf die „kompensatorisch[e]“ Wirkung der „neuhumanistische[n] Vision vom freien Geist“ (41). Dabei verklĂ€rt er das neuhumanistische Bildungsideal keineswegs. Vielmehr zeigt er, dass es zur Definition eines modernen Bildungsbegriffes zwar beitragen, diesem aber nicht genĂŒgen kann. Einem rein „kopflastig[en]“ (39) Bildungsbegriff kann er nichts abgewinnen und betont, dass „die Anforderungen der Berufswelt [heute] auch ein Thema der Schulen sein [mĂŒssen]“ (34). Gleichzeitig mĂŒsse aber auch dem „reflexiven SelbstverstĂ€ndnis des Menschen“ (41) GenĂŒge getan werden. DafĂŒr hĂ€lt Mehring eine kritische RĂŒckbesinnung auf den humanistischen Bildungsbegriff fĂŒr hilfreich.

Claudia Wirsing weist den Verlust an klaren Begrifflichkeiten und eindeutig definierten Inhalten als grundlegendes Problem unserer gegenwĂ€rtigen Gesellschaft aus, „die keine allgemeingĂŒltigen und gesicherten Deutungen mehr aufweist, sondern, in unendlicher Kommunikation erstickt, ein verbindliches SelbstverstĂ€ndnis ihrer Strukturen verhindert“ (52). Die Entleerung des Bildungsbegriffes zeigt sich so als nur ein Aspekt eines soziokulturellen PhĂ€nomens: Des allmĂ€hlichen gesamtgesellschaftlichen Verlusts der Möglichkeit auf wahre Freiheit und MĂŒndigkeit. Dabei ist das mĂŒndige Subjekt Grundlage freiheitlicher demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Johanna Hopfner und Klaus Vieweg weisen mit Hegel darauf hin, dass „die Geltung des Rechts [
] auf dem denkenden Bewusstsein der Menschen selbst [beruht]“ (57) und dass Bildung „in ihrer ‚absoluten Bestimmung‘ [
] der einzig mögliche Weg zur Konstitution der Freiheit [ist]“. Eberhard Eichenhofer und Ingo Richter unterstreichen aus rechtswissenschaftlicher Sicht die Dringlichkeit des Problems, indem sie Bildung zur MĂŒndigkeit als „soziales Menschenrecht“ (165ff) betonen.

Einige weitere BeitrĂ€ge des Tagungsbandes setzen sich nur marginal mit der Problembestimmung von Bildung in ihrer Verkehrung sowie rhetorischen Entleerung auseinander. Die transdisziplinĂ€re Ausrichtung des Werkes geht notwendig mit einer gewissen Themen- und Erkenntnisvielfalt einher. Die erziehungswissenschaftliche Bedeutung von „Bildung und Freiheit – Ein vergessener Zusammenhang“ soll hier aber betont werden; denn die Autoren und Autorinnen nehmen sich mit der Bildung eines Gegenstandes an, der die PĂ€dagogik unbedingt angeht, mit dem sie aber aktuell schwer umzugehen weiß. Eine verwirrende Vielzahl willkĂŒrlicher oder unklarer Bildungsbegriffe bzw. die Entfremdung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses durch den RĂŒckzug auf soziologische Begriffsbestimmungen [2] sind fĂŒr diese Verunsicherung ebenso symptomatisch, wie Tendenzen zu einem verengten „politisch wirksamen kritischen Bildungsbegriff“ [3]. Die Verzahnung des Bildungsbegriffes mit dem Begriff der Freiheit rĂŒckt hinsichtlich dessen einen wichtigen Aspekt in den Vordergrund: Um ĂŒber Bildung sinnvoll sprechen zu können, mĂŒssen wir zum einen ĂŒber einen klaren Bildungsbegriff verfĂŒgen, und diesen zum anderen in einen deutlichen und konsequent erziehungswissenschaftlichen Begriffszusammenhang setzen können. Der These der Autor/innen, dass Bildungsdebatten sich dabei nicht auf Überlegungen zur Wissensvermittlung im Zeichen einer Gesellschafts- und Wirtschaftsoptimierung zurĂŒckziehen dĂŒrfen, sondern vorrangig die Problematik der Menschwerdung behandeln sollten, ist insofern zuzustimmen, als Menschwerdung sich nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch, Ă€sthetisch, im freien Willen begrĂŒndet. Bildung so verstanden kommt ohne das Element des Metaphysischen nicht aus; der Begriff weist ĂŒber den Bereich des klar Messbaren hinaus. Eine VerkĂŒrzung des wissenschaftlichen Zugangs auf eine quantitative Erschließung muss notwendig von einer zufriedenstellenden AnnĂ€herung an den Bildungsbegriff wegfĂŒhren. Ebenso wenig darf allerdings aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive das Problem der „empirischen AnschlussfĂ€higkeit“ [4] vernachlĂ€ssigt werden. Die drĂ€ngende Frage nach der Vereinbarkeit von bildungstheoretischen Überlegungen und empirischer Bildungsforschung wird leider auch im vorliegenden Band wenig diskutiert; hier wĂ€ren weiterfĂŒhrende Überlegungen wĂŒnschenswert gewesen.

Die Autoren/innen tragen ihre Kritik an der Entfremdung des Bildungsbegriffes leidenschaftlich, teilweise polemisch vor. Das PlĂ€doyer fĂŒr eine RĂŒckbesinnung auf die metaphysische PrĂ€gung des Bildungsbegriffes steht dabei deutlich im Vordergrund. Dadurch wird mitunter fĂ€lschlich der Eindruck erweckt, der gegenwĂ€rtige erziehungswissenschaftliche Bildungsdiskurs sei weitestgehend frei von zukunftsweisenden LösungsansĂ€tzen, und quantitative AnsĂ€tze der Bildungsforschung seien vor allem irrefĂŒhrend. In dieser Hinsicht wirkt die Ausrichtung des Werkes nicht ganz ausgewogen. Nichtsdestotrotz ist das PlĂ€doyer vor dem Hintergrund der genannten Dilemmata, welche den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs um Bildung prĂ€gen, nachvollziehbar und die Kritik verdient Gehör. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr könnte einen Beitrag zur Differenzierung der aktuellen Bildungsdebatten leisten.

[1] Vgl. u.a. Grunert, C.: Bildung und Kompetenz – Theoretische und empirische Perspektiven auf außerschulische Handlungsfelder, VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften/Springer VS, Wiesbaden 2012, 28 ff
[2] vgl. Bock, K.: EinwĂŒrfe zum Bildungsbegriff. In: Otto/Rauschenbach (Hrsg.): Die andere Seite der Bildung – Zum VerhĂ€ltnis von formellen und informellen Bildungsprozessen. VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, 91-105, 93
[3] Andresen, S.: Bildungstheoretische Überlegungen im Kontext der Wissensgesellschaft. In: Otto/Rauschenbach (Hrsg.): Die andere Seite der Bildung – Zum VerhĂ€ltnis von formellen und informellen Bildungsprozessen. VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, 133-144, 134
[4] Grunert, C: Bildung und Kompetenz, a.a.O., 12
Katja Grundig de Vazquez (Duisburg-Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Grundig de Vazquez: Rezension von: Vieweg, Klaus / Winkler, Michael (Hg.): Bildung und Freiheit, Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn: Schöningh 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677202.html