EWR 8 (2009), Nr. 1 (Januar/Februar)

Michael Maschke
Behindertenpolitik in der EuropÀischen Union
Lebenssituation behinderter Menschen und nationale Behindertenpolitik in 15 Mitgliedstaaten
Wiesbaden: VS Verlag 2007
(307 S.; ISBN 978-3-531-15587-6; 39,90 EUR)
Behindertenpolitik in der EuropĂ€ischen Union AbhĂ€ngig von der Definition von Behinderung werden zwischen 10% und 15% der Bevölkerung in Europa als behindert klassifiziert bzw. beschreiben sich selbst als behindert. Der sozialpolitische Umgang mit dem PhĂ€nomen Behinderung bzw. die politische Gestaltung der Lebensbedingungen behinderter Menschen haben sich seit den 1990er Jahren europaweit ausgedehnt, nicht nur monetĂ€r, auch die Struktur hat sich ausdifferenziert und Behindertenpolitik sich als zentraler Bestandteil wohlfahrtsstaatlichen Handelns fest etabliert. Diese zunehmende Bedeutung von Behindertenpolitik in Europa bildet den Hintergrund fĂŒr die Dissertation von Michael Maschke. Unter der zentralen Fragestellung „wie versuchen nationale Behindertenpolitiken die Lebenssituation behinderter Menschen zu verbessern?“ (24) ist „eine empirisch fundierte Beschreibung der Lebenssituation behinderter Menschen und eine systematische Darstellung des Standes und der Entwicklung nationaler Behindertenpolitiken in Mitgliedstaaten der EuropĂ€ischen Union“ (23/24) das Ziel seiner Arbeit. Dabei sollen im Vergleich der Politiken und ihrer Wirkungen Schlussfolgerungen fĂŒr die zukĂŒnftige Gestaltung von Behindertenpolitik abgeleitet werden.

Die Bearbeitung dieser Aufgabenstellung erweist sich in vielerlei Hinsicht als anspruchsvolles Unternehmen: Neben der insgesamt schwierigen Datenlage zur Lebenslage behinderter Menschen, sowohl innerhalb vieler Nationalstaaten als auch auf Europaebene, erschweren unterschiedlichste Behinderungsbegriffe und hierauf bezogene Konstruktionen von LeistungsansprĂŒchen und Verteilungskriterien, verschiedene politische und soziale Normensysteme sowie eine Vielfalt an Transfer-, Sach- und Dienstleistungen eine systematische Vergleichbarkeit.

Maschke begegnet dieser KomplexitĂ€t des Gegenstandes, indem er Gemeinsamkeiten im VerstĂ€ndnis von Behinderung herausarbeitet und eine durchgĂ€ngige Systematik fĂŒr die Beschreibung und den Vergleich der Behindertenpolitiken entwickelt (Kap. II). So legt er seiner Untersuchung gemĂ€ĂŸ einer europaweiten Entwicklungstendenz von einem medizinischen hin zu einem sozialen VerstĂ€ndnis von Behinderung die Internationale Klassifikation der FunktionsfĂ€higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO zugrunde: „Behinderung wird als die Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (ICD) und ihren Kontextfaktoren verstanden, die sich auf ihre FunktionsfĂ€higkeit, ihre AktivitĂ€ten und ihre Teilhabe auswirkt“ (47). FĂŒr die Analysen des politischen Umgangs mit Behinderung in den verschiedenen Nationen wird eine dreiteilige Typologie nach Zielen und Funktionen entwickelt. So unterscheidet er kompensatorische, rehabilitationsorientierte und partizipationsorientierte Elemente von Behindertenpolitik.

Mit Kapitel III beginnt der empirische Teil der Arbeit, in dem es zunĂ€chst um die Darstellung der Lebenssituation behinderter Menschen geht. Dabei soll die internationale EinschĂ€tzung europĂ€ischer Mitgliedsstaaten empirisch ĂŒberprĂŒft werden, dass behinderte Menschen als eine von Armut und sozialer Exklusion am stĂ€rksten betroffene Personengruppe sei. Auf der Basis des EuropĂ€ischen Haushaltspanels ECHP werden Daten zur Partizipation behinderter Menschen in Westeuropa anhand ihrer Teilhabe in zentralen Lebensbereichen analysiert. Die Ergebnisse zu Bildung, BeschĂ€ftigung, Einkommen, Wohnen, Freizeit und sozialen Kontakten belegen in der Zusammenschau, dass „behinderte Menschen trotz aller staatlichen BemĂŒhungen zur Reduktion von Armut und sozialer Ausgrenzung ein deutlich höheres Risiko als die Gesamtbevölkerung tragen“ (115).

