Der Titel des Sammelbands gibt auf den ersten Blick wenig Aufschluss darüber, was hier im Einzelnen verhandelt wird. Ganz entgegen des Eindrucks eines randständigen Spezialgebiets sucht der Band jedoch entlang von zehn Beiträgen auf neue Weise den Grundproblemen und Begründungsstrategien der Pädagogik auf die Spur zu kommen. Im Fokus stehen also zentrale Fragen pädagogischen Nachdenkens, die traditionell unter den Begriffen eines pädagogischen Verhältnisses, pädagogischer Autorität oder Zielbestimmungen diskutiert wurden. Wenn im vorliegenden Band zur Bearbeitung und Neuformulierung solcher Fragen auf Argumentationszusammenhänge aus der jüngeren politischen (Sozial-)Philosophie zurückgegriffen wird, so geschieht dies, um insbesondere zwei Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Beide lassen sich als Konsequenz aus der seit den 1980er Jahren zu verzeichnenden Krise hinsichtlich des Allgemeinen der „Allgemeinen Pädagogik“ festhalten: Zum einen kann sich die qualifizierende Bestimmung und Legitimation des Pädagogischen nicht auf eine unumstrittene Größe beziehen, die sich den konfligierenden Konzeptionen von Erziehung und Bildung als verbindendes Prinzip überordnen ließe. Vielmehr zeigt sich – und dies verweist auf den zweiten Aspekt –, dass die Beanspruchungen solcher Bezugspunkte (wie Vernunft, Individualität, Freiheit) auf vielfältige Weise mit den Begründungsfiguren und Selbstbeschreibungen sozialer Ordnungen verwoben sind. Sofern für diese Ordnungen in der Moderne gilt, dass sie sich entlang von kontingenten Mehrheits- und Machtverhältnissen legitimieren (müssen), stellt sich das Problem der Macht auch für die Begründungen der Pädagogik. Der Hegemoniebegriff wie auch der Gedanke einer Autorisierung, die weniger auf letzten, ‚vernünftig‘ überzeugenden Gründen beruht als vielmehr auf Verführung und Formierung der Leidenschaften, zielen auf eben diesen Zusammenhang und werden von den Beiträgen in unterschiedlicher Weise als analytische Konzepte auf Spannungsfelder von Pädagogik und Gesellschaft bezogen.
In der eröffnenden Einleitung arbeitet Alfred Schäfer die den Band prägende ‚postfundationale‘ Perspektive heraus (vgl. dazu Hetzel, 29), für die jene Frage nach Begründung nicht in erster Linie auf theoretische Legitimationserfordernisse, sondern auf die Dimension des Politischen verweist. So führt Schäfer vor, dass die vielfältigen Beanspruchungen von ‚Rationalität‘ in der Moderne die subjektiven Selbstverhältnisse, die soziale Ordnung und deren Zusammenhang gerade nicht derart zu orientieren vermocht haben, dass ‚Rationalität‘ die Funktion eines neues Fundaments übernommen hätte. Vielmehr kann Schäfer zeigen, wie Rationalität „zu einem zentralen Signifikanten (wird), dem kein (…) Signifikat mehr entsprechen zu können scheint.“ (8) Statt also die Vernunft der Subjekte und deren Bedingungen unstrittig feststellen oder den Maßstab für die Vernünftigkeit sozialer Ordnungen jenseits konkurrierender Ordnungsvorstellungen angeben zu können, spannt der Bezugspunkt ‚Rationalität‘ ein offenes „Feld der Begründbarkeit“ (ebd.) auf. An die Stelle der Letztbegründung tritt damit eine Produktivität und Heterogenität machtförmiger Beanspruchungen des ‚Vernünftigen‘, in die sich auch das Pädagogische verwickele (13). Deutlich wird, dass das Verhältnis von Pädagogischem und Politischem einer genaueren Bestimmung wie auch analytischer Aufmerksamkeit bedarf, wozu der Band einen wichtigen Beitrag zu leisten verspricht.
Andreas Hetzel geht der Frage nach dem Verhältnis von Ethischem und Politischem nach. Damit ist eine Problemstellung aufgenommen, die sich im Hinblick auf hegemonietheoretische Einordnungen von Begründungsfragen mit einer besonderen Dringlichkeit stellt. Schließlich ist der Verweis darauf, dass auch ethische Orientierungen nicht den Machtlogiken des Politischen enthoben sind, sondern ihre Geltungskraft erst innerhalb dieser generieren können, als radikaler Relativismus lesbar. Entlang der Diskussionen des Denkens von Ernesto Laclau zeigt Hetzel, dass dieser nicht nur als Skeptiker „gegenüber der Ethik als akademischer Disziplin und gesellschaftlichem Akteur“ (25) argumentiert, sondern selbst Perspektiven für eine „postfundationalistische Ethik“ (28) entwickelt. Wenngleich die von Hetzel vorgeschlagene Differenz von ethischen und politischen Subjekten (30) als eine Setzung erscheint, die eingehender zu diskutieren wäre, überzeugen Hetzels Ausführungen dadurch, dass er die Denkweise Laclaus in mehrere Richtungen illustriert und kontextualisiert. Sehr erhellend ist, wie Hetzel – aus einem Motiv negativer Theologie – Laclaus Perspektive auf die Erfahrung „unbedingter Ansprüche“ (33) entwickelt, um dessen Argumentationslinie gerade diesseits der Dichotomie von „deontischem Universalismus und postmodernem Relativismus“ (ebd.) verorten zu können.
