Mit dem zu besprechenden Buch legt Henning Schluß eine Auswahl eigener Arbeiten aus den Jahren 2000 bis 2008 in einer überarbeiteten und durch neue Textabschnitte zu einem Gesamtwerk verbundenen Form vor. Die große Linie des Buches wird im „Vorwort“ und im Kapitel zum „Fragehorizont“ gezeichnet (11-24). Schleiermachers Reden „Über die Religion“ liefern die Problemdisposition: In der Moderne gibt es eine Differenz zwischen der binnenperspektiven Thematisierung von Religion und der säkularen Außenperspektive auf Religion. Bemerkenswerterweise vermeidet es Schluß, diese Situation als ein säkularisierungsbedingtes Spezialproblem der Religion zu interpretieren. Stattdessen bestimmt er im Rekurs auf Habermas diese Lage als Ausdruck einer allgemeinen Disposition des modernen öffentlichen Diskurses. Mit Habermas gilt es nach Schluß festzuhalten, „dass es in der postsäkularen Gesellschaft prinzipiell keine Gesprächsteilnehmer gibt, die anders als vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen argumentieren können“(13). Mit dem solchermaßen bestimmten Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit ist m.E. das für die Konstitution einer pluralitätsbewussten Theorie öffentlicher Bildung wesentlich notwendige Strukturmerkmal bezeichnet.
Falls in diesem Zusammenhang von einer besonderen Problematik der Religion die Rede sein kann, dann allenfalls insofern, als dass die religionsinterne Diskurskultur besonders in Ostdeutschland auf eine der christlichen Religion entfremdete Öffentlichkeit trifft. Schluß thematisiert dieses Phänomen unter der Überschrift „Religionslosigkeit als Ausgangssituation für religiöse Bildung“ (75). Ob es sich allerdings z.B. mit dem naturwissenschaftlichen Diskurs grundlegend anders verhält, wäre noch zu prüfen. Vermutlich würde sich zeigen, dass die Verwendung von naturwissenschaftlicher Semantik im öffentlichen Diskurs irrtümlicher Weise als Anzeiger einer Diskurskongruenz wahrgenommen wird. Aber das führt zu Fragen der Bildungstheorie und allgemeinen Didaktik der Naturwissenschaften. Bei Schluß geht es um religiöse Bildung. In einer ersten Denkbewegung fragt Schluß nach den „Voraussetzungen“ (25-92). Zunächst geschieht dies im Rückbezug auf Martin Luther (27-55). Schluß arbeitet heraus, dass schon bei Luther die eingespielten Indikatoren moderner Pädagogik vorliegen. So werden die Anfänge der pädagogischen Moderne historisch. Offensichtlich sind sie schon vor der das disziplinäre Selbstverständnis prägenden Zeit der Wende zum 18. Jahrhundert zu finden. Freilich: Epocheneinteilungen dienen weniger der historischen Analyse als vielmehr der Verständigung über die Gegenwart. Das gilt natürlich auch in Bezug auf die Arbeit von Schluß.
Für die Absicht seiner Ausführungen wesentlicher sind die anschließenden Überlegungen zum Religionsbegriff (57-92). Hier plädiert Schluß dafür, Religion nicht begrifflich festzustellen, sondern als ein „diskursives Phänomen“ (so schon in der Einleitung [vgl. 20] vorweisend) zu begreifen. Wenn diese – überraschenderweise ohne konstitutiven Bezug auf Luthers „Woran du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott“ gewonnene – Einsicht festgehalten wird, dann kann die Position, dass wir es in unserer Gegenwart mit einer religionslosen Zeit zu tun haben (Bonhoeffer, vgl. 61-64), ihre soziologisch beschreibende Kraft entfalten (Pollack, vgl. 66-73), ohne die ebenso plausible Einsicht zu dementieren, dass Säkularisierung soziologisch als ein Prozess der Individualisierung der Religion bis hin zu ihrer Unsichtbarkeit beschrieben werden kann (Luckmann, vgl. 64-66). Ohne die Einsicht in die Diskursivität des Religionsbegriffs, darin ist Schluß unbedingt zuzustimmen, kommt es zu einer schon analytisch, vor allem aber praktisch „fatale(n) Kommunikationssituation, die entsteht, wenn Menschen, die sich selbst als religionslos verstehen, als in Wirklichkeit doch religiös definiert werden“ (78, vgl. auch 121).
