EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

Franz Breuer
Reflexive Grounded Theory
Eine EinfĂĽhrung fĂĽr die Forschungspraxis
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(182 S.; ISBN 978-3-531-16919-4; 19,90 EUR)
Reflexive Grounded Theory Die vorliegende Einführung in eine reflexive Grounded Theory ist im Kontext eines – so die Diagnose – vorherrschenden quantitativen Paradigmas in der Psychologie verfasst. Der Autor versucht daher, die Darstellung der Methodologie und Methode der Grounded Theory anschlussfähig für Forschende zu machen, denen ein nomothetisch-naturwissenschaftlicher Forschungszugang geläufig ist. Die im Buch vorgestellte Einführung in den sozialwissenschaftlichen Forschungsstil einer „Reflexiven Grounded Theory“ wurde in Hochschulseminaren entwickelt und erprobt. Das Buch gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel steht der ethnographische Forschungszugang im Zentrum. Im zweiten wird in die Methodologie und Methode der Grounded Theory eingeführt. Das dritte Kapitel geht auf die Selbst-/Reflexivität der forschenden Person ein. Den Abschluss bilden zwei Beispiele.

Das erste Kapitel befasst sich mit den „Methodologische(n) Grundlagen sozialwissenschaftlicher Ethnographie“. Hierbei wird zunächst das Verhältnis von Forschungsmethodik und zugrunde gelegtem Menschenbild erläutert. Am Beispiel des Behaviorismus erklärt Breuer die Bedeutung von Objektmodellen für die Ausrichtung von Forschung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze werden als Perspektiven eingeführt, die sich an hermeneutisch-interpretativem Denken orientieren und damit qualitative Verfahren assoziieren. Diese werden als Gegensatz zur in der Psychologie gängigen Perspektive dargestellt: „Die universitäre Mainstream-Psychologie hat sich […] von dieser Entwicklung gegenwärtig entschieden abgekoppelt. Der Hase läuft dort in eine ganz andere Richtung“ (19).
Sozialwissenschaftlicher Ethnographie kommt in der Darstellung eine besondere Bedeutung zu. Die in der Ethnographie ausdifferenzierte Diskussion um die Position des / der Forschenden im Feld wird in ihren zentralen Positionen nachgezeichnet.

Das zweite Kapitel widmet sich dem „Forschungsstil der Grounded Theory“. Bevor jedoch der Ansatz der Grounded Theory vorgestellt wird, wird die Differenz von „Erklären“ und „Verstehen“ als Differenz zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften eingeführt. Ausführlich geht der Autor auf die sozialwissenschaftliche Hermeneutik als Haltung und Auslegungsverfahren ein. Die Grounded Theory Methodologie wird als „hermeneutisches Regelwerk“ (50) charakterisiert, das eine „Mittelstellung“ (51) einnimmt zwischen einem Forschungsinteresse an „subjektiven Konzeptualisierungen der Akteure“ und der „dezidierten Entkoppelung der wissenschaftlichen Interpretation vom Selbstverständnis der Akteure aus dem alltagsweltlichen Kontext“ (50). Sie entwickelt auf der Grundlage subjektiver Konzepte wissenschaftliche Theorien.

Es folgt eine Darstellung der „methodischen Werkzeuge der Grounded Theory“ (51). Ausführlich werden die Entwicklung der Forschungsfrage aus einem anfänglichen Interesse, der Umgang mit Literatur, der Datenbegriff und die Samplebildung, Fragen des Feldzugangs sowie die Logik und die Schritte des Kodierens erörtert. Hierbei wird sowohl auf die Grounded Theory nach Strauss – insbesondere seine Begrifflichkeit – als auch auf die Grounded Theory in der Lesart von Glaser – vor allem im Hinblick auf die Kodierfamilien – eingegangen. Ein ausführliches Analysebeispiel einer Interviewsequenz veranschaulicht die vorangehenden Ausführungen. Anschließend geht der Autor knapp auf die Arbeit mit Computersoftware, das Schreiben einer Grounded Theory sowie die Diskussion um Gütekriterien ein, bevor abschließend die Entstehungsgeschichte dieses Forschungsansatzes skizziert wird.

