Wer sich überlegt, ob man das Aufwachsen eines Kleinkindes nicht auch als ein Einüben in das In-der-Welt-Sein beschreiben könnte und ob bzw. wie ein solches Üben mit dem späteren Rechnen-Üben in der Schule und dieses wiederum mit dem Üben einer Theaterrolle außerhalb der Schule etwas zu tun haben könnten, dem erschließt sich die pädagogische Relevanz der von Malte Brinkmann vorgelegten Studie unmittelbar: Lernprozesse sind häufig nicht von einem tätigen (Ein-, Aus- und Um-)Üben zu trennen und sie begleiten uns ein Leben lang. Eine Theorie der Übung zu formulieren, die die Vielzahl solcher Phänomene berücksichtigt und dabei einen (pädagogischen) Zugang zu deren sehr unterschiedlichen Dimensionen formulieren kann, ist der selbstgesetzte Anspruch dieser umfangreichen Studie.
Mit der Monographie über die „Pädagogische Übung“ als einer „elementaren Lernform“ systematisiert Malte Brinkmann dabei noch einmal seine bisherigen Bemühungen darum, phänomenologische Perspektiven der Erziehungswissenschaft zum einen zu entwickeln und zum anderen zu bündeln [1].
Die zehn Kapitel der umfassend angelegten Arbeit schließen dazu in vier Teilen sowohl an ‚klassische‘, phänomenologisch verortete Autoren (u. a. Husserl, Merleau-Ponty, Fink) wie auch an poststrukturalistische (Foucault), dekonstruktive (Derrida) oder praxeologische (Bourdieu) Überlegungen an. Sie verfolgen darüber hinaus Motive des Übens und didaktische Überlegungen in der antiken, christlichen und reformpädagogischen Geschichte (Teil III) und entwerfen zuletzt eine allgemeine Didaktik der Übung (Teil IV).
Im Teil I zum „Phänomen und Diskurs“ des Übens kommt es Brinkmann zunächst darauf an, das Üben überhaupt als Phänomen in den Blick zu bringen (erstes Kapitel). Zehn Thesen fassen den Überblick der aufgerufenen und in den folgenden Kapiteln ausgearbeiteten Aspekte zusammen (vgl. 37ff) und profilieren anschließend die Spezifik und den anvisierten Beitrag seiner phänomenologischen Untersuchungsperspektive für die pädagogische Theoriebildung (vgl. 42ff).
Das zweite Kapitel stellt die von Brinkmann gesichteten „Diskurse der Übung“ vor und nimmt das Fazit des Autors vorweg: „Die diskursanalytische Rekonstruktion der Modelle der Übung macht deutlich, dass der psychologische und pädagogische Diskurs zur Übung zwischen Objektivierung, Optimierung und Isolierung einerseits und der pathetischen Beschwörung von Kreativität und Ganzheit andererseits oszilliert“ (63). Den Lesenden bietet dieses Kapitel zum einen die Darstellung des Forschungsstandes. Zum anderen lässt sich im Durchgang durch die verschiedenen Modelle und Didaktiken des Übens (bspw. von Behaviorismus, Assoziations-, Gestalt- und Kognitionspsychologie, Expertise- und Hirnforschung, Kreativitäts- und Kompetenzforschung) auch das differenzierte Abgrenzungs- und Anregungspotenzial für eine Theorie und Didaktik der Übung erschließen, auf das Brinkmann nachfolgend zurückgreift.
Teil II formuliert die für das Üben als zentral angesehenen Dimensionen Leiblichkeit, Macht und Zeitlichkeit in ihrer phänomenologisch-anthropologischen Rahmung aus. Die wichtigsten Strukturmerkmale des Übens werden an der „Leiblichkeit des Übens“ (drittes Kapitel) – eindrücklich an dem Beispiel des Sich-Anfreundens mit dem Computer (vgl. 197ff) – verdeutlicht: u. a. das In-der-Welt-Sein unter Bedingungen von Räumlichkeit, Dinglichkeit und des Mit-anderen-Seins; dessen „heterosomatische“, schmerzhafte, pathische Struktur; die im „Körperschema“ (Merleau-Ponty) bzw. in der „Verkörperung“ (Plessner) inkarnierte und habitualisierte Einheit von Motorik, Sensorik und Denken.