Bildungstheoretisch zieht Schluß daraus die Konsequenz, dass es gilt, den Religionsdiskurs als solchen zum Thema der Bildung zu machen (vgl. auch 20): „Deshalb ist es auch eine Aufgabe der religiösen Bildung in der religionslosen Welt, die religiöse Sprache wie eine Fremdsprache zu erlernen“ (89). Ein solches Verständnis der (religiösen) Bildung als Wechselspiel von Rekonstruktion und Viabilitätsprüfung historischer (Religions-)Diskurse ist m.E. pluralitätstheoretisch unverzichtbar. Freilich ist es von seinem Ansatz her nicht sonderlich neu, sondern findet sich schon am Ausgangspunkt der gegenwärtigen religionspädagogischen Konzeptionsdiskussion. Bei Gert Otto nämlich wurde das gleiche Argument wie folgt formuliert: In seiner Sprache kommt der Menschen zu seiner Welt, weshalb der Religionsunterricht als Sprachunterricht zu begreifen sei [1].
In einem kurzen (Exkurs-)Teil wendet sich Schluß nun der juristischen Diskussion um die Fächer LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) und Ethik (93-111) zu. Der Gewinn dieses Teils besteht allerdings weniger in der detaillierten Beschreibung der juristischen Diskussionen, als vielmehr darin, dass unter der Oberfläche des juristischen Streites ein politisch-pädagogisches Syndrom in Grundzügen erkennbar wird. Schluß bezieht sich auf Max Webers zunächst methodologische, in ihrer Pragmatik aber zugleich politiktheoretische Forderung nach Werturteilsfreiheit: „Anders schätzte Weber die Situation in Ländern, in denen Universtäten z.B. freie Stiftungen sind und so konkurrierend unterschiedlichen Wertkonzepten anhängen, ein“ (103). Auf dieser Linie, die bildungs- und politiktheoretisch expliziter hätte ausgezogen werden sollen, plädiert Schluß für eine Unterscheidung zwischen legitimer Verpflichtung zur Thematisierung von Wertoptionen („Pluralitätsgebot“) und der illegitimen Verpflichtung für diese oder gegen jene Wertoption zu stehen („Neutralitätsgebot“). Diese Unterscheidung hebt den juristischen Streit um den „Erziehungsauftrag des Staates, der nicht nur ein ‚wertfreier‘ Bildungsauftrag ist, sondern bestimmte Erziehungsziele festschreibt“ (104) natürlich nicht auf, ist aber m.E. geeignet, den politisch zu verantwortenden pädagogischen Optionen zu einer nachvollziehbaren Argumentation zu verhelfen.
Im vierten Teil thematisiert Schluß wieder „Konzepte und Probleme religiöser Bildung“ (113-146): „Welches Interesse kann die Öffentlichkeit in einem überwiegend religionslosen Raum an schulischer religiöser Bildung haben […]?“ (115) Schluß argumentiert hier für eine Entpersonalisierung der Wahrnehmung der Lage der Religion in der Gesellschaft. Er gewinnt diese Option aus einer Interpretation der Religionstheorie Schleiermachers: „Er (Schleiermacher, CK) hält sie (die religiöse Tätigkeit, CK) fest als eine Tatsache der Menschheit (die Gattung) und damit als eine Möglichkeit für den einzelnen Menschen“ (122). Die bildungstheoretische Leistung dieses Ansatzes kann darin gesehen werden, dass er zweierlei ermöglicht. Ein solcher Ansatz kann die Selbstthematisierung breiter Schichten als religionslos in sich aufnehmen, ja, ihr eine eigene Dignität zuerkennen. Und er kann dies tun, ohne dass es in religiöser Binnenperspektive zu einem kulturpessimistischen Alarmismus kommen muss. Freilich kann die persönliche Sinnhaftigkeit der kulturell gegebenen Möglichkeit des religiösen Weltzugangs niemandem andemonstriert werden. Sie bleibt wie jede Kultur des Weltzugangs eine der Freiheit des Einzelnen vorbehaltene Möglichkeit der Menschheit.
