EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Friederike Heinzel / Werner Thole / Peter Cloos / Stefan Köngeter (Hrsg.)
„Auf unsicherem Terrain“
Ethnografische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens
Wiesbaden: VS Verlag 2009
(274 S.; ISBN 978-3-5311-5447-3; 34,95 EUR)
„Auf unsicherem Terrain“ Ethnografische Forschung in pädagogischen Arbeitsfeldern hat derzeit Konjunktur. Zumindest mehren sich in den letzten Jahren die Publikationen dazu. Der vorliegende Sammelband „Auf unsicherem Terrain“ enthält eine Reihe von Beiträgen einer gleichnamigen Tagung, die um weitere ergänzt wurde. Unter den insgesamt 20 Beiträgen sind zahlreiche von thematisch einschlägig ausgewiesenen Autorinnen und Autoren.

Das Buch versteht sich „als ein ‚theoretisch gerahmter’ Baukasten zur Markierung und Diskussion von methodischen Erfahrungen und Problemen ethnografischer Forschungsstrategien in der Pädagogik mit Kindern und Jugendlichen sowie als ‚Werkzeugkoffer’ zur Konzeptionalisierung und Realisierung von ethnografischen Forschungsprojekten“ (11). Damit ist es ausdrücklich als Methodenbuch angelegt, das den Raum für den kritischen Diskurs zu praktischen Verfahren und methodologischen Konzepten einer pädagogischen Ethnografie eröffnen will. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass ethnografische Forschungen zwar vielfach stattfinden, aber – wie die Herausgeberin und die Herausgeber anmerken – die damit verbundenen konkreten methodischen Probleme, die sich in den einzelnen Arbeitsphasen ergeben, kaum diskutiert werden. Wer also empirische Ergebnisse aus ethnografischen Forschungsprojekten in der Schule oder der Sozialen Arbeit erwartet, wird eher nicht fündig. Zwar entfalten die meisten Beiträge ihr Thema vor dem Hintergrund der Darstellung konkreter ethnografischer Forschungsprojekte, was sie anregend und anschaulich macht, doch dient dies letztlich nur als Kulisse, um hierin methodologische und praktische Fragen zu reflektieren und zu theoretisieren.

Zu Beginn werden Überblicksbeiträge zur pädagogischen Ethnografie in der Erziehungswissenschaft, Schulforschung, Sozialen Arbeit und Wohlfahrtsgeschichtsschreibung geliefert, die umfassend und differenziert die fachlichen Entwicklungsprozesse und den aktuellen Stand der Forschung aufbereiten und helfen, eine Systematik im doch mittlerweile umfangreichen Programm der pädagogischen Ethnografie zu finden. Die nachfolgenden Texte gruppieren sich dann um drei zentrale Schlüsselaspekte ethnografischen Forschens: Erstens die Zugänge zum Feld mit all ihren herausfordernden Irritationen, den wechselseitigen Rollenaushandlungen und -klärungen, den Verwehrungen und Zumutungen für die Forschenden, aber auch für die Beforschten, zweitens die praktischen Instrumente der ethnografischen Materialproduktion, nämlich die des Beobachtens, Erzählens und Schreibens und schließlich drittens die Strategien der Wissensproduktion durch Befremdung, Rekonstruktion und Verständigung.

Was für fast jeden Sammelband gilt, trifft auch für diesen zu: liest man die Texte en bloc, kommt es teilweise zu Wiederholungen von Sachverhalten und Literaturverweisen. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass jeder Text für sich allein verständlich und ertragreich und isoliert zu nutzen ist. Bis auf wenige Ausnahmen zeichnen sich alle Texte durch gute Lesbarkeit – und angenehm dichte Knappheit – aus, so dass sie auch in der Lehre verwendbar sind, wenn auch nicht als Einstiegsliteratur. Ein gewisser Wissenstand zur ethnografischen Forschungsprogrammatik wird bei der Leserschaft vorausgesetzt. Das Spektrum der Forschungskontexte, in denen die Beiträge entstanden sind, reicht von Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung über Kindergarten, Kinder- und Jugendarbeit, Schule, Altenpflege und virtuelle Konsumwelten bis hin zu Kamera-Ethnografie, Lehrforschungsprojekten und Praxisreflexionen.

Für Lehrende in der Praxisausbildung sind besonders anregend die Beiträge von Holger Schoneville zu einem Seminar, in dem Studierende gefordert waren, ein Interview mit einem Menschen ohne Obdach zu führen sowie der Beitrag von Bettina Völter und Marion Küster. Letztere ließen im Rahmen eines mit Studierenden durchgeführten Gemeinwesenprojektes in Brasilien ethnografische Praxisprotokolle von Studierenden schreiben, die in Kombination mit Rollenspielen für systematische Selbst- und Praxisreflexionen genutzt werden.

