EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Katrin Sill
Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Ein sozialpĂ€dagogisch begrĂŒndetes Ganztagsbetreuungskonzept im Kontext der Transitionsforschung
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010
(257 S.; ISBN 978-3-5311-7653-6; 34,95 EUR)
Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule ÜbergĂ€nge zwischen Institutionen, wie zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule, spielen in Bildungslaufbahnen eine entscheidende Rolle. Deshalb werden solche ÜbergĂ€nge und deren Verlauf fokussiert und konzeptionelle Rahmen von Bildungsinstitutionen wie die von Ganztagsschulen u. a. mit dem Ziel des Abbaus von Bildungsungleichheit an ÜbergĂ€ngen stetig weiterentwickelt.

In der Dissertation von Katrin Sill wird der Übergang von der Familie in die Grundschule betrachtet. Sie unternimmt dabei den „Versuch [
], das bereits vorhandene Ganztagsschulkonzept einem ‚durchdachten‘ Ganztagsschulkonzept fĂŒr die Schule gegenĂŒber zu stellen“ (58). Ihr Anliegen ist, ein sozialpĂ€dagogisch orientiertes Ganztagsschulkonzept zu entwickeln. Dies begrĂŒndet sie mit der Notwendigkeit zur UnterstĂŒtzung von Kindern bei der Transition von der Familie in die Grundschule.

Zentral auf konzeptioneller Ebene ist nach Sill einerseits der individuelle Übergang von Kindern in die Schule bzw. die Frage „inwieweit [
] Ganztagsbetreuungsangebote die Entwicklungsaufgaben bei der BewĂ€ltigung von Transitionen berĂŒcksichtigen“ (29) und Kinder darin unterstĂŒtzen sowie andererseits die Öffnung von Schule, d. h. es werden mögliche Kooperationen mit außerschulischen Institutionen und die Chancen sozialpĂ€dagogischer AnsĂ€tze fĂŒr ein sozialrĂ€umliches Ganztagsbetreuungskonzept (29) eruiert.

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel. Nach dem Geleitwort (von Hans-Ludwig Schmidt und Bernd Birgmeier, den Dissertationsbetreuern an der Katholischen UniversitĂ€t EichstĂ€tt-Ingolstadt), der EinfĂŒhrung und einem historischen Blick auf die Ganztagsschulentwicklung (Kap. 1) folgen ein kursorischer Überblick zum Ganztagsschulkonzept (Kap. 2) und ein lĂ€ngeres theoretisches Kapitel zur Transition von der Familie in die Schule (Kap. 3). Der Hauptteil thematisiert die Passung der TransitionsĂŒberlegungen im Kontext des Ganztagschulkonzeptes (Kap. 4) und in zwei Kapiteln am Ende den sozialpĂ€dagogischen Beitrag fĂŒr ein ganztĂ€giges schulisches Betreuungsprogramm (Kap. 5) sowie knapp die Dimension Sozialraum der Schule (Kap. 6), gefolgt von einem zusammenfassenden Ausblick.

Das erste Kapitel gibt einen Überblick zu Historie und politisch-pĂ€dagogischen BegrĂŒndungen von Ganztagsschule seit den 1970er-Jahren in der ehemaligen BRD bis ins Jahr 2009. Die Legitimation von Ganztagsschule sieht die Autorin u. a. in einer notwendigen Reform von Schule zum Abbau von Chancenungleichheit (38-39), in verĂ€nderten Bildungsanforderungen (36-38) und vor allem in einer gewandelten Familiensituation (hinsichtlich Betreuungsbedarf: 42-44 und Erziehungsverhalten: 48-54) begrĂŒndet.

Was Ganztagsschule konzeptionell neben einem unspezifischen „Mehr an Zeit“ fĂŒr die Schule und deren Bildungs- und Erziehungsauftrag bedeutet, klĂ€rt Sill im anschließenden Kapitel. Eine Steigerung der BildungsqualitĂ€t sieht sie durch eine „einseitige Leistungsorientierung“ (60) und eine VerkĂŒrzung auf schulisches Lernen (61) gefĂ€hrdet. Sie hĂ€lt die Integration der Schule in das außerschulische Umfeld fĂŒr bedeutsam und sucht eine „Neuorientierung aus sozialpĂ€dagogischer Perspektive [
] fĂŒr die Schule“ (63). Knapp werden zudem die Organisationsformen (offen/gebunden) erlĂ€utert, je bildungsförderliche und -hinderliche Aspekte aufgegriffen sowie Schule als ausgewogener Raum zum Lernen und Leben bzw. WohlfĂŒhlen (75ff) betont.

Im dritten Kapitel bearbeitet Sill umfassend die theoretische RĂŒckbindung des Transitionsbegriffs, legt dessen UrsprĂŒnge sowie Querverweise dar und rekurriert auf das Transitionsmodell nach Griebel/Niesel [1]. Sie zeigt die Entwicklungsaufgaben bei der BewĂ€ltigung der Transitionen auf individueller, interaktionaler sowie kontextueller Ebene (90-98) und die Ambivalenz der Transition (106/109) zugleich als chancenreiche BewĂ€ltigung wie riskantes Scheitern auf. Zudem betont sie entwicklungsfördernde Aspekte der TransitionsbewĂ€ltigung (109). Dabei habe Schule die Aufgabe, die nötigen Ressourcen bereitzustellen, die sozialpĂ€dagogische Dimension (138) zu stĂ€rken und die Transition zu gestalten (113ff).

