Mit der zweibändigen Edition der „Klassiker der Pädagogik“ etablierte Hans Scheuerl [1] ein nicht nur für die erziehungswissenschaftliche Reflexion unerwartet erfolgreiches Gattungsformat: das über Personalartikel in Sammelbänden dokumentierte und hauptsächlich für die Nutzung im Lehrzusammenhang didaktisch aufbereitete pädagogische Kanonwissen. Bedeutsamer noch war, dass diese Bände – angeregt durch das editorische Geleitwort – innerhalb der Erziehungswissenschaft überhaupt erstmals eine Diskussion initiierten, die in anderen Disziplinen schon seit den späten 1960er Jahren mit nachhaltiger Intensität geführt wurde: die Debatte um die Bedeutung des ‚Klassikers’ als diskursive Strategie zur fachexklusiven Identitätsbildung und zur Aufrechterhaltung facheinschlägiger kommunikativer Praxis [2].
Ihren Höhepunkt fand die über den ‚Klassiker’-Topos realisierte Selbstvergewisserungsdebatte der Pädagogik zunächst mit den Studien von Michael Winkler [3] und Alfred K. Treml [4] bzw. mit dem Sammelband von Klaus-Peter Horn und Christian Ritzi [5], bevor mit einer gründlich entstaubten Neubearbeitung des Scheuerl-Formates im Verlag C.H.Beck durch Heinz-Elmar Tenorth [6] sowohl ein vorerst verbindlicher Forschungsstand zur Klassiker-Problematik wie auch ein tradierfähiger Kanon von mehr als zwei Dutzend Referenzautoren präsentiert werden konnte. Diese Edition dokumentierte nicht nur einen systematischen Konsens zum ‚Klassiker’ (der danach als eine erfolgreiche Kommunikation zur Inszenierung disziplintypischen Wissenschaftshandelns anzusehen ist, der Selbstbilder stabilisieren hilft, dabei Distanzierung gestattet und gleichwohl Raum für Interpretation bietet), vielmehr korrigierten Auswahl und Darstellung der von Tenorth gebotenen Beiträge die unkritische Nobilitierung leitkultureller Ideologien und das Verfahren der Würdigung großer Geister, wie sie noch in den Scheuerl-Bänden vorherrschten. Vor allem aber beeindruckte die Neuausgabe durch eine Konzentration auf die Problemlagen der Moderne sowie durch eine deutlich erkennbare sozialwissenschaftliche Akzentuierung im Zugriff auf die vorgestellten Autoren. Angesichts der insgesamt überzeugenden Konzeption dieses Editionsprojektes, der Qualität der Beiträge, des Umfangs des von Tenorth gebotenen Materials sowie der Aktualität des Bearbeitungsstandes liegt die Messlatte für ähnliche Publikationsvorhaben unzweifelhaft sehr hoch. Überhaupt stellt sich die Frage, ob die Desiderate dieser Ausgabe tatsächlich so gravierend sind, dass diese einer kritischen Revision oder Ergänzung bedarf.
Die kürzlich von Bernd Dollinger im VS-Verlag vorgelegte Sammlung seiner „Klassiker der Pädagogik“ bestellt somit ein Feld, auf dem die ausgebrachte Saat eigentlich längst gereift ist, dessen wenn auch üppig mit Wildkräutern durchsetzter Fruchtstand schon eingebracht wurde und die eingemietete Ernte des Aufbrauchens harrt. Ertragssteigerung lässt sich nun aber bekanntlich nur erzielen, wenn kräftig gepflügt wird, der Boden gedüngt und die Fruchtfolge geändert oder wenn man die Geduld aufbringt, den Acker einige Zeit brach liegen zu lassen. Um es weniger bildhaft zu fassen: Eine revisionierende Neuausgabe der „Klassiker der Pädagogik“ sollte deutlich machen, inwiefern sie sich konzeptionell von ihren effizienten Vorgängerformaten unterscheidet, nach welchen innovativen Kriterien und mit welcher Legitimation die Auswahl der zu bearbeitenden ‚Klassiker’ erfolgt und inwieweit die Darstellung didaktisch angemessen ist. Vor allem aber sollte ersichtlich sein, ob sich durch die favorisierten Präsentationsweisen tatsächlich grundlegend neue Perspektiven auf die Problemlagen pädagogischer Fachgeschichte und auf die Modi der Selbstreflexion von pädagogischer Profession und Disziplin ergeben, durch die eine erneute Beschäftigung mit der Thematik zu rechtfertigen wäre.
