EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Evi Agostini
Lernen im Spannungsfeld von Finden und Erfinden
Zur schöpferischen Genese von Sinn im Vollzug der Erfahrung
Paderborn: Schöningh 2016
(325 S.; ISBN 978-3-506-78413-1; 39,90 EUR)
Lernen im Spannungsfeld von Finden und Erfinden Bei der o. g. Publikation handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2015 an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen eingereicht worden ist. Sie ist Teil des Forschungsprojekts „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen“ als Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Bozen und Innsbruck (Schratz, Baur). Das gemeinsame Forschungsprojekt bemüht sich, an persönliche Lernerfahrungen einzelner Schüler/-innen im Untersuchungsfeld Schule anzuknüpfen, und mit dem Paradigma einer „lernseitig“ ausgelegten Theorie des Lernens pädagogisch-didaktische Handlungen nicht allein von der Methode und dem Können der Lehrer her zu bestimmen, sondern die Verwobenheit von Lehren und Lernen, das Lehren im Modus des Lernens zu erforschen. Die besondere Forschungsfrage, der Evi Agostini nachgeht, zielt auf die Klärung des besonderen, sogar ausgezeichneten Charakteristikums des Lernens, nämlich des Erfindens als Generierung von neuen Welt-, Selbst-, Fremdbildern in der Erfahrung des Lernens. Hierzu wertet die Autorin in differenzierten und komplexen Analysen die einschlägige Forschungsliteratur über den Zusammenhang von Lernen und Erfahrung aus, die ihren Schwerpunkt in der phänomenologisch-philosophischen (u.a. Merleau-Ponty, Waldenfels, Plessner) und phänomenologisch–pädagogischen Tradition (u.a. Buck, Brinkmann, Meyer-Drawe, Lippitz, Stieve) hat. Geeignet ist für Agostini diese Tradition deshalb, weil sie der Komplexität und Differenziertheit des Phänomens des Erfindens am ehesten Rechnung tragen kann. Denn der phänomenologische Zugang vermag Vieldeutigkeit, Bruchstellen, Widerfahrnisse, Übergänge und Randzonen von Lernerfahrungen zu thematisieren. Lernen als innovative, nicht planbare Erfindung, oftmals sich als fruchtbarer Moment, als unerwartetes Lernereignis zeigend, ist Transformation eines unbekannten, neuen und schöpferischen Wissens, lässt Neues entstehen im Kontext leiblicher Erfahrungen, in Antworten auf den Appellcharakter der Dinge, auf Ansprüche der Anderen und Fremden und in der Negation durchkreuzter Erwartungen, begleitet von Staunen, Angst Unruhe (vgl. 18f).

Wie Erfinden in seinen unterschiedlichen Facetten sich in Lernprozessen konkret ereignet und artikuliert, hat die Autorin im Rahmen einer umfangreichen qualitativen empirischen Schul- und Unterrichtsforschung (vgl. Forschungsdesign und Untersuchungsablauf, Kap. 3, 35ff) erforscht. Teilnehmende Erfahrungen und Beobachtungen, Expertengespräche, Fokusgruppengespräche führen in vielen Bearbeitungsschritten zu Facetten des Erfindens. Sie werden präsentiert in prägnanten Deskriptionen von Lernereignissen, in denen einzelne Schüler und Schülerinnen Lernaufgaben kreativ bzw. erfinderisch umgestalten und bewältigen. Solche Deskriptionen werden nach konkreten teilnehmenden Beobachtungen der Forscher/-innen angemessen sprachlich bearbeitet und in der Forschungsgruppe validiert. So entstehen „Vignetten als Klangkörper gelebter Erfahrungen“. Leitfragen sind: „Wie und als was zeigen sich gelebte Schulerfahrungen der Schüler/-innen? Was drängt sich mir auf? Was wird sichtbar, hörbar, spürbar?“ (67) Vignetten exemplifizieren konkret und anschaulich an prägnanten unterrichtlichen Lernsituationen wichtige Aspekte des Erfindens und lassen sie so für den Leser nacherlebbar und nacherfahrbar werden. Sie werden im Teil III: Facetten des Erfindens (263-284) dargestellt. Sie zeigen, dass „Erfinden“ kein spektakulärer Vorgang eines „schöpferischen Genius“ ist, sondern im normalen Fachunterricht (Mathematik, Computerumgang, Kunst, Englisch usw.) stattfindet. Schülerinnen und Schüler bewältigen auf ihre Weise und abweichend von üblichen Lernwegen eigenständig oder angeregt durch gekonnte Lehrerintervention unterrichtliche Aufgabenstellungen (264ff). Die Lernenden wissen sich zu helfen, durchschauen ein Problem, lassen sich ein Sprachproblem durch Inszenierung statt verbale Belehrung sichtbar machen. Schülern und Schülerinnen fallen Lösungen ein, entwickeln eigene Ordnungsschemata als Hilfsmittel für das Auswendiglernen usw. Was mir trotz der filigranen Ausdeutung der Lernereignisse fehlt, sind genauere Angaben darüber, unter welchen institutionellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Schule, des jeweiligen Unterrichts das Phänomen der Erfindung im Lernprozessen begünstigt wird. Spielen Schul- und Klassenklima, Lehr- und Lerngewohnheiten wie auch Schülercharakteristika eine besondere Rolle? Oder reicht es aus, sich nur auf die unterrichtlichen Lern- und Lehrsituationen zu fokussieren?

