EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Marcus Emmerich / Ulrike Hormel
Heterogenität – Diversity – Intersektionalität
Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz
Wiesbaden: Springer VS 2013
(293 S.; ISBN 978-3-531-17159-3; 39,99 EUR)
Heterogenität – Diversity – Intersektionalität Nach Trautmann und Wischer [1] liegt nun die zweite bedeutende deutschsprachige Monographie zur Reflexion und Entschleierung des pädagogischen Heterogenitätsdiskurses vor – allerdings deutlich differenzierter und eindeutig soziologisch, im engeren Sinne sowohl system- als auch ungleichheitstheoretisch basiert. Insofern handelt es sich um eine Fortsetzung der von Luhmann und Schorr 1987 begonnenen Tradition der Beschreibung von „Reflexionsproblemen im Erziehungssystem“.

Grundfigur der Analyse von Emmerich und Hormel ist die Frage nach der Aufnahme von außerhalb liegenden Kategorien gesellschaftlicher Differenzierung durch das Schulsystem und deren Anschluss an die eigene Kommunikation (‚Matching‘). Allerdings kann die Untersuchung wenig konkret von der Inhaltsseite zeigen, welche „Realitätserwartungen“ mit sozialen Kategorien verbunden sind (33), als vielmehr die Formseite beschreiben, wie und welche Kategorien aufgenommen werden und mit welchen Effekten dies verbunden ist.

Allen Diskursen zu Differenz, Heterogenität und Diversity ist gemeinsam, dass sie die Erzeugung von Differenzen außerhalb der eigenen Systemgrenzen annehmen und deren Bearbeitung innerhalb des Systems vor allem der moralischen Kommunikation anheimstellen (dies gilt in Sonderheit für die pädagogischen Differenz- und Heterogenitätsdiskurse). Damit folgen sie der Luhmannschen Beobachtung, dass die Erzeugung von Ungleichheit im System unthematisiert bleibt und die Differenz statt dessen den Individuen zugerechnet wird (hier erweitert um die Beobachtung, dass die Differenzen dem System als vorgängig deklariert werden). Die Aufmerksamkeit für Heterogenität verändert paradoxerweise also nicht, sondern verstärkt geradezu die Funktion leistungsbezogener Allokationen mit Referenz zu vorgelagerten Differenzkategorien, die eben die Unterschiede schon erzeugt hätten.

Machttheoretische Reflexionen bleiben dabei für beide Felder der Erzeugung von Differenzen ausgeblendet – sowohl außerhalb der Systeme, weil sie dann nicht vom System bearbeitet werden können, als auch innerhalb der Systeme, weil die Systeme ja die Differenzen nicht selbst zu verantworten haben und hier lediglich für deren Gleichbehandlung zu sorgen haben im Sinne von Anerkennung der Verschiedenheit (‚egalitärer Differenz‘ [Prengel]). Das damit verbundene Reifikationsproblem bleibt dabei unthematisiert. Und zugleich wird auf diesem Wege Ungleichheit entpolitisiert und harmonisiert – zugespitzt bezogen auf den Diversity-Ansatz schreiben Emmerich und Hormel: „Die Bezugnahme auf Diversity [lässt] die politisch-rechtlich konturierte Thematik von Ungleichheiten zugunsten einer auf individuelle Leistungsfähigkeit, Kompetenzen und Ressourcen bezogenen Differenzsemantik in den Hintergrund treten“ (197).

Neben dieser behaupteten Unschuldigkeit an der Erzeugung von Differenzen im pädagogischen Kontext ist gleichzeitig eine Beliebigkeit der Verwendung der Kategorien zu verzeichnen: während Ethnizität und Gender offenbar ubiquitär verhandelt werden, ist beispielsweise soziale Klasse im organisationstheoretischen Diversity-Ansatz offenbar dysfunktional (wobei sich die Funktionalität der Kategorien unter Berücksichtigung der Organisationsziele erschließen lässt). Dennoch, so konstatiert das Autorenteam, fehle es Heterogenitäts- und Diversity orientierten Ansätzen an einer grundlegenden sozialwissenschaftlich informierten Grundierung. Am Intersektionalitätsansatz wird – obgleich er die Ungleichheitsthematik wieder in den Vordergrund rückt – im schlechtesten Fall sogar ein backlash ausgemacht: Während insbesondere poststrukturalistische Theorien „identitäts- und gruppenlogische“ Beobachtungsperspektiven kritisiert hätten, kehren diese nun zurück (214), wenn beispielsweise Überkreuzungen der Kategorien ‚Geschlecht‘ und ‚Migration‘ untersucht werden sollen. Insofern liefere der Intersektionalitätsansatz auch erkenntnislogisch keinen Zugewinn (226). Zudem sei zu befürchten, dass Intersektionalität in der Pädagogik schließlich zu einer „Chiffre für ‚Vielfalt plus Ungleichheit‘“ generiere (243). Dennoch könnte Intersektionalität, wenn dieser Ansatz auf die Annahme von fixen, vorgängigen Kategorien verzichte, eine aufschlussreiche Beobachter/innenperspektive für systemrelevante und möglicherweise intersektionale Produktionen und Wirkungsweisen von sozialen Differenzierungen eröffnen (ebd.).

Vorgeschlagen wird also eine Beobachtung zweiter Ordnung, die solche Differenzsetzungen innerhalb des Systems beschreiben kann, um die Beteiligung der Schule an sozialer Differenzierung durch eigenlogische Operationen deutlich werden zu lassen. Damit wird die Boudonsche These der Selbstselektionseffekte sozialer Herkunft als Ursache für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit, wie sie der empirischen Bildungsforschung i.d.R. zugrunde liegt, zurückgewiesen (246ff).
Prototypisch für die vorgeschlagene Beobachtung zweiter Ordnung wird die Studie von Gomolla und Radtke [2] empfohlen. Eine solche Perspektive könnte die Ursachen mangelnden Bildungserfolgs nicht mehr auf Seiten der Adressaten und Adressatinnen, sondern auf Seiten des Systems verorten (262). Dies führt schließlich zu der Aufforderung, in empirischen Projekten zu zeigen, „welche Differenzkonstruktionen für die professionelle Handlungspraxis faktisch beobachtungsleitend werden und wie sich dies auf konkrete In- und Exklusionsprozesse innerhalb des Schulsystems auswirkt“ (263).

Diese vorzügliche Studie entdeckt also ein altes Problem neu: die Thematisierung von Differenz, Heterogenität und Diversity folgt nicht der Logik der Dekonstruktion, sondern im Gegenteil der Logik der Reifizierung, die sich durch Bildungsstudien im large-scale-Format sogar stabilisiert.

Eine Kritik sei dennoch erlaubt: In einer Fußnote wird explizit auf die Auslassung des Integrations-/Inklusionsdiskurses verwiesen, weil Behinderung keiner schullogischen Differenzsetzung, sondern eher einer medizinisch-psychiatrischen folge (107f) – dies lässt sich für die am häufigsten diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarfe Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache gerade nicht behaupten, so dass eine Nachfolgeuntersuchung zum pädagogischen ‚Inklusionskonzept‘ sicher auch nicht mehr lange auf sich warten lässt.

[1] Trautmann, Matthias/Wischer, Beate (2012): Heterogenität in der Schule. Wiesbaden: VS
[2] Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS
Vera Moser (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Emmerich, Marcus / Hormel, Ulrike: Heterogenität – Diversity – Intersektionalität, Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117159.html