Die räumlichen Bedingungen von Schule und Unterricht sind seit einiger Zeit zunehmend zum Gegenstand der Bildungsforschung geworden. Im vorliegenden Buch rückt nicht der materielle Raum von Schule ins Zentrum der Analyse, sondern der Entwurf pädagogischer Interaktionsräume. Es wird gefragt, wie Schulen diesen Interaktionsraum im Sinne von Machtverhältnissen definieren und begründen (41, 56) – allerdings fehlt eine auf den Punkt gebrachte Fragestellung. Der Interaktionsraum wird als Gefüge von wirksamen Machtverhältnissen verstanden, das durch den materiellen oder den entworfenen Raum zwar nicht determiniert aber vorstrukturiert wird (31). Die Autorinnen analysieren aus dem Internet gesammelte Schullogos von 600 Schulen unterschiedlicher Schultypen (Grund-, Haupt- und Realschule sowie Gymnasium) als Repräsentationsobjekte und als Symbole für das Selbstverständnis der Schulen. Von 7200 gesichteten Logos haben die Autorinnen 150 pro Schultypus ausgewählt, weil für die Hauptschulen lediglich 150 Logos gefunden wurden. Nach welchen Kriterien die Auswahl stattgefunden hat und weshalb die gesammelten Logos der Gesamtschulen bei der Auswertung nicht berücksichtigt wurden, bleibt offen.
Ziel der Studie ist eine empirisch begründete Typologie schulischer Raumentwürfe, um festzustellen, welche Machtbeziehungen darin dominieren (11). Die Studie ist Teil eines aktuellen Forschungsprojekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen einer raumwissenschaftlichen Schul- und Bildungsforschung, deren Ziel es ist, auf die Problematik metaphysischer Begründungen des pädagogischen Raums in der Moderne hinzuweisen, Paradoxien aufzudecken und Reflexionswissen für die professionelle, wissenschaftlich begründete Schulentwicklung bereit zu stellen (79f).
Die Autorinnen verstehen die bildlichen Inhalte der Schullogos als Metaphern für pädagogische Orientierungen, die unterschiedliche Rahmung der Logos als Metapher für die Art und Weise, wie die Schulen in ihrem Selbstverständnis die Grenze zwischen innen und außen bzw. zwischen Schule und Gesellschaft markieren und damit Ein- und Ausschluss signalisieren, und die Bildkomposition als Metapher für Interaktionsmuster und Machtverhältnisse im schulischen Raum, insbesondere für den Umgang mit Heterogenität (45-49). Sie gehen von der raumphilosophischen Annahme aus, dass die Bedeutung des Raums nur symbolisch erschlossen werden kann (27).
Um die Bedeutung der Schullogos zu rekonstruieren, bedienen sich die Autorinnen der Ikonik von Max Imdahl, nach der der Sinn eines Bildes nur aus dem Verhältnis zwischen den inhaltlichen und formalen Bildelementen erschlossen werden könne. Sie grenzen sich explizit von der Ikonologie, die von einer erfahrungsbedingten Interpretation ausgeht, und von der Ikonographie, die den Sinn von Bildern aus dem kulturhistorischen Kontext erschließt, weshalb sie die Perspektive der Akteure, die Entstehungsgeschichte und die Rezeption der Logos ausklammern (52). Imdahls Kritik der ikonologisch-ikonographischen Methode stellen die Autorinnen aus der Sekudärliteratur dar, und deren Vertreter haben sie offensichtlich nicht im Original bearbeitet (57). Während sie für die theoretischen Konstrukte Autoren von Durkheim bis heute ahistorisch anwenden, scheinen sie anzunehmen, die Ikonik mache die ikonographisch-ikonologische Methode überflüssig. Die Ansätze Imdahls und Panofskys ergänzen sich aber eher, als dass sie sich ausschließen.
Die Untersuchung des „bedeutungsgenerierenden Verhältnisses“ der Bildkomposition erfolgt in drei methodischen Schritten: die Bildelemente werden inhaltlich nach den Codes Kultur, Humanes und Natur sortiert, die Rahmung analysiert und die Muster nach Kriterien der Symmetrie beschrieben. Die Ergebnisse der Codierungen werden in tabellarischer Form mit anschließender Beschreibung anhand von Beispiellogos veranschaulicht. Diese sind graphisch nicht gerade komplex, weshalb sich fragen lässt, ob das Nachzeichnen der Rahmen und Muster auf Folien nötig war.
