EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)

Annika Blichmann
Erziehung als Wissenschaft
Ovide Decroly und sein Weg vom Arzt zum PĂ€dagogen
Paderborn: Schöningh 2014
(237 S.; ISBN 978-3-5067-7779-9; 34,90 EUR)
Erziehung als Wissenschaft Annika Blichmanns Monographie zum Leben und Werk des belgischen Arztes und PĂ€dagogen Ovide Decroly (1871–1932) ist nicht ihre erste Veröffentlichung zu diesem Thema. Eine einige Jahre andauernde Auseinandersetzung mit dem „im deutschen Sprachgebiet weitestgehend vergessen[en]“ (Klappentext) Wissenschaftler lĂ€sst also auf eine sachkundige und „kritische“ (ebd.) Auseinandersetzung hoffen. Die Autorin tut gut daran, Leben und Werk Decrolys nicht Maria Montessoris vergleichend gegenĂŒberzustellen, so auffĂ€llig die Parallelen zunĂ€chst erscheinen. DafĂŒr sprechen v. a. zwei Argumente: erstens, das Fehlen einer nicht-tendenziösen Biographie Montessoris und zweitens, der große Schatten der „Dotoressa“ im pĂ€dagogischen Diskurs, dem die Autorin durch ein dezidiert personengeschichtliches Vorgehen entgeht.

Stattdessen fokussiert Blichmann konsequent auf das „Lebenswerk [Decrolys] und dem darin enthaltenen experimentellen Erziehungsansatz“ (13) – wohlgemerkt mit dem Anspruch, dessen „erheblich[en] [Beitrag] zum grundlegenden VerstĂ€ndnis einer Erziehung als Wissenschaft“ (ebd.) herauszustellen. Jeder der vier Hauptteile der Arbeit widmet sich einem Lebensabschnitt Decrolys. Die Einordnung Decrolys Werk in Röhrs Phasenmodell der ReformpĂ€dagogik lehnt Blichmann ab, möchte diesen aber dennoch als ReformpĂ€dagogen verstanden wissen (14, 196).

Methodisch wendet sie sich in ihrer Analyse vorwiegend der PrimĂ€rliteratur Decrolys (aber auch dessen entwickelten Materials und seiner Lehrfilme) zu mit dem Ziel einer bewussten Positionierung zwischen „hagiographischen Schilderungen durch Dercrolys Nachfahren und SchĂŒlerschaft“ (15) und der „teilweise ĂŒberkritisch[en]“ Darstellung Depaepes, Simons und Van Gorps (27). Die StĂ€rke der Arbeit liegt in der Erschließung archivierten und bisher unveröffentlichten Materials, in diversen durchgefĂŒhrten Interviews sowie im Einbezug und der Übersetzung ĂŒberwiegend französischer Literatur, was eine von der SekundĂ€rliteratur unabhĂ€ngige BeschĂ€ftigung mit Decroly und dessen Werk ermöglicht.

Der inhaltliche Teil beginnt mit einer knappen Beschreibung des öffentlichen Bildungswesens Belgiens von der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende. Die Aussagen, die Industrialisierung habe mitdenkende Arbeiter gefordert (eine Äußerung Decrolys, wie an spĂ€terer Stelle klar wird, 66) und „eine Bildung ohne Erziehung [sei] unfruchtbar“ (35), bleiben unkommentiert. Eine VerhĂ€ltnisbestimmung von Bildung und Erziehung sowie die Thematisierung Decrolys funktionalistischen ErziehungsverstĂ€ndnisses scheinen an dieser Stelle dringend notwendig.

Es folgt eine Beschreibung des Bildungsgangs Decrolys. Dem Widerstand gegen die „autoritĂ€re Erziehung der Schule“ (39) steht das Interesse an Naturwissenschaften und psychologischen Experimenten gegenĂŒber, sodass sich Decroly nach dem Schulabschluss fĂŒr ein Studium der Medizin an der UniversitĂ€t Gent entschließt. Durch ein Reisestipendium gelangt er nach Berlin und Paris. Die dortigen Einblicke und seine anschließende TĂ€tigkeit in der Neurologie und Neuropathologie fĂŒhren ihn schließlich zur Erforschung „anormaler“ Entwicklung von Kindern.

