EWR 8 (2009), Nr. 1 (Januar/Februar)

Jörg Ramseger / Matthea Wagener (Hrsg.)
Chancenungleichheit in der Grundschule
Ursachen und Wege aus der Krise
(Jahrbuch Grundschulforschung, Band 12)
Wiesbaden: VS Verlag 2008
(306 S.; ISBN 978-3-531-15754-2; 39,90 EUR)
Chancenungleichheit in der Grundschule Das Buch ist der Kongressbericht zur 16. Jahrestagung der Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ in der DGfE im September 2007 in Berlin. Bereits an dieser Stelle ist hervorzuheben, dass die Herausgeber mit bewundernswerter Anstrengung den Band schon im August 2008 publizieren konnten und dass das Buch nicht lediglich eine Sammlung von Referats-Kurztexten ist, sondern u. a. mit längeren Basisartikeln umfassend zum Thema „Chancenungleichheit“ informiert.

Bei Kongressbänden bestehen immer die Probleme der Auswahl der zu veröffentlichenden Vorträge und des Umgangs mit den Beiträgen, die nicht zentral zum Thema handeln. Die Herausgeber haben diese Probleme gut gelöst, indem sie den Basisartikeln zum Kongressthema sieben bis elf Seiten einräumten und bei den Kurzbeiträgen die Autorinnen und Autoren (bei Bedarf) zu Themennähe aufforderten. Auf diese Weise ist ein Buch entstanden, das auch für Nicht-Teilnehmer der Tagung umfassend für die Themenkreise Chancenungleichheit, soziale Disparitäten im Bildungswesen (in der Grundschule), Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, Sprachförderung u.a.m. in den Forschungsstand einführt, konzeptionelle (auch begriffliche) Fragen klärt und die Vielfalt der Bemühungen um kompensatorische Erziehung in der Grundschule aufzeigt.

Von den weiter gefassten Basisbeiträgen, die (z.T.) als Plenumsvorträge die „Säulen“ der Tagung waren, sind vor allem die Texte von Klemm, Neumann, Cummins und Schründer-Lenzen hervorzuheben. Klaus Klemm zeigt noch einmal historisch und empirisch die Fakten zur Chancenungleichheit in der Grundschule auf und referiert dann fünf Reformansätze. Wie andere Autoren beklagt Klemm, dass zu einer erfolgreichen kompensatorischen Erziehung und Sprachförderung im Vorschul- und Grundschulalter Forschungsdefizite bestehen. Der Schwerpunkt des Beitrages liegt aber bei bildungspolitischen Ausführungen.

Ursula Neumann, die selbst das kompensatorische Programm FörMig (Förderung von Migrantenkindern) der BLK leitet, gibt einen hervorragenden Überblick über Förderkonzepte und stellt realistisch positive und negative Befunde dar. Mit diesem Beitrag kann man sich schnell über wichtige Förderansätze und die jeweiligen theoretischen und praktischen Probleme informieren. Ein Highlight in dem Buch ist der Aufsatz von Jim Cummins (Toronto) zur Kontroverse um monolinguale contra bilinguale Erziehung von Einwandererkindern. Cummins plädiert gegen den Mainstream für die Förderung der Erstsprache und für bilingualen Unterricht mit dem überzeugenden Argument, dass nur über die Erstsprache ein Selbstwertgefühl und eine stabile Identität der Kinder gegenüber den sozialen Abwertungen von Einwandererkindern (und gegenüber „Protestidentitäten“) aufgebaut werden kann (durch erfolgreichen, allgemeinen Kompetenzerwerb via Muttersprache). Es ist befremdlich, dass die internationalen Forschungsergebnisse dazu in Deutschland kaum rezipiert wurden. Der Artikel von Agi Schründer-Lenzen, dessen Text kein Plenums-Vortag war, ist eigentlich als „Basisbeitrag“ zu bezeichnen, weil er einen substantiellen, dicht gedrängten Überblick über aktuelle Forschungen zu migrationsbedingten Disparitäten enthält; er ergänzt sozusagen den Vortrag von Klemm mit einer Fülle inhaltlicher Aussagen zu empirischen Befunden bei der Förderung von Migrantenkindern.

