EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Andreas Neumann
Gelehrsamkeit und Geschlecht
Das Frauenstudium zwischen deutscher UniversitĂ€tsidee und bĂŒrgerlicher Geschlechterordnung (1865-1918)
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022
(420 S.; ISBN 978-3-515-13165-0; 70,00 EUR)
Gelehrsamkeit und Geschlecht Zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland ist seit Beginn der 1990er Jahre viel geforscht und publiziert worden. Die zahlreich vorliegenden Monografien und AufsĂ€tze zur Geschichte des Frauenstudiums wurden zumeist aus Anlass von UniversitĂ€tsjubilĂ€en oder zu Jahresfeiern der Zulassung von Frauen zum Studium verfasst. Oft handelt es sich um Qualifizierungsschriften, die sich auf die Zulassungsgeschichte in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen oder einzelnen UniversitĂ€ten fokussieren. Andreas Neumann ordnet in der Einleitung seiner Untersuchung die VorgĂ€ngerstudien der „politischen Ideen- und Ereignisgeschichte sowie der Sozial- und Kulturgeschichte“ zu (7). Die Frauen- und Geschlechtergeschichte fehlt, wobei zur Geschichte des Frauenstudiums nicht nur in der Geschichtswissenschaft geforscht wurde, sondern auch in der Historischen Soziologie, der Geschichte der Medizin sowie der Historischen Bildungsforschung etc. Seine eigene Studie versteht Neumann als einen „Beitrag zur UniversitĂ€ts- und Kommunikationsgeschichte“ (36). Daran anschließend folgt die etwas kryptische Formulierung, dass die „Klassifizierung als Geschlechtergeschichte“ ebenfalls zutreffe, da Geschlecht „eine Kernkategorie historischer Forschung“ sei. Die Analyse von GeschlechterverhĂ€ltnissen solle daher „nicht in ein einzelnes Spezialgebiet“ abgeschoben werden“ (36). Dieses VerstĂ€ndnis von Geschlechtergeschichte, die sich seit ihren AnfĂ€ngen stets als querliegend zu den etablierten Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft verortet hat, irritiert, zumal in der Danksagung ausdrĂŒcklich die Jenaer Frauen- und Geschlechterhistorikerin Gisela Mettele genannt wird, die gleichwohl als Gutachterin am Promotionsverfahren Neumanns nicht beteiligt war (358).

Der Autor nimmt fĂŒr sich in Anspruch, als erster eine Studie vorzulegen, „die systematisch das WechselverhĂ€ltnis zwischen der UniversitĂ€t und dem öffentlichen Raum in den Blick“ nimmt (35). Als Einstieg ins Thema hat Neumann den Topos von Deutschland als Schlusslicht bei der Zulassung von Frauen zum ordentlichen UniversitĂ€tsstudium gewĂ€hlt. Im Vergleich mit LĂ€ndern wie den USA, der Schweiz, England, Frankreich etc. habe der Prozess nicht nur spĂ€t eingesetzt, sondern auch lange gedauert. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich die Soziologin Ilse Costas kritisch mit diesem Topos auseinandergesetzt und ĂŒberzeugend herausgearbeitet, dass neben der zeitlichen Dimension weitere Faktoren fĂŒr die divergent verlaufende Entwicklung in den genannten Staaten in Betracht gezogen werden mĂŒssten: die unterschiedlich strukturierten Bildungs- und Wissenschaftssysteme, die gesellschaftliche Bedeutung des Hochschulsystems im jeweiligen Land, die universitĂ€re Kultur, bspw. die Bedeutung von Burschenschaften und Studentenverbindungen in Deutschland, die HandlungsspielrĂ€ume der Frauenbewegungen im politischen System, die Strukturierung des Arbeitsmarkts sowie der Professionalisierungsgrad akademischer Berufe und deren Sozialprestige [1]. Ein Bezug auf Costas Forschungsergebnisse findet sich erst spĂ€t im Band, versteckt in einer Fußnote, in der Neumann zugesteht, dass in den USA der „Widerstand gegen Studentinnen zunĂ€chst gering“ ausgefallen sei, weil akademische Berufe [
] ein geringes Sozialprestige“ besessen hĂ€tten (244).