Der mit lediglich 376 Druckseiten im Vergleich zu seinen Vorgängerformaten übersichtliche Dollinger-Band akzentuiert den exklusiven thematischen Fokus zunächst im mehrdeutigen Untertitel: „Die Bildung der modernen Gesellschaft“. Tatsächlich legt diese Zuschreibung sowohl die Rezeptionserwartung nahe, dass hier über den Zugriff auf ausgewählte Pädagogen der Prozess der Herausbildung (i.e. nicht Bildung!) der Moderne nachgezeichnet werden soll, wie vor diesem Hintergrund insbesondere die Konjunkturen einer bildungstheoretischen Schwerpunktsetzung aufscheinen.
Dass zumindest das erste Motiv beabsichtigt ist, wird in dem sehr informativen Geleitwort des Herausgebers angedeutet (7-24). Am Beispiel der idealtypischen Deutungen zur Klassiker-Problematik (i.e. Klassiker haben zeitlose Qualität, sie erfüllen spezifische Kriterien, die ihre Auswahl rechtfertigen oder werden schließlich selektiert, weil sie für die betreffende Rezipientengemeinde eine spezifische Funktion erfüllen) gelingt es Dollinger, die zentralen Positionen der Fachdebatte nachzuzeichnen, zu resümieren (7-16) und insbesondere das innovative Potential des personellen Zugriffs auf kanonische Wissensbestände zu problematisieren (16ff.).
Weniger überzeugend sind die daraus abgeleiteten Folgerungen für die thematische Konzeption seiner Ausgabe, denn als Kriterien für die Auswahl wird lediglich angegeben, dass solche „Klassiker [was eigentlich: Erziehungspraktiker, -administratoren, -theoretiker, -publizisten etc.?] ausgewählt wurden, in deren Werk die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und dem Phänomen der Modernisierung eine herausragende Stellung einnahm“ bzw. die das „Phänomen der Bildung“ der/in der „modernen Gesellschaft thematisierten“ (19f.). Unbefriedigend ist dieser Ansatz allein schon wegen der inflationären Deutungsvarianzen der Referenzsemantiken ‚Moderne’ und ‚Bildung’, die nicht ausdrücklich expliziert werden. Unzureichend ist dieser Zugriff aber auch, weil in der Fachdebatte hinreichend tragfähige Legitimationsmotive für die Qualifizierung eines ‚Klassikers’ erarbeitet werden konnten. Dollinger nimmt aber weder auf Tremls Vorgaben Bezug (Anthropozentrismus, Subjektivität, Individualität, Kontingenz etc.) noch berücksichtigt er die epistemologischen Leistungen eines ‚Klassikers’, die Winkler (1994) formuliert.
Als ‚Klassiker’ vorgestellt werden in der Folge dann insgesamt 15 Personen und ein paradigmatisches Kommunikationsmilieu (die Reformpädagogik), die „aus didaktischen Gründen und um den Prozesscharakter der Entwicklung der pädagogischen Fragestellung zu betonen“ (20) unter vier Zeitabschnitte geordnet werden: I. Die Konstruktion der modernen Gesellschaft (Rousseau, Pestalozzi, Schleiermacher, Herbart); II. Erziehung und Industrialisierung (Diesterweg, Stoy/Willmann, Natorp); III. Erziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Reformpädagogik, Dewey, Nohl, Bernfeld) sowie IV. Die modernisierte Moderne (Foucault, Luhmann, Mollenhauer, Bourdieu).
Mag der Leser angesichts der vorgeblichen thematischen Konzentration auf die Kernprobleme der Moderne der historiografischen Beschränkung auf die Epochen seit der Spätaufklärung noch folgen, wird er aber doch die hoch selektive, vor allem aber wenig repräsentative Auswahl der vorgestellten ‚Klassiker’ bedauern. Rechtfertigen lässt sich dies auch nicht mit dem Hinweis darauf, dass beispielsweise auf Comenius, Locke, Dilthey, Humboldt, Owen, Montessori oder Makarenko verzichtet wurde, „um der geschilderten Schwerpunktsetzung gerecht zu werden und um innerhalb dieses Rahmens möglichst kontrastierende Positionen erschließen zu können“ (ebd.). Der in diesem Zusammenhang angestrengte Verweis auf die Präsentation von „Heterogenität als Darstellungsprinzip der qualitativen Sozialforschung“ ist nicht mehr als ein übermotiviertes Rechtfertigungsmotiv für eine ungenügende Materiallage. Überhaupt scheinen die Beiträge des Bandes zunächst wohl unter anderen konzeptionellen Vorgaben eingeworben worden zu sein, denn immer wieder referieren die Autoren der Personalartikel nicht auf den „Klassiker der Pädagogik“ im Allgemeinen, sondern auf den der „Sozialpädagogik“ (am deutlichsten der Artikel zu Schleiermacher, 75; ähnlich aber auch die Beiträge zu Natorp, Bernfeld, Foucault, Mollenhauer, Bourdieu).