Die Gewahrspersonen, auf deren Vorarbeiten Decroly seine Forschung stĂŒtzt, sind Itard und dessen SchĂŒler SĂ©guin sowie Binet und Simon. Die BezĂŒge zu o. g. Personen geben bereits einen Hinweis darauf, mit welchem Blick und Interesse Decroly der Entwicklung des Kindes nĂ€her kommt. Ein naturwissenschaftlich-statistisches Vorgehen im Anschluss an die experimentelle Psychologie sei demnach als einziges geeignet, verlĂ€ssliche Aussagen ĂŒber die kindliche Entwicklung zu liefern. Im Zuge dessen kommt er zu einer Deutung des Wissenschaftsbegriffs, der nicht-empirischen Methoden die Wissenschaftlichkeit in toto abspricht (49).

Mit Decrolys Perspektive verbunden ist die Erarbeitung eines Modells normaler Entwicklung. In diesem gibt es eine Korrespondenz zwischen dem erreichten Lebensalter und der kognitiven Entwicklung, fĂŒr deren Diagnose Decroly ein bemerkenswert differenziertes Test-Instrumentarium entwickelt (92ff). Mit der voranschreitenden Entwicklung wĂŒrden sich nicht nur kognitive FĂ€higkeiten, sondern auch die GrundbedĂŒrfnisse und Interessen des Kindes verĂ€ndern. Auf Basis dieses Entwicklungsbegriffs fordert Decroly die grĂŒndliche Reformation des Schulwesens.

In einer auf Experiment und Erfahrung beruhenden Auseinandersetzung mit der Umwelt soll das im Kind vorhandene Interesse ĂŒber den didaktischen Dreischritt ‚Beobachtung, Assoziationen und Ausdruck‘ in bildende Momente ĂŒberfĂŒhrt werden. Die bisherigen SchulfĂ€cher sollen dem rĂ€umlich und zeitlich offenen Lebensraum (auch außerhalb der SchulgebĂ€ude) weichen. Der Zweck der Schule hingegen scheint dem Primat des Interesses in Teilen zu widersprechen: sie soll zur SelbstĂ€ndigkeit, MoralitĂ€t, der FĂ€higkeit zur FĂŒhrung der eigenen Familie und zum staatsbĂŒrgerlichen Bewusstsein fĂŒhren (114). Decroly kreiert so den Entwurf einer Schule pour la vie par la vie, die ihre Legitimation aus der Natur und dem Leben erfĂ€hrt und eine Melange aus vorwiegend bereits existenten Elementen der Wahrnehmungspsychologie, ReformpĂ€dagogik, experimentellen Didaktik und Arbeitsschule bildet. Die Prinzipien der Methode Decroly werden zunĂ€chst in dessen Institut d’enseignement spĂ©cial (1901) und der Ecole de l‘Emeritage (1907) bzw. Villa Montana (1927) entwickelt und im Zuge der gesetzlichen Verankerung des Plan d’Etude (1936) mit EinschrĂ€nkungen im gesamten belgischen Elementarschulsystem verbreitet (134, 197).

Im abschließenden Teil zeigt Blichmann auf, wie sich Rezeption und Vernetzung Decrolys im internationalen Diskurs sowie die Verbreitung von Schulen nach dessen Konzept darstellen. DarĂŒber hinaus bemĂŒht sie sich um eine Neubeschreibung der Person Decroly anhand der Darstellung seiner Ämter und seines Privatlebens (198ff). Im Ausblick formuliert die Autorin mögliche Desiderate: vergleichende Studien mit den pĂ€dagogischen EntwĂŒrfen von Decrolys Zeitgenossen, die Rezeption Decrolys in der deutschen Psychologie, GrĂŒnde fĂŒr die regional unterschiedliche Verbreitung des Schulmodells (220f).