Dieser Teil der Arbeit ist nicht nur aufgrund seines hohen Informationsgehalts ertragreich, sondern auch aufgrund der sehr sorgfĂ€ltigen und differenzierten Analysen und Interpretationen der Ergebnisse, die keine pauschalierten Aussagen ĂŒber die Situation ‚der Behinderten‘ zulassen. „Die Gruppe der behinderten Menschen ist kein monolithischer Block. Viele der behinderten Menschen zugeschriebenen sozioökonomischen Merkmale sind [
] weniger mit dem Merkmal Behinderung verbunden als vielmehr mit der spezifischen Zusammensetzung der Gruppe (z.B. Altersstruktur)“ (118).

Gleichwohl muss der Leser Grenzen der analysierten Datenquelle in Kauf nehmen. So können z.B. wohnbezogene Aussagen fĂŒr private Haushalte getroffen werden, wĂ€hrend zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen nach wie vor keine vergleichbaren Daten vorliegen. Dies stellt insofern ein erhebliches Forschungsdesiderat dar als vor allem in stationĂ€r geprĂ€gten LebenszusammenhĂ€ngen in einigen europĂ€ischen LĂ€ndern (z.B. Deutschland) teils erhebliche EinschrĂ€nkungen der selbstbestimmten LebensfĂŒhrung und der sozialen Teilhabe zu erwarten sein dĂŒrften. Zudem geben die Daten des ECHP keine Informationen ĂŒber Aspekte der Selbstbestimmung, Partizipation und des subjektiven Wohlbefindens, die fĂŒr Lebenssituation und Teilhabechancen behinderter Menschen durchaus bedeutsam sind.

Vor dem Hintergrund der analysierten Lebenssituation behinderter Menschen untersucht Maschke in Kapitel IV (fĂŒr das Jahr 2001) Umfang und Struktur von Behindertenpolitik in den EU Mitgliedsstaaten im Querschnitt. WĂ€hrend sich der monetĂ€re Umfang auf den Anteil der Ausgaben der Hilfesysteme fĂŒr behinderte Menschen (insbesondere Einkommenssicherung) am Sozialbudget bezieht, orientiert sich die Darstellung der Struktur an der zuvor vorgenommenen Systematisierung nach kompensations-, rehabilitations- und partizipationsorientierten Elementen. Im Ergebnis zeigt sich neben einer außerordentlichen HeterogenitĂ€t von Umfang und Struktur nationaler Behindertenpolitik, dass in jedem Land eine spezifische Mischung der drei Politikelemente zu finden ist (Policymix), wobei durchaus Schwerpunktsetzungen zu erkennen sind.

Kapitel V stellt die ZusammenfĂŒhrung der vorherigen Analysen dar: Angesichts der zentralen Ergebnisse, „dass die Lebensbedingungen behinderter Menschen in zentralen Lebensbereichen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung signifikant schlechter sind, und zum anderen, dass die Staaten im Durchschnitt erhebliche finanzielle Mittel fĂŒr die soziale Sicherung behinderter Menschen verwenden“ (173) bearbeitet Maschke im folgenden die Frage nach der Wirksamkeit von Behindertenpolitik.

Dabei untersucht er zwei fĂŒr die Policyanalyse zentrale Aspekte: „1) Besteht ĂŒberhaupt ein Zusammenhang zwischen der Behindertenpolitik und den Lebensbedingungen behinderter Menschen im jeweiligen Land? [
] 2) Wie ist der Zusammenhang zwischen der Makroebene (Umfang und Struktur von Behindertenpolitik) und der Mikroebene (der Teilhabechancen behinderter Menschen)?“ (ebd.) Die zentrale Erkenntnis dieser Analysen formuliert er zunĂ€chst zugespitzt: „Behindertenpolitik wirkt“ (190). Dabei ist insgesamt von einer eher unspezifischen Wirkung auszugehen, zumindest lassen sich nach Maschke auf Basis des vorliegenden Materials nicht fĂŒr alle FĂ€lle deutliche Hinweise darauf finden, welcher Typus und welche Maßnahmen von Behindertenpolitik wie wirken. Gleichwohl kann er einige ZusammenhĂ€nge aufdecken, die er schließlich zusammenfasst und auf dieser Basis RĂŒckschlĂŒsse fĂŒr die Behindertenpolitik zieht. BezĂŒglich der Aussagekraft dieser Wirkungsanalysen gilt es zu berĂŒcksichtigen, dass diese vor allem rechtliche und ökonomische Interventionen fokussieren, wĂ€hrend die (fĂŒr behinderte Menschen bedeutsame) interaktive Ebene der sozialen Dienstleistungen und diesbezĂŒgliche WirkungszusammenhĂ€nge weitgehend unberĂŒcksichtigt bleiben.