Alfred Schäfer fokussiert in seinem Beitrag die Begründungsprobleme der Ansprüche und Funktionsbestimmungen schulischer Prozesse, die sich als Verwerfungen und Auseinandersetzungen in den praktischen Vollzügen der Schule zeigen. Schule wird auf diese Weise als politischer Raum beschreibbar. Der Kern des Beitrags liegt diesbezüglich in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der pädagogischen und bildungstheoretischen Rhetorik zu dieser politischen Dimension. Sofern insbesondere geisteswissenschaftliche und reformpädagogische Inszenierungen pädagogischen Gelingens selbst als „Bestandteil in der sozio-symbolischen Ordnung der Schule“ (81) fungieren, müssen diese Begründungsformen der Pädagogik als politische Autorisierungsgesten verstanden werden. Damit wird die Problematik von ‚Pädagogisierungsstrategien‘ deutlich, die in der Verdrängung der konstitutiven politischen Dimension besteht. Dass gegenüber solchen Gelingensversprechen das Denken des Pädagogischen auch als „Öffnungsbewegung … hin auf den Raum des Politischen“ (ebd.) einsetzen kann, zeigt Schäfer durch den Verweis auf solche Theoriestrategien des Erziehungs- und Bildungsdenkens, die gerade deren unmögliche Übersetzung in eine soziale Ordnung betonen. Es ist dieser zweite Blick, der dem Beitrag seine systematische Pointe verleiht, wenngleich diese in ihrer Konsequenz nur angedeutet wird: Die hier entwickelte Analyse der politischen Dimension der Pädagogik nimmt eben nicht allein die Strategien einer entpolitisierenden Pädagogisierung in den Blick, sondern lässt ihrerseits die Qualifizierung des Pädagogischen inmitten des Politischen möglich werden.
In den Auseinandersetzungen von Daniel Krenz-Dewe und Paul Mecheril und dem Beitrag von Thomas Bedorf wird die Bedeutung ‚verführender‘ und ‚verkennender‘ Anerkennung im Hinblick auf die Autorität pädagogischer Akteure herausgearbeitet. Während Krenz-Dewe und Mecheril überzeugend die Wirkungsformen und destruktiven Aspekte der Autorisierung entlang von ‚Einsicht‘, ‚Charisma‘ und ‚Zwang‘ (51ff) diskutieren, bleiben die Ausführungen Bedorfs überraschend blass. Dabei liegt dies nicht an Bedorfs „fehlender pädagogischer Kompetenz“ (161), die der Autor eingangs einräumt, sondern an der unterkomplexen Darstellungsweise des – für sich genommen überaus anregenden – Gedankens notwendig verkennender Anerkennung (167). Wenn von einer nach Anerkennung begehrenden „Ausgangsidentität“ (168) oder dem Problem, dass „der Andere nie als er selbst“ (167) anerkannt werde, gesprochen wird, so scheint dies gerade entgegen der Argumentationsrichtung zur Reifizierung von intentionalen und authentischen Subjekten zu tendieren.
Sowohl Tobias Nikolaus Klass als auch Sönke Ahrens und Michael Wimmer beziehen sich im Hinblick auf ein weiterführendes Verständnis von Emanzipation auf Jacques Rancière. In einem sehr instruktiven Beitrag erläutert Klass die Entstehungskontexte des mitunter selektiv rezipierten Buches „Der unwissende Lehrmeister“ und korrigiert so das Missverständnis, dass es Rancière darin um einen „Vorschlag zur Neugestaltung des Schulsystems oder auch nur des pädagogischen Verhältnisses“ (117) gehe. In der von Ahrens und Wimmer verfassten eindrücklichen Kritik an – nicht allein pädagogischen – Partizipationsdiskursen steht Rancière hingegen weniger im Vorder- als vielmehr im Hintergrund: Dessen politische Perspektive auf eine – im mehrfachen Sinne – „geteilte Welt“ (177) ist hier die Kontrastfolie des als „Problemlösungsformel“ (176) und Steuerungsform (186) fungierenden Begriffs der Partizipation. Am Beispiel der ‚partizipativen Entwicklungshilfe‘ zeigen die Autoren, wie das Versprechen ‚Partizipation‘ gegenüber der Wahrnehmung von Dissensen immunisiert und in der paradoxalen Logik einer „Double-Bind-Situation“ destruktive Effekte zeitigt.
