EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Winfried Böhm
Der pÀdagogische Placebo-Effekt
Zur Wirksamkeit von Erziehung
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
(168 Seiten; ISBN 978-3-506-78581-7; 22,90 EUR)
Der pĂ€dagogische Placebo-Effekt Wie kann Erziehung effektiv durchgefĂŒhrt werden? Wann funktioniert Erziehung? Solche Fragen werden in aktuellen Diskussionen um die technologische Dimension erzieherischer Handlungen ventiliert. Erziehungstechnologien, die Menschen klĂŒger, flexibler, allgemein besser machen sollen, werden konstruiert, durchgefĂŒhrt, evaluiert. Immer wieder wird verkĂŒndet, empirische Studien stellten nun „gesichertes“ Wissen darĂŒber bereit, wie Unterricht, Bildungsplanung und Bildungssteuerung so zu gestalten seien, dass sie funktionieren. Die zweite grundlegendere Frage, jedoch weit weniger diskutierte als die hypertechnokratische nach der Steuerung von Erziehung, ist, ob Erziehung ĂŒberhaupt effektiv angewendet werden kann; ob sie im Sinne eines kausalen VerhĂ€ltnisses funktioniert. Handeln, das auf vermeintlichen Evidenzen basiert, erscheint in der öffentlichen Diskussion legitimer; empirische AutoritĂ€tsargumente versprechen Wirkung. Sie werden weniger hinterfragt als kritisches pĂ€dagogisches Denken, das zunĂ€chst den Weg ĂŒber den Verstehensprozess nimmt und nicht direkt auf Verwertbarkeit abzielt.

Die vorliegende Sammlung von Essays des deutschen PĂ€dagogen Winfried Böhm antwortet auf die zweite Frage. Dabei handelt es sich bei einigen der Essays um veröffentlichte Texte Böhms, die unter dem Titel „Der pĂ€dagogische Placebo-Effekt“ erneut zusammengestellt wurden. Alle Essays eint ein „VerstĂ€ndnis von PĂ€dagogik, das die StĂ€rke dieser Wissenschaft nicht in erster Linie in der Akribie des Beschreibens und in der Analyse des Gegebenen und auch nicht in der Evaluation ihrer ‚effektiven’ Wirkungen sieht, sondern in der provokativen Potenz kritischen Denkens und in der Orientierungskraft in die Zukunft weisender EntwĂŒrfe.“ (138) In Böhms Essays geht es entsprechend weniger um die Ausdifferenzierung pĂ€dagogischer Thematisierungsvarianten. Stattdessen setzt er sich mit dem Allgemeinen des pĂ€dagogischen Denkens und Argumentierens auseinander.