In Kapitel VI werden die Entwicklung der Behindertenpolitik in der EuropĂ€ischen Union auf inter- und supranationaler Ebene sowie auf Ebene der Nationalstaaten exemplarisch fĂŒr DĂ€nemark, Deutschland und Großbritannien im Hinblick auf kompensations-, rehabilitations- und partizipationsorientierte Elemente dargestellt und verglichen. Dabei wird ein starker grundlegender Wandel der europĂ€ischen Behindertenpolitik seit den 1990er Jahren beobachtet, der vor allem durch ein soziales Modell von Behinderung und entsprechend verĂ€nderten Zielen wie Inklusion und Abbau von Barrieren getragen wird. Maschke hĂ€lt fest „dass sich [
] das MischungsverhĂ€ltnis aus den drei idealtypischen Bereichen [
] so verĂ€ndert hat, dass die rehabilitations- und partizipationsorientierten Anteile von Behindertenpolitik gewachsen sind und der kompensationsorientierte Anteil gesunken ist“ (269), wenngleich der Großteil der staatlichen Mittel nach wie vor in den kompensationsorientierten Teil fließt. Trotz dieses gemeinsamen Trends lĂ€sst sich nach Maschke jedoch insgesamt keine Konvergenz in der Behindertenpolitik feststellen. Vielmehr ist diese vor allem in institutionell ausgestalteten Bereichen durch landesspezifische Ausgestaltungen der nationalen Politik weiterhin sehr unterschiedlich geprĂ€gt. Im Abschlusskapitel fasst Maschke die zentralen Ergebnisse seiner Analysen noch einmal pointiert zusammen und schließt mit einem kurzen Ausblick auf Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung einer zukunftsweisenden Behindertenpolitik auf europĂ€ischer Ebene.

Maschke leistet mit seiner Arbeit einen wichtigen Beitrag fĂŒr die Überwindung einer individualisierenden Sicht auf Behinderung als „persönliches Schicksal“ und eine neue Wahrnehmung von Behinderung als soziales Problem. Dabei schĂ€rfen seine Analysen und Interpretationen das Bewusstsein fĂŒr die gesellschaftliche Konstruktion von Behinderung bzw. fĂŒr die spezifische Verantwortung von Wohlfahrtsstaaten bei der Entstehung und BewĂ€ltigung von Behinderung. FĂŒr die Weiterentwicklung einer stĂ€rker partizipationsorientierten Behindertenpolitik in Europa liefern die vorgenommenen Auswertungen des ECHP sowie der systematische Vergleich der nationalen Behindertenpolitiken und ihrer Wirkungen eine wertvolle Basis. Dabei könnte sich die entwickelte Systematik nach drei Idealtypen fĂŒr weitere vergleichende Analysen als nĂŒtzlich erweisen, wenngleich Maschkes AusfĂŒhrungen zeigen, dass das BemĂŒhen um Vereinfachung und Vergleichbarkeit deutlich zu Lasten von detaillierten Analysen einzelner sozialpolitischer Leistungen und Programme geht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit erweist sich die entwickelte Systematik und ihre konsequente Einhaltung jedoch als ausgesprochen hilfreich fĂŒr eine klare und nachvollziehbare Strukturierung des umfĂ€nglichen Materials. Zudem erleichtern viele pointierte Zusammenfassungen sowie Übersichtstabellen die Orientierung beim Lesen und die Konzentration auf wesentliche Ergebnisse der Arbeit. Auch deshalb ist das Buch nicht fĂŒr Experten im Feld von Rehabilitation und Sozialpolitik, sondern auch fĂŒr Studierende der Politik-, Sozial- und Rehabilitationswissenschaften geeignet. Leider wird das LesevergnĂŒgen teilweise durch formale NachlĂ€ssigkeiten (viele „Tippfehler“) beeintrĂ€chtigt.
Gudrun Wansing (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gudrun Wansing: Rezension von: Maschke, Michael: Behindertenpolitik in der EuropĂ€ischen Union, Lebenssituation behinderter Menschen und nationale Behindertenpolitik in 15 Mitgliedsstaaten. Wiesbaden: VS Verlag 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115587.html