Abgesehen von den Desideraten im Hinblick auf Vollständigkeit und Repräsentativität, denen sich ein Herausgeber mit der Edition eines solchen Projektes zwangsläufig aussetzt, bietet Dollingers Ausgabe gegenüber den Vorläuferformaten jedoch auch bemerkenswerte Vorteile. Neben dem Versuch, die noch in den aktuellen Forschungsfronten zu verortenden Sozialwissenschaftler Foucault, Luhmann, Mollenhauer und Bourdieu erstmals für die Erziehungswissenschaft zu kanonisieren, ist hier die außerordentlich gute Handhabe für den Lehrzweck zu nennen. Es ist der Verdienst des Herausgebers, auf eine einheitliche Artikelgestaltung bestanden zu haben, die die Lektüre erleichtert und eine schnelle Orientierung ermöglicht – alle Beiträge sind in fünf Abschnitte gegliedert: In der meist kurzen Einleitung wird ein zentraler Gedanke formuliert, für den der Name des jeweiligen ‚Klassikers’ gewissermaßen synonymisch steht; darauf folgt ein bio-doxografischer Überblick, der je nach Akzentuierung eher lebens- oder werkgeschichtlich ausgerichtet ist; im dritten Teil werden die „zentralen pädagogischen Aussagen“ erläutert; darauf folgen im vierten Abschnitt jeweils eine Skizze der Rezeptionsgeschichte bzw. die Herausarbeitung von Motiven, die anschlussfähig an aktuelle Forschungsfronten sind. Der abschließende fünfte Teil ist besonders zu würdigen: Dieser bietet in der Regel – erstens – eine kommentierte Kurzbibliografie der Primärliteratur bzw. der verfügbaren Werkausgaben und – zweitens – einen ebenfalls kommentierten Hinweis auf essentielle Einführungs- oder Sekundärquellen, Bibliographien oder digitalisierte Angebote im Internet sowie – drittens – die Übersicht über die verwendete Literatur. Durch dieses einheitliche Erscheinungsbild wie insbesondere durch den außerordentlich praktikablen Quellenfundus wird nicht nur der unter systematischer Perspektive eklektische Gesamteindruck der Sammlung deutlich aufgewertet, vielmehr stellt Dollinger ein Medium zur Verfügung, das wegen des leichten Zugriffs insbesondere für Studierende attraktiv sein sollte.
Die Beiträge selbst werden in der Regel von ausgewiesenen Experten bearbeitet. Nicht alle ‚Klassiker’-Skizzen sind dabei von gleicher Qualität. Tatsächlich nehmen auch nur die wenigsten Autoren jenes kritische Klassikerverständnis auf und pointieren den Topos so analytisch distanziert, wie von Dollinger im editorischen Geleitwort in Aussicht gestellt. Das in der konzeptionellen Rechtfertigung eingeforderte Niveau im Hinblick auf den ‚Klassiker’ als diskursive Strategie erfüllen dann auch nur die Beiträge von Michael Winkler (Schleiermacher), Christian Niemeyer/Marek Neumann (Bernfeld), Astrid Messerschmidt (Foucault), Eckart Liebau (Bourdieu) sowie vor allem der auch sprachlich brillante Aufsatz von Sabine Andresen (Reformpädagogik und Klassiker), die ihr Einleitungskapitel zur Problematisierung des Klassikerstatus’ der Reformpädagogik insgesamt nutzt (199-203).
Aus anderen Gründen hervorzuheben sind daneben auch die Darstellungen von Otto Hansmann (Rousseau), der das komplexe, fiktional vermittelte Werk des Aufklärers mit einfacher Sprache und konzentriert auf zentrale Thesen vorstellt; von Klaus Prange (Luhmann), der den Systemtheoretiker und Soziologen subtil als Antiklassiker adelt; schließlich von Rotraud Coriand (Stoy und Willmann), die zwei Herbartianer vorstellt, die bisher kaum als qualifikationswürdig für den Klassikerstatus galten.