Christiane Thompson setzt sich mit dem Anspruch und den Verfahren der ‚Evidenzorientierung‘ in der erziehungswissenschaftlichen Forschung auseinander und fokussiert den paradoxen Grundzug der Evidenzorientierung: ‚Evidenz‘ transportiert einerseits die Vorstellung einer unmittelbaren Selbstverständlichkeit bzw. offenkundigen Wahrheit; andererseits muss sie als Eindruck von Gewissheit und Relevanz im Kontext des Spannungsverhältnisses von vielfältigen Forschungszugängen erst hergestellt werden. Indem deutlich wird, dass ‚Evidenz‘ mehrfach „übersetzt“ werden muss (104), gelingt Thompson eine Form des kritischen Einspruchs, der nicht im Namen einer besseren Konzeption von Wissenschaft spricht, sondern dem Schein logischer Stringenz und Notwendigkeit des Evidenzkonzeptes den Boden unter den Füßen wegzieht. Ihr Beitrag ist damit ein eindrucksvoller Beleg für die analytische Schärfe der hegemonietheoretischen Perspektive auf die Praktiken der Autorisierung.
Ralf Mayer wendet sich in seinen Auseinandersetzungen theoretischen Konzepten zu, mit denen die Zustimmung und Selbstverständlichkeit kapitalistischer Vergesellschaftungsformen zu fassen gesucht werden. Im Vordergrund des äußerst lehrreichen (wenngleich zunächst etwas unübersichtlichen) Beitrags steht hierbei zum einen die von Max Weber stammende und von Boltanski und Chiapello aktualisierte Analyse eines ‚Geists‘ des Kapitalismus. Mayer zeigt, wie die Denkfigur des Geistes in der Logik von Idealtypen nicht aufgeht und fasst diese als Folie uneindeutiger Subjektivierungsformen. Zum anderen rekonstruiert er die im 17. Jahrhundert insbesondere in den Staatstheorien einsetzende Bezugnahme auf individuelle ‚Interessen‘ und ‚Leidenschaften‘, die zunehmend als unhintergehbarer Ansatzpunkt des Regierungshandelns begriffen werden. Deutlich wird so, wie das Interessenkonzept als strategische Modellierung und als normativer Einsatz zu begreifen ist, der den Selbstverhältnissen eine „ökonomische Form“ (156) als Strukturmoment zu- und vorschreibt. Mayer leistet auf diese Weise einen Beitrag zu einer hegemonie- und subjektivierungstheoretischen Kapitalismuskritik, die als solche nicht mehr vom Primat der Ökonomie, sondern vom Politischen ausgeht.
Konsequent für einen Band, in dem die Annahme von Letztbegründungen systematisch eingeklammert wird, setzt sich der abschließende Beitrag von Gerhard Gamm mit der Möglichkeit des ‚Anfangens‘ auseinander. In der Absicht der Klärung einiger Grundbegriffe und Herangehensweisen einer „sur-realistischen Sozialphilosophie“ (217) betont Gamm die Medialität des Anfangens. Anfangen wird als etwas verständlich, wovon unter je spezifischen Bedingungen ‚Gebrauch‘ gemacht wird und das daher immer als Anfang „mittendrin“ (202) zu begreifen ist. Die Überlegungen Gamms sind gleichsam als Explikation der in vielen Beiträgen geteilten Auffassung vom Sozialen als einem praktischen Geschehen lesbar. Mit dem ‚Anfangen‘ fokussiert er zudem einen Gegenstand, in dem sich „alle Ambivalenzen der modernen Gesellschaft“ – und das meint insbesondere die Fragen nach Selbstbestimmung im Horizont von unmöglichen und zugleich hegemonialen Schließungen des Sozialen – „wie in einem Brennglas“ (227) bündeln.
Zusammenfassend handelt es sich bei dem Sammelband um eine anspruchsvolle wie überaus anregende Verbindung aus verschiedenen Perspektiven auf die Politizität des Sozialen und des Pädagogischen. Indem die Auseinandersetzungen an unterschiedlichen Aspekten des Ringens um Hegemonie und Autorisierung ansetzen, werden die Möglichkeiten der systematischen wie auch empirischen Analyse spezifischer Begründungsstrategien von Pädagogik, Gesellschaft und Wissenschaft deutlich. Der damit verbundene Reflexionsgewinn ist bei weitem nicht ausgeschöpft, so dass der Band weniger als Darstellung von Ergebnissen als vielmehr als Inspirationsquelle für ähnlich gelagerte Erkundungen dienen dürfte. Eventuell gewinnt auf diese Weise das Motiv kritischer Erziehungswissenschaft eine neue Kontur: als hegemoniekritische Problematisierung des Pädagogischen, die dessen Widersprüchen als „anti-hegemoniale Strategie“ (16) und als „politische Strategie der Entpolitisierung“ (19) auf die Spur zu kommen vermag.
EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)
Hegemonie und autorisierende Verführung
Theorieforum Pädagogik, Band 6
Paderborn: Schöningh 2014
(233 S.; ISBN 978-3-5067-7948-9; 29,90 EUR)
Carsten Bünger (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten Bünger: Rezension von: Schäfer, Alfred (Hg.): Hegemonie und autorisierende Verführung, Theorieforum Pädagogik, Band 6. Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677948.html
Carsten Bünger: Rezension von: Schäfer, Alfred (Hg.): Hegemonie und autorisierende Verführung, Theorieforum Pädagogik, Band 6. Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677948.html