Spiel, Arbeit, Technik, Schule und Wissenschaft werden von daher im vierten Kapitel als leiblich-koexistenziale Praxen der Selbstsorge (Fink) auch in ihrer machtanalytischen Ambivalenz zwischen Selbstführung und Selbstformung sichtbar (mit Foucault und Bourdieu): als ‚praktizierter‘ ordnungsbildend-sozialer und sinnstiftend-kultureller Raum bspw. von Normalisierung und Individualisierung oder von Disziplinierung und Freiheit.
Die „Zeit des Übens“ (fünftes Kapitel) schließlich muss als eine der temporalen Differenzen verstanden werden, in der die Wiederholung als performative Variation (Derrida, vgl. 187ff), d. h. als „analogische Wiederkehr eines Ungleichen als eines Gleichen“ (Waldenfels)“ (253) zu denken ist. Anstelle eines (mit Kant und L. Koch) in der Stufenfolge des Lernens linear-teleologisch zu verbessernden Selbst zeigt die „Archäologie des Zeitbewusstseins“ (mit Husserl und Fink, vgl. 276ff) einen neuen Ausgangspunkt für Lerntheorien und Didaktiken auf, die die Verschränkung von Zeithorizonten, von Habitualität und Unterbrechung, von Selbst und Anderem, von Erinnerungen und Erwartungen, von Leiblichkeit und Reflexivität einbeziehen.
Eine machttheoretisch justierte „Genealogie der Übung“, d. h. die Rekonstruktion ihrer „historischen Tiefenstrukturen“ und Praxen, wird in Teil III anhand dreier auf unterschiedliche Zeitabschnitte bezogenen „Technologien“ vorgelegt. Das sechste Kapitel fasst hierfür die unterschiedlichen antiken Lern- und Übungsmodelle der periagoge (Platon) und epagoge (Aristoteles) als ethische Technologien der „Selbstsorge“ und arbeitet an ihnen „Grundstrukturen des Lernens und Übens“ (303) heraus. Die „Transformationen der antiken Übungspraktiken im Christentum“ (323) werden im siebenten Kapitel an den „Geistlichen Übungen“ (Exerzitien) des Ignatius von Loyola als Technologie der „Selbstüberwindung“ untersucht im Hinblick auf ihr didaktisches Programm als christlich-pastorales „Machtmodell im Modus der Sorge und Hilfe“ (301). Als pastorale und biopolitische Technologie des „Selbstlernens“ wird im achten Kapitel die Pädagogik Maria Montessoris mit dem Ergebnis analysiert, dass sich ihre (durch polarisierende Fürsorge der Erziehenden und durch Kontrolle des Materials disziplinierende) Praxis der Übung nur als sozialdisziplinierende Normalisierungsprozedur lesen lässt. Strittig mag deshalb bleiben, ob die auf Montessori angelegte machttheoretisch-gouvernementale Perspektive tatsächlich in gleicher Weise auf die Ambivalenz von „Unterwerfung“ und „Gegen-Verhalten“ (Freiheit, Kritik und Widerstand) zielt.
Der vergleichsweise kurz gehaltene Teil IV (379-407) versteht sich als „Ausblick auf eine Didaktik der Übung“, in der didaktische Operationalisierungen im Hinblick auf eine „Anthropologie“ (388) bzw. „Theorie elementaren, leiblich strukturierten Urteilens“ (57) (neuntes Kapitel) und auf Umkehrungen, Grundsätze, Thesen und Technologien einer „differenziellen“ „Didaktik der Übung“ (zehntes Kapitel) umrissen werden.