Ob Bernd Dollingers „Klassiker der Pädagogik“ ihre Käufer finden werden, wird wohl nicht zuletzt vom Preis abhängen, denn obwohl die Sammlung weit weniger umfangreich und repräsentativ ist als die formatidentische Vorgabe Tenorths, muss der Interessierte mit 29,90 € deutlich mehr dafür investieren (umgerechnet auf den Einzelbeitrag macht das immerhin 1,99 € für einen Dollinger-‚Klassiker’ vs. 0,80 € für den Beitrag im Konkurrenz-Band). Trotz dieser verhältnismäßig hohen Investition zeichnet sich die Edition aus dem VS-Verlag dennoch kaum durch Profilschärfe und Originalität aus. Eher im Gegenteil, denn bemerkenswerterweise stellen Tenorths ‚Klassiker’ selbst für einige Beiträger des Dollinger-Bandes noch die zentrale Referenz dar (123, 149, 218ff., 265, 281, 284).
Ausgehend hiervon lassen sich zusammenfassend daher Empfehlungen für eine eventuelle Nachauflage formulieren: Optimierungspotential zeigt sich vordringlich im Hinblick auf eine höhere konzeptionelle Strenge bei der Auswahl und Organisation des Materials, im Hinblick auf den dokumentierten Gesamtbestand an ‚Klassikern’ und nicht zuletzt im Hinblick auf die Preisgestaltung. Die Emendation von Druckfehlern (135, 163, 175, 200) erfolgt ohnehin im Zuge eines erneuten Korrekturdurchganges. Beibehalten sollten Herausgeber und Verlag in jedem Fall die didaktisch außerordentlich gelungene Präsentationsweise mit der einheitlichen Artikelgestaltung und den kommentierten Quellenverzeichnissen.
Ob das Gattungsformat ‚Klassiker-Sammlung’ nun aber tatsächlich ein geeignetes Medium ist, um den Zugang zu den spannenden Dokumenten der Fach- und Professionsgeschichte von Bildung und Erziehung anzuregen, mag der Rezensent abschließend nicht entscheiden wollen. Indem die Laudatoren in den Sammelwerken jeweils vorgeben, die interessanten Perspektiven auf die kanonischen Texte freizulegen, entlasten sie ihre Leser vielleicht von den Selbstzumutungen einer anstrengenden Lektüre und verstellen unter Umständen die Chancen für aufregende Lektüreerfahrungen. Gerade deshalb wird sich mancher kulturhistorisch Interessierte im Hinblick auf die „Bildung in der Moderne“ möglicherweise aber daran erinnern, dass die Neuzeit einst mit einer intellektuellen Neugier einsetzte, die sich im Motiv der Kritik an überlieferten Kanonikern, an mustergültigen Texten und an verbindlichen Kommentaren äußerte – und dem Schlachtruf ‚ad fontes’.
[1] Scheuerl, H. (1979): Klassiker der Pädagogik. Zwei Bände. München.
[2] Vgl. dazu stellvertretend fĂĽr die Geisteswissenschaften: Grimm, R. / Hermand, J. (Hg.) (1971): Die Klassik-Legende. Frankfurt/M.
[3] Winkler, M. (1994): Ein geradezu klassischer Fall. Zur Traditionsstiftung in der Pädagogik durch Klassiker. In: Horn, K.-P. / Wigger, L. (Hg.): Systematiken und Klassifikationen der Erziehungswissenschaft. Weinheim, S. 141-168; Winkler, M. (2001): Klassiker der Pädagogik – Überlegungen eines möglicherweise naiven Beobachters. In: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 7 (2001), S. 76-85.
[4] Treml, A. (1997): Klassiker. Die Evolution einflussreicher Semantik. Band 1. Sankt Augustin.
[5] Horn, K.-P. / Ritzi, C. (Hg.) (2001): Klassiker und Außenseiter. Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Baltmannsweiler.
[6] Tenorth, H.-E. (Hg.) (2003): Klassiker der Pädagogik. Zwei Bände. München.
EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)
Klassiker der Pädagogik
Die Bildung der modernen Gesellschaft
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2006
(376 S.; ISBN 978-3-531-14873-1; 29,90 EUR)
Jens Brachmann (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Brachmann: Rezension von: Dollinger, Bernd (Hg.): Klassiker der Pädagogik, Die Bildung der modernen Gesellschaft.. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353114873.html
Jens Brachmann: Rezension von: Dollinger, Bernd (Hg.): Klassiker der Pädagogik, Die Bildung der modernen Gesellschaft.. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353114873.html