Der von Sabine Seichter mit einer Einleitung in einen aktuellen pĂ€dagogischen Diskussionsstrang – der „Suche nach dem goldenen Gral“ (7) mit Verweis auf die „prĂ€tentiöse Metaanalyse“ (ebd.) Hatties – eröffnete Band beinhaltet elf thematisch unterschiedliche Texte Böhms. Der kritische Blick, der bereits im einschlĂ€gigen Band „Wissen, was wirkt“ [1] auf eine evidenzbasierte PĂ€dagogik gerichtet wurde, wird dabei nur skizzenhaft rekonstruiert. Offen bleibt, auf welche Aspekte der Diskussion ĂŒber evidenzbasierte PĂ€dagogik, neben der These der kausalen Wirksamkeit von Erziehung, noch reagiert werden könnte – und ob die Reduktion auf diese These dem Gegenstand der Kritik gerecht wird. Der erste Text „Der pĂ€dagogische Placebo-Effekt“ kann als rahmende VorĂŒberlegung verstanden werden, die klĂ€rt, dass es sich bei einem Placebo um „ein pharmakologisches Leer-, Schein- oder FalsumprĂ€parat, hĂ€ufig um die wirkstofflose Imitation eines Medikaments“ (15) handelt. Die Perspektive, welche die Essays einnehmen, ist gekennzeichnet durch eine fragende Haltung, insbesondere durch die Frage, „was das denn ĂŒberhaupt heißen kann: pĂ€dagogische Wirkung und ob eine pĂ€dagogische Wirkung aus Ursachen oder womöglich aus GrĂŒnden erfolgt und diese also etwas fundamental anderes darstellt als jene.“ (29) So auch in „Das Theater als Bildungsanstalt“, in dem Böhm weniger mit einer speziellen Aussage zum Theater als mit einer allgemeinen Aussage zum PĂ€dagogischen endet, das Leben als Theater zu verstehen, in dem Rollen zur AuffĂŒhrung gebracht werden. Thematisch an dieses Bild anschließend, greift der Text „PĂ€dagogisierung des Spiels oder Ludifizierung der PĂ€dagogik?“ das immer wieder bemĂŒhte Motiv des Spiels auf, um darauf hinzuweisen, dass eine Instrumentalisierung des Spiels, z. B. in der frĂŒhkindlichen Bildung, dazu fĂŒhre, dass der eigentliche Charakter des Spiels als zweckfreier und elementarer Bestandteil des Lebens verschĂŒttet werde. Die kritische Intention der Essays erneut verdeutlichend, weist Böhm anhand des individuellen Umgangs mit der Trope des Spiels aus, dass sich an diesem das eigene pĂ€dagogische SelbstverstĂ€ndnis offenbare: Machen, Eingreifen oder Zuwenden. Erziehung, so Böhm, sei aber eben nicht fĂŒr die ErzieherInnen, sondern fĂŒr die Zöglinge gedacht. In „Erziehung zwischen Kontingenz und ‚Gnade’ “ elaboriert Böhm die These, dass Erziehung stets kontingent sei. Dies sei anhand der theologischen Figur der Gnade ersichtlich, die pĂ€dagogisches Denken maßgeblich mitgeprĂ€gt habe. Ein mechanistisches VerstĂ€ndnis von Erziehung sei unter BerĂŒcksichtigung dieser Erkenntnis schlichtweg unterkomplex. Besonders hervorzuheben ist der Essay „Tradition ist nur Anregung“, in dem Böhm – in Auseinandersetzung mit den mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten der Worte Schleiermachers: „Tradition ist nur Anregung“ – auf das kritische Potenzial der pĂ€dagogischen Historie und Theoriebildung hinweist. Gerade Böhms Einlassung zu eigenen Erlebnissen mit PĂ€dagogikstudentInnen, die „von der pĂ€dagogischen Theorie belehrt zu werden wĂŒnschen, wie man etwas zu machen habe“ (87), referieren erneut das eingangs aufgerufene Paradox der pĂ€dagogischen Machbarkeit. An dieser Stelle wĂ€re eine AusfĂŒhrung darĂŒber wĂŒnschenswert, in welchem VerhĂ€ltnis die Aussagen von Studierenden zu gesellschaftlichen Tendenzen oder AnsprĂŒchen stehen. „Vollkommenheit oder Brauchbarkeit als Ziel der Erziehung? ‚Humanistische Bildung’ – alt und neu“ verweist zunĂ€chst auf die Relevanz eines pĂ€dagogischen Geschichtsbewusstseins – denn wer ĂŒber das, was bereits diskutiert wurde, informiert ist, sei nach Böhm schneller in der Lage, aktuelle Diskussionen zu verstehen und möglicherweise auch als Wolkenschieberei zu kritisieren. Auf Grundlage eines solchen kritischen Bewusstseins wĂ€re es dann möglich, den „Tanz um das Goldene Kalb“ (103) der Marktförmigkeit zu verweigern und pĂ€dagogische Kritik zu ĂŒben. In „Über die Anmaßungen, sich Lehrer eines anderen nennen zu wollen“, erarbeitet Böhm, anhand einer Auseinandersetzung mit „De magistro“ von Augustinus – dem Verfasser der ‚Confessiones‘ –, das pĂ€dagogische Grundproblem von Lehren und Lernen. Lernen wird in Böhms Auslegung von Augustinus als aktiver Prozess der Aneignung begriffen und nicht als passiver Prozess der Aufnahme. Dieses aktive Element ist widerstĂ€ndig und entzieht sich dem Zugriff der Lehrtechnologien, die Lernen erzeugen wollen. Der Essay „Musikalische FrĂŒhesterziehung – Utopie oder Wirklichkeit“ diskutiert den Einfluss von Konzerten auf ungeborene Kinder. Böhm problematisiert das VerhĂ€ltnis von nature und nurture und die Einflussmöglichkeiten auf ungeborenes Leben, um mit der Aussage zu enden, es schade sicherlich nicht, wenn Schwangere zu Konzerten gehen wĂŒrden – man dĂŒrfe sich davon nur keinen kausalen Effekt erhoffen. In „Pestalozzis Elementarisierung der moralischen Erziehung“ erörtert Böhm dessen Ideen und endet damit, dass das Problem der sittlichen Erziehung nicht im Akt der Erziehung liege. Stattdessen liege das Problem in der lebenspraktischen Umsetzung des Erziehungsziels der MoralitĂ€t, die durch das Individuum selbst hervorzubringen sei. „Theorie und Praxis – das pĂ€dagogische Grundproblem“ ist ein besonders lesenswerter Beitrag, der dieses ausfĂŒhrlich beleuchtet. Theorie und Praxis werden von Böhm nicht wie so hĂ€ufig gegeneinander ausgespielt, sondern vermittelt gedacht. Der scheinbare Gegensatz wird nicht zu einer Seite hin aufgelöst, sondern die pĂ€dagogische Reflexion als menschliche und nicht als technische ausgewiesen. Der abschließende Essay „Vom Subjekt zur Person“ kann als Zusammenfassung der personalistischen PĂ€dagogik Böhms verstanden werden. Die Person wird hier als Quelle und zugleich als Ziel pĂ€dagogischen Handelns ausgewiesen. Damit bleibe erzieherisches Handeln immer Risiko und ein nicht abschließbares Experiment.