Welchen Beitrag Ganztagsschulkonzepte leisten können, um die TransitionsbewĂ€ltigung fĂŒr Kinder zu gewĂ€hrleisten, fragt Sill im vierten Kapitel (151). Es werden StĂ€rken und Herausforderungen des Konzeptes anhand transitionsbedingter Entwicklungsaufgaben auf individueller und interaktionaler Ebene verglichen (152-168). Dabei sieht Sill Kinder, FachkrĂ€fte und Eltern als Co-Konstrukteure. Auf kontextueller Ebene entwickelt sie QualitĂ€tskriterien eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes entlang des erweiterten Bildungsbegriffes, der im Zwölften Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung entfaltet wurde, und verweist auf die Notwendigkeit des Zusammenspiels unterschiedlicher Akteure in der Trias aus Bildung, Betreuung und Erziehung im Prozess des Aufwachsens, die in Kapitel fĂŒnf semantisch zwar richtig, aber auf den Fokus der SozialpĂ€dagogik begrenzt bleiben. Dies mĂŒndet in den knappen Kapiteln fĂŒnf und sechs in dem Fazit, dass Schule es sich (will sie dem Scheitern im Bildungssystem begegnen) nicht leisten könne, auf sozialpĂ€dagogische und -rĂ€umliche Ressourcen zu verzichten.

Will man das vorliegende Buch einschĂ€tzen, irritiert bereits beim Lesen des Titels die Formulierung: „Das“ Ganztagsbetreuungskonzept und es stellt sich die Frage: Gibt es das? In dieser Annahme liegt eine Grenze des Buches, da es undifferenziert von dem Ganztagsschulkonzept ausgeht und darauf aufbauend versucht, ein Konzept zu entwickeln, ohne beispielsweise Unterschiede diverser Organisationsformen systematisch zu berĂŒcksichtigen. Zwar wird die BegrĂŒndung eines sozialpĂ€dagogischen Ganztagsschulkonzeptes durchaus beleuchtet, jedoch zu wenig differenziert, wenn man die HeterogenitĂ€t zwischen BundeslĂ€ndern hinsichtlich der Bildungsbeteiligungsquoten nach Schul- und Organisationsformen vergleicht [2]. Bei der Entwicklung eines Konzeptes mĂŒsste daher auf diese HeterogenitĂ€t eingegangen werden und diese zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden. Zudem fĂŒhrt bei der rasanten Entwicklung des Ganztagsausbaus und seiner kontinuierlichen Erforschung bereits die Verwendung wenige Jahre alter Literatur zu Diskrepanzen. Als Beispiel sei Sills Annahme angefĂŒhrt, die Primarstufe sei vorrangig von gebundenen Organisationsformen dominiert (69). So wĂ€re es hilfreich, dem Leser den betrachteten Zeitraum transparent aufzuzeigen, da die offene Organisationsform mittlerweile bedeutsamer ist [2]. Die LektĂŒre des Buches ist daher ratsam fĂŒr Interessierte der Transitionsforschung, da die Herausforderungen beim Schuleintritt aus dieser Perspektive gut herausgearbeitet werden. BezĂŒglich des Ganztagsschulaspekts trĂŒben jedoch UnschĂ€rfen die Betrachtung, wodurch auch das entwickelte Konzept zu unspezifisch bleibt.

Fraglich ist darĂŒber hinaus, welche Bilder von Familie und (Ganztags-)Schule den Überlegungen zugrunde liegen. Denn Sill stellt einerseits die Verlagerung von Erziehungsaufgaben „mehr und mehr auf die Schule“ (25) fest, da viele Eltern ihnen „nicht nachkommen (können)“ (25). Indes aber „dĂŒrfen der Familie die primĂ€ren Sozialisations- und Erziehungsaufgaben nicht entzogen werden“ (25) und Schule wird andererseits nur als „familienergĂ€nzende Einrichtung“ (25) betrachtet. Diese Annahmen gilt es zu hinterfragen bzw. ihre jeweiligen PrĂ€missen aufzuklĂ€ren.

Im Geleitwort bewerten Schmidt/Birgmeier die Dissertation ĂŒber eine „sozialpĂ€dagogische Transitionsforschung als neues und innovatives Forschungsparadigma der SozialpĂ€dagogik als Wissenschaft“ (18) und hoffen auf seine Etablierung. Ob sich eine sozialpĂ€dagogische Transitionsforschung durchsetzt, muss offen bleiben. Es wĂ€re angebracht, dass bei einer solchen Vertiefung der Transitionsforschung die Sichtweise auf Ganztagsschulkonzepte differenzierter nach Organisations- und Schulformen erfolgt, da nur so die konzeptionelle HeterogenitĂ€t (es gibt nicht das eine Ganztagsschulkonzept) angemessene BerĂŒcksichtigung findet.

[1] Griebel, Wilfried / Niesel, Renate: Transitionen. FÀhigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, VerÀnderungen erfolgreich bewÀltigen. Weinheim: Beltz 2004.

[2] Sekretariat der Kultusministerkonferenz (KMK) der LĂ€nder in der Bundesrepublik Deutschland: Allgemein bildende Schulen in Ganztagsform in den LĂ€ndern der Bundesrepublik Deutschland – Statistik 2003 bis 2007. Bonn: Sekretariat der KMK 2009. URL: http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/Statistik/GTS_2007.pdf (Zugriff 26.07.2011)
Pia Rother (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Rother: Rezension von: Sill, Katrin: Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule, Ein sozialpĂ€dagogisch begrĂŒndetes Ganztagsbetreuungskonzept im Kontext der Transitionsforschung. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117653.html