Die Ergebnisse der Untersuchung werden in den letzten fünf Kapiteln kumulativ präsentiert und raum- und machttheoretisch als Typologien schulischer Machträume interpretiert. In diesem letzten Schritt werden unterschiedliche Theorien verbunden, um Raumtypen mit den ihnen korrespondierenden Sozialformen und Machtverhältnissen darzustellen. Allerdings gehen diese Verbindungen, im Gegensatz zum Anspruch der Autorinnen, nicht aus empirischen, induktiv gewonnenen Resultaten hervor, sondern aus semantisch hergestellten Analogien zwischen Raum- und Machttheorien. Das Abstraktionsniveau ist derart hoch, die Komplexität der Sache derart vereinfacht, dass es schlussendlich plakativ wird, weil die Argumentation auf Schlagworte reduziert wird, die zum Teil ungenügend erörtert wurden und selbst zur Metapher werden. Dieser Mangel wird mit äußerst redundanten rückblickenden und prospektiven Zusammenfassungen inklusive der Wiederholung einer Tabelle auf der nachfolgenden Seite „zur Erinnerung“ (93f) kompensiert. Das stört die Systematik und gibt zu verstehen, dass keine hohe Lesekompetenz vorausgesetzt wird.
Die Autorinnen kommen zum Schluss, dass die inhaltliche Begründung der Schulen schulformspezifisch erfolgt: Die Grundschule sei reformpädagogisch auf Mensch, Natur und elementare Kulturtechniken ausgerichtet, während die weiterführenden Schulen „regelschulisch“ die Effektivität der Vermittlung abstrakter Ordnungssysteme und kulturellen Wissens ins Zentrum stellten. Beiden Begründungsmustern sei ein metaphysischer Duktus und eine teleologische Argumentation gemein, denn sie verweisen auf einen letzten Grund zur Legitimation des pädagogischen Raums: das individuelle Entwicklungspotential einerseits und der gesellschaftliche Fortschritt andererseits. Die Art der Rahmung verweise auf den Umgang der einzelnen Schulen mit den Entgrenzungsdynamiken des Pädagogischen und mit der schulpolitisch geforderten Öffnung der Schulen. Die Analyse habe gezeigt, dass schulformübergreifend der Schulraum nach außen materiell oder interaktiv abgegrenzt wird, was sie als Widerstand der Schulen und Verteidigung ihres Bildungsmonopols interpretieren. Schließlich bestehe ein Zusammenhang zwischen der äußeren Rahmung und den innerhalb der Rahmung begünstigten Sozialformen, anhand derer die Schule als „Machtraum der Selektion“ sichtbar werde, denn unterschiedliche Sozialformen repräsentieren unterschiedliche „Machtstrategien der Selektion und damit verbunden differente Umgangsformen mit Heterogenität“ (118). Die Autorinnen stellen fest, dass die Mehrheit der Logos geschlossene Raumentwürfe aufweisen und dass die Schulen aller Schultypen hierarchisch bzw. asymmetrisch verstandene Machtverhältnisse vertreten und homogenisierte Schülergruppen herstellen (wollen) (155-158) – damit schließen die Autorinnen vom Diskurs auf die Wirklichkeit. Die nicht signifikante Gruppe offen konzipierten Schulen weise hingegen auf die Entschulung der Kultur und die Anerkennung unterschiedlicher Lernräume mit entsprechenden Machtrelationen hin, was einer Öffnung gegenüber der Möglichkeit unterschiedlicher Lernerfahrungen entsprechen soll (162f). Diese Erwartung auf Grundschulkinder übertragen ignoriert kinderpsychologische Erkenntnisse.
Es ist offensichtlich, dass die Autorinnen einen bestimmten, ‚politisch korrekten’ Raumtypus (137) und die reformpädagogische Orientierung von Schulen (96) bevorzugen. Sie kritisieren das Machtpotential des Staats und weisen gleichzeitig auf die gesetzlich geforderte Öffnung der Schule hin. Es ist fragwürdig, ob die Wissenschaft Argumente für die Durchsetzung eines politischen Programms liefern muss.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Schule als pädagogischer Machtraum
Typologie schulischer RaumentwĂĽrfe
Wiesbaden: VS Verlag 2011
(178 S.; ISBN 978-3-531-17779-3; 24,95 EUR)
Marianne Helfenberger (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marianne Helfenberger: Rezension von: Böhme, Jeannette / Herrmann, Ina: Schule als pädagogischer Machtraum, Typologie schulischer RaumentwĂĽrfe. Wiesbaden: VS Verlag 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117779.html
Marianne Helfenberger: Rezension von: Böhme, Jeannette / Herrmann, Ina: Schule als pädagogischer Machtraum, Typologie schulischer RaumentwĂĽrfe. Wiesbaden: VS Verlag 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117779.html