Ziel der Studie Malte Brinkmanns ist es, das Üben als komplexes und ambivalentes Phänomen auszuweisen. Es wird deshalb innerhalb von Differenzen aufgespannt: Die pädagogische Differenz lässt es zwischen den individuellen Vollzügen des Übens und der pädagogisch inszenierten Übung beschreibbar werden (vgl. 15); die phänomenologische Differenz bringt seine Aspekte zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Wissen und Können zur Geltung (vgl. 16). Die anthropologische Differenz lässt es „als elementare Form des Weltzugangs“ (27) und (machtvolle) Weise der Selbstführung gleichermaßen sichtbar werden. Die temporale Differenz der erinnernden Wiederholung birgt einen nicht linear zu überbrückenden Widerstreit zwischen Können / Wissen und Nicht-Können / Nicht-Wissen (vgl. 28, 296). In der pastoralen Differenz kommt die normalisierende, disziplinierende Fremd-Führung des Erziehenden mit der widerständigen Freiheit des Übenden überein (vgl. 40); die signifikative Differenz verweist über das sichtbare Etwas-als-etwas hinaus auf das Vor- und Mehrwissen (vgl. 166).
Die solcherart erzeugte „differenzielle und differenzsensible Perspektive“ (223) – in der Ergänzung der Rezeptionslinien der zitierten Autoren unterschiedlicher Prägung sowie unterfüttert mit phänomenologischen Analysen und Beispielen – plausibilisiert die auf diese Weise erzielten Perspektivenüberschneidungen und -verschränkungen.
In der Komplexität und Vielzahl der aufgenommenen und aufeinander bezogenen Aspekte und Denkweisen des Übens ist die von Malte Brinkmann vorgelegte phänomenologische Theorie des Übens eher nicht für eine einführende Lektüre gedacht. Die über intertextuelle Verweise und in immer wieder neu vorgenommenen, einleitenden wie zusammenfassenden Gliederungen erzeugten Überschneidungen und Überkreuzungen von Themen und forschungsmethodischen Perspektiven sprechen eher für eine Grundlagenforschung, die auch den Lesenden eine Neustrukturierung ihres Zugangs abverlangt. Anzufragen wäre zum einen, ob die unterschiedlichen Differenzen und Perspektiven – hermeneutische, phänomenologische, anthropologische – dabei immer hinreichend trennscharf voneinander an- bzw. abgesetzt werden (können).
Zum anderen überzeugen aber die Reichhaltigkeit der Studie, die vielfältigen Bezüge und Verflechtungen zwischen anthropologischen, phänomenologischen und machtanalytischen Forschungen sowie die durchgehend auf dem aktuellen Stand der Forschung geführte Argumentation. Auch wenn die eigene Linienführung vielleicht durch Straffungen noch etwas deutlicher hätte profiliert werden können: Dem Anspruch, in der Aufarbeitung aktueller und historischer Diskurse für weiterführende pädagogische Anschlüsse an phänomenologische Perspektiven umfangreiches Material vorzulegen und so das Üben in seiner Komplexität pädagogisch und didaktisch zugänglich zu machen, wird die Studie überaus gerecht.
[1] Vgl. dazu die Besprechung: Naumann, A. / Thompson, Chr.: Rezension von: Brinkmann, M. (Hrsg.): Erziehung, Phänomenologische Perspektiven. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382604257.html
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
Pädagogische Übung
Praxis und Theorie einer elementaren Lernform
Paderborn: Schöningh 2012
(440 S.; ISBN 978-3-506-77630-3; 49,90 EUR)
Sabrina Schenk (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schenk: Rezension von: Brinkmann, Malte: Pädagogische Ãœbung, Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Paderborn: Schöningh 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677630.html
Sabrina Schenk: Rezension von: Brinkmann, Malte: Pädagogische Ãœbung, Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Paderborn: Schöningh 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677630.html