Spannend sind zudem die Ausführungen von Jörn Lamla zum Versuch, Praxen virtuellen Alltagskonsums ethnografisch zu untersuchen; schließlich sind die virtuellen Räume als bedeutungsvolle soziale Welten bislang in der Sozialforschung noch unterrepräsentiert und sozial verregelter als gemeinhin angenommen.

Hervorzuheben ist auch der Abschlusskommentar von Doris Bühler-Niederberger. Im literarisch-persönlichen Textgenre ist es ihr möglich, schnörkellos-direkt Bedenkenswertes anzusprechen, das bislang unthematisiert blieb, zumindest noch nicht offensiv zum Thema gemacht wurde: Dazu gehören die ethischen Fragen bei einem Forschungsverfahren, das zum einen den Forschungsobjekten sehr nah auf den Leib rückt, gerade auch bei der Kamera-Ethnografie, zum anderen aber auch der Eitelkeit der Beobachteten schmeicheln muss, denn wie sonst käme man an die gewünschten reichhaltigen Daten.

Zu fragen ist auch, was es für die Ethnografie bedeutet, wenn sie vor allem von denen aktiv betrieben wird, die noch auf die Etablierung im wissenschaftlichen Geschäft warten, und weniger von den Etablierten selbst. Was hat es schließlich auch mit dem „rebellischen Antiinstitutionalismus“ (271) auf sich, der die pädagogische Ethnografie unterschwellig bestimmt? Pädagogische Ethnografie ist besonders gut geeignet, kritische, unerledigte und verdrängte Themen von Institutionen zu sezieren und damit Reformen auf den Weg zu bringen, wie dies Argyro Panagiotopoulou in ihrem Beitrag ausführt (250). Sie gerät damit aber auch in die Gefahr, sich darin zu gefallen.

Noch eine Anmerkung zum Buchtitel: Zwar machen die Beiträge deutlich, dass ethnografische Feldforschung nur schwer methodisierbar, standardisierbar und kalkulierbar ist, weil die Forschenden als Fremde in lebendige komplexe Systeme eintreten. Auch gibt es noch viele offene Fragen in der pädagogischen Ethnografie. Das macht die Metapher des „unsicheren Terrains“ unmittelbar einsichtig.

Doch transportiert der Titel unter der Hand auch etwas Selbstbescheidendes, das symptomatisch, aber auch fragwürdig ist. Bühler-Niederberger merkt dann auch an: „EthnografInnen sind bescheiden, ja sogar demütig. Sie ziehen nicht als Gekrönte im Feld ein, vielmehr begnügen sie sich hier mit einem bescheidenen Platz auf den hinteren Rängen, sie sind Hilfskraft des Lehrers oder Praktikanten, ja sie schlafen auf der Klassenfahrt sogar im Kinderzimmer und Kinderbett. […] Wie anders ist da die Position des Forschers, der den Survey managt und […] mit Aktenköfferchen und Laptop bei seinen Auftraggebern erscheint.“ (268) Dabei zeigt die Publikation eindrucksvoll, dass die Ethnografie im Sozial- und Bildungswesen längst aus einem experimentellen Stadium heraus ist und sich mit ihren differenzierten methodologischen Debatten und methodischen Verfeinerungen zu einer soliden Forschungspraxis entwickelt hat.

Der Band löst sein zu Beginn formuliertes Anliegen ein. Ob er jedoch tatsächlich „‚Werkzeugkoffer’ zur Konzeptionalisierung und Realisierung von ethnografischen Forschungsprojekten“ (11) sein kann, ist ein wenig zu relativieren. Genau genommen wird keine systematische Werkzeugpalette mit Bedienungsanleitungen für interessierte Anfänger und Anfängerinnen geboten, sondern vielmehr ein vielfältiges Panorama von konkreten Einblicken in die praktischen und methodologischen Herausforderungen von beispielhaften ethnografischen Forschungsprojekten. Dies mag bei der Konzipierung von entsprechenden eigenen Projekten helfen, weil manches im Vorfeld bereits bedacht werden kann. Doch ethnografische Forschung bleibt, wie Schoneville anmerkt, trotz vieler hilfreicher Empfehlungen immer ein „Abenteuer“ (96).

Umso mehr wird das Buch jedoch für Forschungsreflexionen von Nutzen sein. Es hilft, eigene Forschungserfahrungen und Befunde kritisch einzuordnen und die möglicherweise erlebten Kränkungen und Konflikte durch die Wiedererkennungseffekte in dem einen oder anderen Text als charakteristische Strukturphänomene einer besonderen Forschungsmethode zu begreifen.
Lotte Rose (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lotte Rose: Rezension von: Heinzel, Friederike / Thole, Werner / Cloos, Peter / Köngeter, Stefan (Hg.): „Auf unsicherem Terrain“, Ethnografische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens. Wiesbaden: VS Verlag 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115447.html