Angesichts vieler bereits vorliegender Publikationen stellt sich die Frage, mit welchen neuen Erkenntnissen die 2020 an der Philosophischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Jena angenommene Dissertation aufwarten kann. Als Desiderat bisheriger Forschung formuliert Neumann, dass keine Arbeit zum Frauenstudium „das Spannungsfeld zwischen KontinuitĂ€t und Dynamik [
] im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen den drei Ebenen des Wissens, der Institution und der Subjekte untersucht“ habe (8). Um diese „Wechselwirkungen in den Blick zu bekommen“ verstehe seine Studie den Streit um die Zulassung von Frauen zum Studium „als ein Diskursfeld“, in dem sich „soziale Akteure und Akteurinnen [
] in institutionellen Feldern bewegten und dadurch mit Machtpotenzialen ausgestattet waren, die es ihnen erlaubten, als Sprechende zu agieren“. Ziel der Akteure und Akteurinnen sei „die Aktivierung von Deutungsmustern“ gewesen, „die festlegten, welche Probleme ĂŒberhaupt als solche erkannt wurden und welche Lösungen fĂŒr sie in Frage kamen. Eine derartige Aktivierung von Deutungsmustern sorgte dafĂŒr, dass sich Wissen, Institution sowie die Vorstellungen ĂŒber den legitimen Handlungsspielraum von Subjekten verĂ€nderten“ (8). Diese Schwerpunktsetzungen finden sich im strukturellen Aufbau der Studie wieder. Neben der Einleitung (Kap. I) und der knappen Schlussbetrachtung (Kap. V) gliedert sich der Hauptteil in drei umfangreiche Kapitel, die mit „Machtpotentiale: Soziale Charakteristiken des Diskursfeldes“ (Kap. II), „WissensbestĂ€nde: Die Vermessung der akademischen Frauenbildungsfrage“ (Kap. III) und „Effekte des Macht-Wissen-Komplexes: Die Durchsetzung des Frauenstudiums“ (Kap. IV) ĂŒberschrieben sind.

Um das Diskursfeld empirisch in den Griff zu bekommen, untersuchte Neumann zeitgenössische Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum. Der ĂŒber Bibliografien und Datenbanken ermittelte Quellenkorpus ist ausgesprochen heterogen und umfasst insgesamt „447 Publikationen“ (51; vgl. Korpus der diskursanalytisch ausgewerteten Publikationen zum Frauenstudium, 362ff.). Unklar bleibt, nach welchen Kriterien weitere, im Literaturverzeichnis gesondert aufgefĂŒhrte, Quellen von der Analyse ausgenommen wurden (vgl. 380ff.). Die digitalisierten Quellen wurden mittels einer nicht genannten „Software zur qualitativen Datenanalyse (QDA)“, bei der es sich um MAXQDA handeln dĂŒrfte, einer „Kontext- und Textanalyse“ unterzogen (51). Die der Soziologie entlehnte methodische Vorgehensweise wird zwar erklĂ€rt, aber nachvollziehen können sie wohl nur Historiker:innen, die sich bereits mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse Reiner Kellers und der Grounded Theory auseinandergesetzt haben. Positiv hervorzuheben ist die Absicht, die ausgewerteten Texte zukĂŒnftig „als Subkorpus im Deutschen Textarchiv online zugĂ€nglich“ zu machen (51).

Als zentrale These seiner Untersuchung formuliert Neumann: „Innerhalb des Diskursfeldes zur akademischen Frauenbildungsfrage bildete sich ein struktureller Konsens zwischen bewahrend-konservativen und befreiend-liberalen Diskursstrategien heraus. Dieser Konsens bewirkte eine dynamische Stabilisierung des universitĂ€ren Feldes. Ein zentraler Teil dieser Stabilisierung der klassischen MĂ€nnerwelt betrifft die Konstruktion der sogenannten Ausnahmestudentin“ (8). Damit ist bereits eine, vielleicht sogar die wichtigste, Erkenntnis der Studie in der Einleitung vorweggenommen, die im Schlusskapitel noch einmal aufgenommen wird. Die mĂ€nnerdominierten Strukturen der UniversitĂ€t blieben unangetastet, weil Frauen nur als besonders begabte Ausnahmen ihres Geschlechts Zugang zur Alma Mater fanden. Mit diesem Konstrukt fand zwischen Vertreterinnen des sogenannten gemĂ€ĂŸigten FlĂŒgels der bĂŒrgerlichen Frauenbewegung, liberal eingestellten Professoren und den zustĂ€ndigen Ministerialverwaltungen eine AnnĂ€herung statt, „die einen strukturellen Konsens von befreienden und bewahrenden Strategien unter Abwehr ihrer radikalen bzw. reaktionĂ€ren RĂ€ndern ermöglichte“ (349). Mit den „radikalen RĂ€ndern“ sind Positionierungen des sogenannten radikalen FlĂŒgels der bĂŒrgerlichen Frauenbewegung gemeint, die in der Tat politisch kein Gehör fanden. Unter die „reaktionĂ€ren RĂ€nder“ werden Positionen wie die des MĂŒnchner Medizinprofessors Bischoff subsumiert, die zunehmend aus dem Feld des Sagbaren herausfielen. Neu und interessant sind insbesondere die mit Grafiken untermauerten Daten zu zeitlichen Publikationsfrequenzen und den medialen Zugangsmöglichkeiten der beteiligten Akteur:innen. Was die Einflussnahme auf weite Teile der bĂŒrgerlichen Öffentlichkeit zugunsten des Frauenstudiums angeht, relativiert sich bspw. das hohe Publikationsaufkommen der Frauenbewegung, da sich – Neumann zufolge – ihre BeitrĂ€ge zumeist „an die eigene Bewegungsöffentlichkeit richtete“ (133). Mit dieser Formulierung wird ausgeblendet, dass es strukturelle Barrieren gab, die die Aufnahme von frauenbewegten Publikationen in auflagenstarke und meinungsbildende Printmedien des Kaiserreichs erschwert haben dĂŒrften.