Böhm argumentiert in seinen Essays konsequent und sprachlich prĂ€zise. Er verknĂŒpft historische BezĂŒge mit systematischen Überlegungen. Die vom Autor veranschlagte provokative Potenz des pĂ€dagogischen Denkens wird in allen Essays deutlich; gleichzeitig fĂŒhrt Böhm vor, wie pĂ€dagogisches Denken die von ihm selbst als Kernaspekt ausgezeichnete kritische Potenz entwickeln kann. HierfĂŒr ist nicht zuletzt die Form des Essays relevant, in der Böhm gekonnt Polemik, literarisches und auch wissenschaftliches Schreiben miteinander verbindet und so einen informativen und anregenden Beitrag zur Diskussion um die Wirksamkeit und auch Nicht-Wirksamkeit von Erziehung liefert. Dabei sind die Essays offene Versuche, die eigenes Denken und die disziplinĂ€re Reflexion anregen wollen und aufgrund ihrer ZugĂ€nglichkeit und zeitgleichen KomplexitĂ€t auch fĂŒr den interdisziplinĂ€ren Dialog gesprĂ€chsstiftend sein können.

Über die Überlegungen Böhms zum Wirksamkeitsproblem der Erziehung hinaus wĂ€re jedoch die Frage zu stellen, auf welche gesellschaftlichen Kontexte evidenzbasierte pĂ€dagogische AnsĂ€tze reagieren und auf welche Fragen sie möglicherweise eine Antwort darstellen. Dadurch wĂŒrde ersichtlich, dass sie auf eine komplexe BedĂŒrfnislage reagieren, die mit der Betonung von ‚Kontingenz‘ und ‚Experiment‘ kaum befriedigt werden kann. Anstelle eines abschließenden Kritikformats bedarf es einer öffnenden problematisierenden Diskussion zwischen der in diesem Band dargestellten und der kritisierten Position, um so die Potenziale unterschiedlicher ZugĂ€nge sowohl miteinander als auch kontrovers zu vermitteln.

[1] Bellmann, J. / MĂŒller, T.: Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter PĂ€dagogik. Wiesbaden: VS 2011
Sebastian Engelmann (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Engelmann: Rezension von: Böhm, Winfried: Der pĂ€dagogische Placebo-Effekt, Zur Wirksamkeit von Erziehung. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350678581.html