Im dritten Kapitel geht es um die im Titel angekündigte Weiterentwicklung der Grounded Theory zu einer reflexiven Methodologie und Methode. Im Zentrum der Ausführungen steht die Bedeutung der Reflexion durch die forschende Person selbst. Die Reflexion wird als ein entscheidendes Instrument im Forschungsprozess entworfen. In Anschluss an Devereux, der sich mit der „Störung“ des Untersuchungsfeldes durch Forschungsinteraktion auseinandersetzt, erläutert Breuer „personale Resonanzen“ als „positive Erkenntnismöglichkeiten“ (127). Mit Hilfe eines Forschungstagebuchs, der Reflexion von Forschungsinteraktion sowie dem Austausch mit anderen Forschenden sollen diese Erkenntnismöglichkeiten genutzt werden. Der Autor skizziert Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene in der Forschungsinteraktion und stellt die genannten Verfahren als „Äquivalent zur Lehranalyse des Psychoanalytikers“ (128) vor. Die zunächst vor dem Hintergrund der Psychoanalyse verfassten Ausführungen über personale Resonanzen werden in einem zweiten Schritt nochmals vor dem Hintergrund der Kommunikationstheorie von Watzlawick u.a. skizziert. Hierbei liegt der Fokus auf der Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsebene in der menschlichen Kommunikation. Der Beziehungsaspekt wird dann als Charakteristik des Gegenstandsfeldes und seiner Akteure rekonstruiert.

Das abschließende vierte Kapitel enthält zwei Beispiele für die Forschungsarbeit mit der reflexiven Grounded Theory. Sie sind verfasst von Antje Lettau – sie schreibt über Erfahrungen beim Schreiben ihrer Diplomarbeit – und Barbara Dieris, die Reflexionen im Zusammenhang mit der Diplomarbeit und der Dissertation erläutert. Beide schildern ihre „individuelle Aneignung“ vor dem Hintergrund einer psychologischen Fachkultur, die „qualitativ-sozialwissenschaftliche Denkweisen und Forschungspraxen nur in seltenen Fällen – und dann in Nischenkontexten – vorbereitet und fördert“ (143).

Vor dem Hintergrund der diagnostizierten Vorherrschaft nomothetisch-naturwissenschaftlich orientierter Forschung in der Psychologie verfasst, versucht der Autor für diese Fachtradition anschlussfähig zu sein. Die Darstellung der Methodologie und Methode der Grounded Theory ist daher mit sehr grundlegenden forschungsmethodologischen Einführungen verbunden. Diese werden häufig von Begrifflichkeiten und Überzeugungen der quantitativen Forschung ausgehend entwickelt. Die Darstellung wird so teilweise sehr abstrakt und erscheint in diesen Passagen weniger geeignet für Studierende, die sich im Vokabular der quantitativen Forschung nicht auskennen. Eine bisweilen unterhaltsam saloppe Sprache (siehe obiges „Hasen-Zitat“ auf Seite 19) bildet hier einen auflockernden Kontrast. Die ausführlichen Erläuterungen zur praktischen Umsetzung, insbesondere das anschauliche Forschungsbeispiel, sind hingegen leicht verständlich und gut nachvollziehbar.

Die Ausführungen werden immer wieder durch Einschübe mit weiterführenden Texten unterbrochen. Es sind entweder zusätzliche Hintergrundinformationen zu einzelnen in den Kapiteln genannten Aspekten (z.B. „Das Konzept der Norm-Versuchsperson und ihr organismischer Charakter“, 17) oder weitergehende Klärungen der zentralen Begriffe (z. B. „Deduktion – Induktion – Abduktion“, 53f). Die Einschübe sind im Inhaltsverzeichnis mit aufgelistet, so dass sie einfach nachgeschlagen werden können.

Neben der „Verteidigung“ des „anderen“ Forschungszugangs innerhalb der psychologischen Fachdisziplin ist das dezidierte Interesse an der forschenden Person ein weiterer roter Faden, der sich durch das Buch zieht. Er mündet daher nachvollziehbar in die vom Autor als Weiterentwicklung dargestellte, reflexive Haltung der Forschenden, die im letzten Kapitel an zwei Beispielen veranschaulicht wird. Auch wenn dieser Gedanke sich bereits in anderen Darstellungen zur Grounded Theory findet, so ist diese explizite Ausrichtung auf den Erkenntnisgewinn durch Reflexion meiner Ansicht nach eine ertragreiche Erweiterung bestehender Ansätze.
Ruth Michalek (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ruth Michalek: Rezension von: Breuer, Franz: Reflexive Grounded Theory, Eine EinfĂĽhrung fĂĽr die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353116919.html