Annika Blichmann ermöglicht dank der umfassenden Quellenarbeit tiefe Einblicke in Leben, Werk- und WirkungszusammenhĂ€nge Ovide Decrolys. Allein: dessen VerstĂ€ndnis von Erziehung als Wissenschaft – und das ist nun mal der Titel der Arbeit – hĂ€tte einer deutlichen wissenschaftstheoretischen Einordnung bedurft. Es entsteht an mehreren Stellen der Verdacht, dass die kritische Distanz zum Gegenstand verloren geht, etwa wenn vom „Prozess der Verwissenschaftlichung der Erziehung“ (60) die Rede ist und durch eine fehlende Relativierung oder Konjunktivierung der Eindruck entsteht, Decrolys WissenschaftsverstĂ€ndnis sei allgemeingĂŒltig und die PĂ€dagogik habe ihren Status als Wissenschaft erst durch den Einsatz empirisch-experimenteller Studien gewonnen. Den Nachweis, dass es sich bei Decrolys VerstĂ€ndnis von Erziehung und Bildung um „einen bedeutenden Beitrag im pluralen Spektrum der Erziehungswissenschaft“ (11) handelt, bleibt Blichmann letztlich schuldig. Mehr noch: es ergeben sich aus bildungstheoretischer Perspektive einige WidersprĂŒche, die durchweg unbeleuchtet bleiben, aber in ihrer Problemverhaftung mindestens benannt werden mĂŒssten: Decrolys Modell ist zweifelsohne empiristisch und normalisierend ausgestaltet und damit u. a. fĂŒr eine sich gegenĂŒber kritischen EinwĂ€nden immunisierende Entfaltung von Biomacht empfĂ€nglich. Trotz der naturalistisch-sensualistischen AusprĂ€gung und dem damit verbundenen Anspruch der wissenschaftlichen Verbindlichkeit ist die PĂ€dagogik Decrolys verschrĂ€nkt mit esoterischen Elementen, etwa durch den Einsatz von Eurythmie (82) oder einer kosmisch-ganzheitlichen Denkweise (100, 156). Auch mit Blick auf das Telos bleibt offen, wie die Kindzentrierung und das Ziel der Formung der Kinder fĂŒr die Gesellschaft (78, 146) in Vereinbarung gebracht werden können.

Das BeifĂŒgen der in der eingereichten Dissertation noch vorhandenen Bibliographie hĂ€tte eine unabhĂ€ngige ÜberprĂŒfung all dessen erleichtert und zweifelsohne eine Bereicherung fĂŒr die Veröffentlichung dargestellt. Die Arbeit fĂ€llt somit hinter ihre selbst geweckten Erwartungen zurĂŒck. Das ist deswegen bedauerlich, weil es sich, sieht man von den genannten Punkten ab, um eine personengeschichtlich lesenswerte Studie auf der Basis profunder Kenntnisse handelt. Es besteht die Hoffnung, dass die Autorin in kommenden Arbeiten ihre Expertise im Sinne tatsĂ€chlich kritischer EinwĂ€nde nutzt.

Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der Gestaltung des Buches vermehrt orthographische und grammatikalische Fehler auffallen. In den Fußnoten sowie im Literaturverzeichnis sind einige Angaben unvollstĂ€ndig, die zahlreich verwendeten Internetquellen wurden von 2011 bis zur Drucklegung nicht ĂŒberprĂŒft. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Sorgfalt hinsichtlich der formalen Gestaltung und des Lektorats verlagsseitig vernachlĂ€ssigt wurde.
Marc Fabian Buck (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marc Fabian Buck: Rezension von: Blichmann, Annika: Erziehung als Wissenschaft, Ovide Decroly und sein Weg vom Arzt zum PĂ€dagogen. Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677779.html