Dass „[e]inige Erkenntnisse der Studie [
] an sich nicht neu [sind]“ hat bereits die Rezension von Andreas Becker im geschichtswissenschaftlichen Online-Rezensionsorgan Sehepunkte konstatiert. Trotzdem verleiht der Rezensent das PrĂ€dikat ‚ausgezeichnet‘, weil „nun fundiert [sei], was frĂŒhere Untersuchungen anhand vereinzelter Beispiele bloß angenommen“ hĂ€tten [2]. Nein, Autorinnen wie Claudia Huerkamp, Theresa Wobbe, Eva Brinkschulte und Edith Glaser, um nur einige zu nennen, haben nicht nur „angenommen“, sondern sie sind aufgrund einer begrĂŒndeten Auswahl und einer sorgfĂ€ltigen Analyse ihrer Quellen zu ihren Ergebnissen gelangt.

Aus Sicht einer historischen Bildungsforscherin muss abschließend festgehalten werden, dass Publikationen aus der (inter-)nationalen Historischen Bildungsforschung nicht systematisch zur Kenntnis genommen worden sind. So wird z.B. die wiederholte Beschwörung des schlechten Zustandes der höheren MĂ€dchen- und Lehrerinnenbildung in zeitgenössischen Veröffentlichungen (vgl. 230) fĂŒr ‚bare MĂŒnze‘ genommen, anstatt zu erkennen, dass hier von den Akteur:innen ein Topos bemĂŒht wurde, der vor allem die Bedeutsamkeit der eigenen bildungstheoretischen und/oder bildungspolitischen Leistung hervorheben sollte [3]. Einen prominenten Platz innerhalb des von Neumann untersuchten Quellenkorpus nimmt die 1897 publizierte Studie des Journalisten Arthur Kirchhoff ein, der Hochschullehrer, MĂ€dchenschulpĂ€dagogen und Schriftsteller zur Akzeptanz des Frauenstudiums befragt hatte.

Neumann nimmt wiederholt Bezug auf einzelne Aussagen von Professoren, ohne zu berĂŒcksichtigen, dass es bereits Publikationen gibt, die sich eingehend mit dieser Studie auseinandergesetzt haben. Dann wĂ€re ihm u.a. die FehleinschĂ€tzung erspart geblieben, Konzept und Praktiken der „komplexen Ehe“ in der nordamerikanischen Oneida-Gemeinde unter den Begriff der „Doppelehe“ zu subsumieren (149) [4]. Die GeringschĂ€tzung der Historischen Bildungsforschung wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass im Literaturverzeichnis die renommierte Bildungshistorikerin Juliane Jacobi zur Mitherausgeberin ihrer eigenen Festschrift wird (vgl. 412).

[1] Vgl. die pointierte Zusammenfassung in: Costas, I. (2000). Professionalisierungsprozesse akademischer Berufe und Geschlecht – ein internationaler Vergleich. In Dickmann, E., Schöck-Quinteros, E., unter Mitarbeit von S. Dauks (Hrsg.). Barrieren und Karrieren. Die AnfĂ€nge des Frauenstudiums in Deutschland (S. 13-32, hier: S. 32). trafo.
[2] Vgl. http://sehepunkte.de/2022/10/druckfassung/37123.html (28.02.2023).
[3] Vgl. bspw. van Essen, M., Rogers, R. (2006). Zur Geschichte der Lehrerinnen: Historische Herausforderungen und internationale Perspektiven. Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik, Jg. 52, Heft 3, 319-337; Kleinau, E. (2006). MĂ€dchen- und Frauenbildung in der historischen Bildungsforschung. Neue AnsĂ€tze und Forschungsperspektiven. In Elvert, J., Salewski, M. (Hrsg.). Historische Mitteilungen. Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft. Bd. 19 (S. 208-218, hier: S. 211). Franz Steine.
[4] Vgl. Kleinau, E. (2010). „Sind Frauen zum Studium befĂ€higt und berechtigt?“ Der Diskurs fĂŒr und wider das Frauenstudium gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In KĂŒllchen, H., Koch, S., Schober, B., Schötz, S. (Hrsg.). Frauen in der Wissenschaft – Frauen an der TU Dresden. Tagung aus Anlass der Zulassung von Frauen zum Studium in Dresden vor 100 Jahren (S. 79-98, hier: S. 83f.). Leipziger UniversitĂ€tsverlag.
Elke Kleinau (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kleinau: Rezension von: Neumann, Andreas: Gelehrsamkeit und Geschlecht, Das Frauenstudium zwischen deutscher UniversitĂ€tsidee und bĂŒrgerlicher Geschlechterordnung (1865-1918). Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978351513165.html