Die Dokumentation der Ergebnisse des empirischen Teils der Forschungen fällt recht knapp aus, vergleicht man ihren Umfang mit dem der theoretisch-systematischen Erörterung im Teil I: Phänomenologie des Erfindens (29-137) und Teil II: Der (Lern-)Vollzug des Erfindens (141-259). Das mag erstaunen, ist aber nachvollziehbar, da für die qualitative empirische Forschung erst die systematische und begriffliche Rahmung entwickelt werden muss. Wie in empirisch orientierten phänomenologischen Forschungen üblich, setzt sich die Autorin im Kapitel 4 mit gängigen Diskursen des Erfindens in Philosophie, Anthropologie, Lerntheorien und Pädagogik kritisch auseinander. Im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte entstehen Figuren des sich von einem Schöpfergott emanzipierenden selbstschöpferischen Menschen (vgl. Abb. 97f), der unter der Schirmherrschaft von Kunst, Technik und Wissenschaft Kreativität und Erfindungsreichtum entwickelt und diese als Kompetenzen des neuzeitlichen nach Autonomie strebendes Subjekt bestimmt. Ob es die Genieästhetik, die reformpädagogische Figur des schöpferischen Kindes oder die subjekttheoretischen Konstrukte der Erfindung in behavioristischen, kognitivistischen, konstruktivistischen oder neurolinguistischen Lerntheorien sind, ihre oftmals unkritischen subjekttheoretischen Implikationen und Perspektiven verstellen den Blick auf den komplexen Vollzug des Erfindens. Er spielt sich ab als Erfahrung eines in der Welt situierten, dezentrierten Subjekts, das sich antwortend, „responsiv“ zu den Ansprüchen der Welt, der Dinge und der Anderen verhält.

Auf diese Vollzüge lenkt der Teil II: (Lern-)Vollzug des Erfindens den Blick. Dieser theoretisch-systematische Abschnitt ist das theoretische Kernstück der vorliegenden Untersuchung. Hier wertet die Autorin intensiv und tiefgründig aktuelle und einschlägige phänomenologische Forschungen aus Philosophie und Erziehungswissenschaft aus, insbesondere mit Bezug auf Waldenfels’ Phänomenologie der Responsivität sowie Meyer-Drawes und Günther Bucks Forschungen über die Gangstruktur des Lernens. Thematisch ausgearbeitet werden das Verhältnis von Erfahrung und Lernen und das Erfinden als Antwort auf Fremdansprüche. Aufgezeigt werden Spielräume und Zwischengestalten des Erfindens, zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen Finden und Erfinden sowie temporale, räumliche und soziale Aspekte des Erfindens.

Im Teil IV resümiert und komprimiert Evi Agostini ihre Forschungsergebnisse in einer pädagogischen-phänomenologischen Theorie des Erfindens (285ff). Sie öffnet „den lernseitig-genealogischen Blick auf Lernen als ein Erfinden im Kontext des Lernens als bildende Erfahrung. Erfinden ist Lernen im ausgezeichneten Sinne. Jedes Lernen, das neue Erfahrungen eröffnet, ist erfinderisch als Antwort auf Widerfahrnisse und Ansprüche. Das Wie des Antwortens wird weder nur gefunden, noch erfunden, sondern zeigt sich in den Spannungsfeldern von sachlicher Notwendigkeit und subjektiver Beliebigkeit, von Gebundenheit und Unabhängigkeit von Natur und Kultur.

Welche Perspektiven für Lehre und Forschung eröffnen sich (vgl. 239ff)? Gegenüber den aktuell dominierenden Diskursen des Lernens, die Lernende als operativ geschlossene Systeme, als Manager ihrer selbst begreifen und die die Rolle der Lehrenden zugunsten attraktiver Lernorte und ausgetüftelter Lernparcours abwerten, Lehrende als Lerncoaches umdefinieren und auf effektive Managementmethoden zur Initiierung von Lernen als Selbststeuerung setzen, gegenüber diesen Trends sollen die Lehrenden aufmerksam gemacht werden für die gegenseitige Verwicklung von Lehren und Lernen als responsivem Geschehen: Lehren lernen und lehrend lernen. D.h. auch das Lehren soll im Modus des Lernenden betrachtet werden; es soll Offenheit für unplanbare Ereignisse des Lernens und damit ein antwortendes Lehren schaffen, das ebenfalls erfinderisch handelt. Als Forschungsdesiderata weist die Autorin folgende „Fragen“ aus: die Frage nach dem erfinderischen Potential der Dinge, nach dem Gabecharakter des Lernens und seinen ästhetischen Momenten. Sie provozieren aufgrund ihrer nicht nur analytisch-systematischen zugänglichen, sondern leiblich situierten, vorprädikativen Gestalten die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen des pädagogischen Verstehens (vgl. 304).

Die vorliegende Publikation ist ein weiterer beeindruckender Beleg theoretisch und empirisch gehaltvoller wie auch innovativer phänomenologisch-pädagogischer Lehr- und Lernforschungen. Sie zeigt die Komplexität des Zusammenhangs von Lernen und Erfindung und ermöglicht es dem Leser, diese Komplexität mithilfe von Unterrichtsvignetten nachzuvollziehen, sie mit eigenen Schul- und Unterrichtserfahrungen zu verbinden und so sich für neue Gestaltungsmöglichkeiten des Zusammenhangs von Lernen und Lehren anregen zu lassen.
Wilfried Lippitz (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wilfried Lippitz: Rezension von: Agostini, Evi: Lernen im Spannungsfeld von Finden und Erfinden, Zur schöpferischen Genese von Sinn im Vollzug der Erfahrung. Paderborn: Schöningh 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350678413.html