Bleibt schließlich noch die normative Frage, warum jeder Mensch als Teil der allgemeinen Bildung über eine „zumindest basale religiöse Kompetenz“ (132) auch tatsächlich verfügen sollte. Schluß verfolgt diesbezüglich eine doppelte Argumentation. Zunächst verweist er auf die Funktionalität bzw. auch Disfunktionalität tatsächlich vorhandener Religion. Öffentliche Plausibilität sollte der religiösen Bildung genau dann zuwachsen, wenn sie „antifundamentalistische Selbstaufklärung“ (134-135) ermöglicht und der „Verständigung zwischen den Religionen“ (135-137) dient. Als emanzipatorische Bildung wird öffentliche Bildung zudem immer auch der Einsicht strukturell Rechnung tragen müssen, dass das Aufwachsen in der Moderne immer durch eine „unbestimmte religiöse Identität“ (144-146) charakterisiert ist. Die Ermöglichung biographischer, d.h. eben nicht durch Herkunft definierter Identität, muss auch und gerade als Prinzip religiöser Bildung praktisch werden. Vornehm zurückhaltend, von der Sache her aber punktgenau markiert Schluß die m.E. entscheidende Entwicklungsaufgabe für die schulische Religionspädagogik: „Für den konfessionellen Religionsunterricht bleibt diese Anforderung eine Herausforderung, der er strukturell antworten muss“ (145).
Im letzten Teil diskutiert Schluß „Ausgewählte Praxisfelder religiöser Bildung“ (147-183). Wenn hier das Fach LER, Religionsphilosophische Schulwochen und die Praxis von Kindertheologie besprochen werden, dann erinnert diese Zusammenstellung systematisch an die Moralpädagogik von Friedrich Wilhelm Förster (1869-1966). Diese kommt zwar aus völlig anderen Bezügen als die Pädagogik von Schluß. Im Gespräch mit Förster aber würde sich die m.E. notwendige und bislang sowohl religionspädagogisch als auch allgemeinpädagogisch zu wenig reflektierte Frage ergeben, welcher Rahmen oder welche Denkform denn die religiöse Bildung konstituieren soll, wenn es im öffentlichen Kontext nicht mehr eine – wie modern auch immer entfaltete – binnenperspektivische Kirchlichkeit sein kann. Die Untersuchungen von Henning Schluß eröffnen diesbezüglich einen inhaltlich strukturierten Fragehorizont und zeigen zudem sehr deutlich, dass diese Frage keine kirchlich private ist, sondern eine Frage von eminent öffentlichem, weil bildungstheoretischem Interesse.
[1] Vgl. Gert Otto (1964): Evangelischer Religionsunterricht als hermeneutische Aufgabe. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 61, S. 236-249.
EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)
Religiöse Bildung im öffentlichen Interesse
Analysen zum Verhältnis von Pädagogik und Religion
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft 2010
(215 S.; ISBN 978-3-531-16325-3; 34,95 EUR)
Christian Kahrs (Moritzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Kahrs: Rezension von: Schluß, Henning: Religiöse Bildung im öffentlichen Interesse, Analysen zum Verhältnis von Pädagogik und Religion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353116325.html
Christian Kahrs: Rezension von: Schluß, Henning: Religiöse Bildung im öffentlichen Interesse, Analysen zum Verhältnis von Pädagogik und Religion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353116325.html