EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)

Hans-Christoph Koller / Roland Reichenbach / Norbert Ricken (Hrsg.)
Philosophie des Lehrens
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
(179 S.; ISBN 978-3-506-77587-0; 25,90 EUR)
Philosophie des Lehrens Der vorliegende Sammelband stellt den Versuch dar, das Phänomen des Lehrens erneut zum Gegenstand einer genuin pädagogischen Betrachtung zu machen, die – wie von den Herausgebern vermerkt – durch die Dominanz psychologischer und konstruktivistischer Zugänge zurückgedrängt worden sei. Die versammelten zehn Aufsätze verbindet bei aller Differenz in der Herangehensweise ein bildungs- und erziehungsphilosophisches Erkenntnisinteresse, dessen thematisches Spektrum von der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Lehren und Lernen bis zur Untersuchung der komplexen Beziehungen, die Lehrende und Lernende gleichzeitig trennen und verbinden, reicht. Die meisten der publizierten Beiträge gehen auf eine Tagung der DGfE, die im September 2010 in Hamburg stattgefunden hat, zurück und bringen die Vielfalt der Reflexionsmöglichkeiten zum Thema des Lehrens zum Ausdruck.

Den Sammelband eröffnet ein Beitrag von Lutz Koch, der – indem er seiner an Immanuel Kant orientierten Perspektive treu bleibt – zu zeigen versucht, wie sich eine Theorie des Lehrens in ihren Umrissen entwickeln lässt, die sich am „Wissendmachen des Unwissenden“ (17) und an der Aufgabe einer rationalen Rekonstruktion grundlegender Voraussetzungen des Verhältnisses von Lehren und Lernen orientiert. Der Autor übernimmt dabei die von der Transzendentalphilosophie in einer spezifisch methodischen Deutung bereitgestellten Unterscheidungen zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, Spontaneität und Rezeptivität, sowie zwischen Anschauung und Begriff, um anhand dieser Leitdifferenzen einen „didaktische[n] Doppelimperativ“ (23) zu entwickeln, der das Lehren auf die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand verpflichtet. Der Schluss des Aufsatzes, der sich auf die Lehrperson bezieht, verweist zugleich auf die Grenzen des Zugangs, indem die geforderte „Entzündung des Interesses“ (29) in sich ein Moment des Entzugs enthält, dem in den Beiträgen von Nora Sternfeld und Karl-Josef Pazzini psychoanalytisch beizukommen versucht wird.

Bereits im zweiten Beitrag von Johannes Giesinger wird deutlich, dass die eingangs vorgestellte Grundlegung von Lutz Koch, die das Verhältnis von Lehren und Lernen affirmativ bestimmt, sich dahingehend befragen lassen muss, ob sie nicht allzu selbstgewiss jeden skeptischen Einwand hinsichtlich einer „Unmöglichkeit des Lehrens“ (31) im Ansatz zum Schweigen bringen möchte. In der von Johannes Giesinger anhand der Positionen von Augustinus und Ludwig Wittgenstein dargestellten Dialektik zwischen einer durch Zeichen verunmöglichten Lehre, die auf die Bekanntschaft mit den Dingen in der Lebenswelt zurückverweist und einem Lehren, das die „Initiation in regelgeleitete Praktiken“ (43) voraussetzt, kommt die ganze Problematizität der Beziehung von Lehren und Lernen zum Ausdruck. Bedauerlich ist an dieser Stelle, dass das Potential der angedeuteten Reflexion auf die Differenz von Lehren und Lernen im Rahmen des Aufsatzes nicht weiter vertieft wird.

Roland Reichenbach wählt in seinem Aufsatz wiederum eine andere Perspektive, wenn er die Lehrperson, bzw. die „Personalität des Lehrens“ generell (47) in den Mittelpunkt seines Beitrages stellt. Darin bezieht er sich allerdings nicht auf psychoanalytisch informierte Theorien des Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden, sondern auf den gesellschaftlich induzierten drohenden Verlust des Lehrens angesichts psychologistischer Verengungen einer pädagogischen Tätigkeit, die ihren Sinn zu verlieren droht, wenn der Wille zu lehren sich auf bloße Professionalität zurückzieht. Der Zusammenhang von Wille, Autorität und Sinn dient dem Verfasser insgesamt dazu, eine Alternative zu einem Konzept von Schule, das fast ausschließlich auf „selbstregulierte Lernprozesse“ (63) meint setzen zu müssen, wenigstens in Umrissen anzudeuten.