Von den empirisch-quantitativen Forschungsberichten in Kurzfassung (jeweils vier Seiten) können nur exemplarisch einige genannt werden: Die Arnold-Gruppe zeigt methodisch streng die Sprachtests auf, auf denen am besten Förderansätze aufbauen können. Silvia-Iris Beutel und Renate Hinz berichten knapp, aber sehr informativ und verständlich von einem Projekt zur Selbstkonzeptentwicklung in jahrgangsübergreifenden Gruppen, wobei u.a. die erfreulichen „Nebeneffekte“ Beachtung verdienen (erfolgreiche Früheinschulungen, wenig Zurückstellungen) (weitere Auswertungen folgen, s.a. Bemerkung am Schluss der Rezension). Kucharz u.a. schreiben über den baden-württembergischen Modellversuch „Sprachförderung für Vorschulkinder“ (bis in die Grundschule hinein) und können Lernzuwächse durch das Programm für Kinder aus sozialen Brennpunkten nachweisen. Provozierendes Teilergebnis: in vielen Klassen muss die Leseerziehung kranken, weil nur sehr dürftige Klassenbibliotheken vorhanden sind. Weitere sehr gute empirisch-quantitative Beiträge stammen u. a. von Hardy u.a., Mücke, Hosenfeld sowie Kratzmann & Schneider.

Von den empirisch-qualitativen Forschungsprojekten möchte ich die Texte von Wagener, von Pohlmann & Kluczniok sowie von Wiesemann & Schreyer besonders erwähnen. Wagener arbeitet zu Metaprozessen bei selbstreguliertem Lernen und kann sehr schön Aktivitäten der Kinder beschreiben, die mit Ableitungen aus Theorien der Metakognition korrespondieren. Pohlmann & Kluczniok berichten von Erhebungen zu Elternmotiven bei Einschulungsentscheidungen, wobei nicht ganz klar ist, ob die Auswertungen explorativen Charakter für die Fragebogenkonstruktion haben oder eigenständig „Motivgeflechte“ der Eltern aufzeigen sollen. Die Arbeit von Wiesemann & Schreyer ist am meisten affin zum Kongressthema. Die Autorinnen beschreiben einen Fall von Partnerarbeit, bei der Inklusion angestrebt ist, aber ein Lernpartner dominant das Geschehen bestimmt. „Abstrakte Differenz“ soll hier in realen Interaktionen deutlich werden, jedoch kann man leise Zweifel äußern, ob tatsächlich „Handlungswissen“ (!) der Akteure erfasst wird und ob der Erkenntnisgewinn über Deskriptives hinausgeht. Der im Vorwort des Buches avisierten „Tiefendimension“ durch qualitative Studien wird am ehesten die Untersuchung von Wagener gerecht.

Neben den empirischen Beiträgen enthält das Buch auch Artikel, die den Stand der Schulentwicklung zur „Neuen Schuleingangsstufe“ und im Bereich der Förderprogramme in den 16 Bundesländern referieren, sowie Projektberichte zu Schulreformen in den Bundesländern (z.B. FLEX in Brandenburg), die jeweils sehr wertvoll sind.

Das Buch ist für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Bildungspolitiker empfehlenswert, die sich rasch über die aktuellen Zugänge zur Verringerung von Chancenungleichheit im Vorschul- und Schulbereich und die Forschung dazu informieren wollen. Den Herausgebern ist es auch gelungen, die Grundschulpädagogik zu internationalisieren, ein in der gegenwärtigen Hochschulpolitik gar nicht zu überschätzender Fortschritt, indem sie renommierte Referenten u. a. aus Kanada und England gewannen, deren Texte in englischer Sprache abgedruckt sind. Der Teil des Untertitels „Wege aus der Krise“ ist vielleicht etwas zu hochgestochen. Er lässt (bildungs-)politische Aussagen erwarten, die durch Fehler in der Integrationspolitik und fehlende Forschungsförderung noch nicht einzulösen sind; jedoch zeigt das Buch einige „Trittsteine“ möglicher pädagogischer Wege auf. Nicht ganz gelöst ist das Problem der Arbeitsberichte aus noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekten in einem Buch, das auch beansprucht, Basisliteratur für ein bildungspolitisch zentrales Thema und für die forschungsbasierten Innovationen dazu zu sein. Unter anderem aus diesem Grund rege ich an, dass für eine bessere Nutzbarkeit kurzer Forschungsreferate in Kongressbänden in jedem Bericht jeweils verpflichtend eine Langfassung als Download und eine E-Mail-Adresse der Autoren für weiterführende Informationen angegeben wird.
Wolfgang Einsiedler (Erlangen-NĂĽrnberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wolfgang Einsiedler: Rezension von: Ramseger, Jörg / Wagener, Matthea (Hg.): Chancenungleichheit in der Grundschule, Ursachen und Wege aus der Krise (Jahrbuch Grundschulforschung, Band 12). Wiesbaden: VS Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115754.html