In seinem Aufsatz zu Martin Wagenschein rekonstruiert anschließend Harald Bierbaum dessen Konzept des genetischen Lehrens, um auf der Grundlage des Verstehens für einen Begriff des Lehrens als Kunst zu argumentieren. Die Einheit der präsentierten Überlegungen findet sich in den drei Prinzipien der exemplarischen Auswahl, des genetischen Zusammenhangs und des sokratischen Gesprächs, deren Ziel die lebendige Hinwendung zur Sache (der naturwissenschaftlichen Erkenntnis), sowie die Reflexion auf die Ich-Welt-Beziehung darstellt.

Hartmut Meyer-Wolters bietet in seinem Beitrag den Versuch die Transformationsprozesse von „geistigem Besitz“ (85) in der Lehre aus phänomenologischer Blickweise darzustellen. Dabei zielt der Verfasser auf der Grundlage von Unterscheidungen wie jener zwischen „geschenktem und erworbenem geistigen Besitz“ (88) darauf, den fundamentalen Widerstreit zwischen jenen, die ihr Wissen weitergeben und jenen, deren Aneignung durch abweichende Interessen stets in Differenz zum Vorhandenen gedacht werden muss, sichtbar und für die Pädagogik handhabbar zu machen.

Die bereits genannten Beiträge von Karl-Josef Pazzini und Nora Sternfeld entfalten auf höchst unterschiedliche Weise eine wesentlich durch die Psychoanalyse informierte Theorie des Lehrens. Während Ersterer vor allem versucht die „Notwendigkeit der Überschreitung“ (111), deren Voraussetzung eine produktiv gewendete Übertragung darstellt, zu verdeutlichen, wird bei Letzterer der Diskurs der Psychoanalyse als Teil einer umfassenderen Perspektive, die sich vor allem dem poststrukturalistischen Theoriekontext verdankt, eingeschrieben. Gemeinsam ist beiden Beiträgen die Differenz im Prozess des Lehrens zu verdichten, um auf diese Weise das sich Entziehende jeder Lehre mindestens theoretisch verstehbar zu machen.

Ebenfalls im Umfeld poststrukturalistischer Theorien bewegt sich Sönke Ahrens, der in seinem Beitrag die Kritik an der traditionellen Vorstellung der Pädagogik von Konzept und Nutzen der Lehre durch Jacques Rancière in durchaus paradoxaler Absicht für die kritisierte Disziplin fruchtbar machen möchte. Diesem Ziel versucht der Autor näher zu kommen, indem er die Differenz zweier Formen der Welterschließung, die er als „Experiment“ und „Exploration“ (136) charakterisiert, mit der Figur des „unwissenden Lehrmeisters“ (Rancière) verbindet. Als Resultat der Überlegungen sei es entscheidend „den Dissens über den Sinn dessen, was gelehrt wird“ (143) in die Lehre einzuführen und das bedeutet auch hier der Differenz zu ihrem Recht zu verhelfen.

Gabriele Weiß und Olaf Sanders wenden sich in ihren den Band abschließenden Aufsätzen auf jeweils unterschiedliche Weise den Problemen der universitären Lehre zu. Während die zuerst genannte Autorin sich an den klassischen Diskursbeiträgen zur Lehre vor allem an Heinrich von Kleist und Wilhelm von Humboldt orientiert, um die Produktivität der freien Rede angesichts der anwesenden Anderen zu analysieren, versucht Letzterer, ausgehend von einem Gespräch, das Claire Parnet unter dem Titel Abécédaire (1988/89) mit Gilles Deleuze geführt hat, anhand der leitenden Konzepte von Inspiration, Bewegung und Mannigfaltigkeit die universitäre Lehre als Ereignis des Neuen zu begreifen.
Insgesamt vermittelt der Band einen durchaus nicht unproblematischen Eindruck der Heterogenität der disziplinären Forschungslandschaft bezüglich der Philosophie des Lehrens. In der Vielfalt der präsentierten Ansätze drückt sich eine unterschiedliche theoretische Durchdringung aus, die dann als problematisch zu bewerten ist, wenn die eigene Theorietradition ungefragt als gültig vorausgesetzt wird. Während die an neueren theoretischen Positionen, wie jener des Poststrukturalismus, orientierten Beiträge sich skeptisch auch gegenüber den eigenen Einsichten präsentieren, geraten traditionelle Zugänge teilweise zu affirmativ – eine Problematik, die bereits Dietrich Benner ausführlich analysiert hat. Der in den poststrukturalistischen Ansätzen implizit enthaltene Relativismus gibt jedoch in der Affirmation der Differenz seinerseits die Intention auf, die Voraussetzungen des Lehrens erkenntniskritisch einzuholen. Insofern wird der Anspruch neuerer pädagogischer Theoriebildung, reflexiv gegenüber den eigenen Annahmen zu sein, hier nur teilweise eingelöst.
Nikolaus Kremen (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nikolaus Kremen: Rezension von: Koller, Hans-Christoph / Reichenbach, Roland / Ricken, Norbert (Hg.): Philosophie des Lehrens. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677587.html