EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Melanie Stadermann
SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen
Zwischen Wissensmanagement und sozialen Aushandlungsprozessen
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
(387 S.; ISBN 978-3-531-17909-4; 39,95 EUR)
SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen Vor dem Hintergrund der zunehmenden Omnipräsenz digitaler Medien in allen Bereichen des Lebens und damit auch der Präsenz von digitalen Unterrichtsmedien besitzt die gewählte Thematik Bedeutung. Mit der digitalen Medialisierung des Unterrichts wird auch die Frage zu stellen sein, ob sich die Rolle des Mediums im Unterricht wandelt oder ob der Wandel nur zugeschrieben wird. Medienhersteller argumentieren mit vielen Vorteilen wie beispielsweise höherer Motivation, besserer Visualisierung, Ansprache verschiedener Lerntypen, Vermittlung von Medienkompetenz sowie der Verbesserung der Lernergebnisse. Auch Praxisratgeber für Lehrkräfte werben für digitale Medien [1]. Der wissenschaftliche Diskurs zu digitalen Medien im Unterricht wird bisher verhalten geführt. Im deutschsprachigen Raum wurden Studien zur Wirksamkeit digitaler Medien überwiegend von Stiftungen und Herstellern (ko-)finanziert [2]. Pädagogische Mehrwertvermutungen werden kaum hinterfragt, ihre Nachteile werden überwiegend auf der technischen Ebene diskutiert. Insofern ist mit dieser Veröffentlichung auch ein wissenschaftlicher Beitrag zur Klärung der Funktion und Rolle von digitalen Medien in Lernprozessen zu erwarten.

Die Autorin weist schon mit dem Titel ihrer hier veröffentlichten Dissertation darauf hin, dass sie eine differenzierte Sicht auf Medien und Lernen entfalten will, wobei der Titel eine Einschränkung auf digitale Medien nicht erkennen lässt. Im Zentrum steht das Lernen in sozialen Aushandlungsprozessen zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrpersonen. Die Herstellung von Zusammenhängen zum Wissensmanagement kommt unerwartet, da deren Modelle Geschäftsprozesse im Unternehmen abbilden. Dieser neue Blickwinkel erscheint jedoch sehr interessant und könnte die Diskussion um Lernumgebungen in der Schule beleben. Stadermanns Studie schließt an Ergebnisse von SITES M2 (Second Information Technology in Education Study Module 2) an, bei der eine qualitative Untersuchung mit Fallstudien in der Primarstufe sowie der Sekundarstufe I und II stattfand. Diese Studie kam zu dem Schluss, dass sich der Schwerpunkt des Lernens unter Nutzung digitaler Medien von der Vermittlung zur Aneignung und zu einem verstärkt selbst gesteuerten und zugleich kooperativen und kollaborativen Lernen verlagert (14). Die in der deutschen SITE-Studie aufgezeichneten, aber nicht ausgewerteten Videos sollten nun herangezogen werden, um die Selbst- und Fremdsicht der Akteure (Interviews) mit dem beobachtbaren Verhalten der Akteure im Unterricht (Video) zu ergänzen. Ziel war es, den Einfluss des digitalen Medieneinsatzes auf das soziale Geschehen und die Lernprozesse sowie fördernde bzw. hemmende Aspekte zu identifizieren.

Kapitel 2 widmet sich zunächst der theoretischen Fundierung computergestützter Lern- und Austauschprozesse auf Grundlage einer gemäßigten konstruktivistischen Lerntheorie. Daran schließen Ausführungen zum Wissensmanagement (Münchner Modell) an. Im letzten Theorieteil widmet sich die Autorin digitalen Medien und ihrem Potenzial zur Interaktivität. Kritisch zu bemerken ist, dass die Autorin den Begriff der digitalen Medien zwar diskutiert, aber zu keiner eigenen Arbeitsdefinition kommt. Sie subsumiert darunter alle Arten von Computern sowie deren Vernetzung im Inter- oder Intranet sowie alle Formen von Peripheriegeräten und Anwendungsprogrammen. Auch ein eigener Begriff zur mediengestützten Lernumgebung wird nicht explizit definiert, was jedoch angesichts des Buchtitels zu erwarten gewesen wäre. Der Stellenwert von Medien im Unterricht verbleibt bei der allgemeinen Feststellung, dass es sich um Lehr- und Lernmittel handele (vgl. 72).

Im Weiteren erfolgt eine Eingrenzung auf das Lernumgebungskonzept, das Gerhard Tulodziecki und Bardo Herzig von anderen mediendidaktischen Konzepten (Lehrmittel-, Arbeitsmittel-, Baustein-, Systemkonzept) unterscheiden, ohne dass die Autorin eine Analyse der Fälle hinsichtlich der Einordnung in die unterschiedlichen Konzepte expliziert. Diese Eingrenzung fokussiert von vornherein auf kooperative Lernformen. Ein damit verbundenes Problem der Untersuchung ergibt sich aus der Annahme, dass allein durch das Setting der offenen und kooperativen Unterrichtsformen Effekte bei der Rollenaushandlung und des Wissensmanagements entstehen können. Da ein Vergleich mit nicht offenen Lernarrangements sowie Lernarrangements ohne digitale Medien bzw. in anderen Konzepten nicht geführt wird, kann der Einfluss digitaler Medien nach Auffassung der Rezensentin nicht zufriedenstellend geklärt werden.

Im Kapitel 3 wird die Forschungsfrage spezifiziert. Zum einen geht es um die Auswirkungen der interaktionalen Strategien auf die Aneignung, den Austausch und die (Ko-)Konstruktion von Wissen. Zum anderen soll untersucht werden, wie der Medieneinsatz die sozialen Aushandlungsprozesse bedingt und erfolgreiches Wissensmanagement fördert oder behindert. Das Forschungsdesign wird erläutert und die zu Grunde gelegten Fälle der SITE-Studie werden skizziert. Die Auswertung der Daten soll anhand der Grounded Theory erfolgen. Dazu wird das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung nach Becker-Beck (1997) mit dem paradigmatischen Modell von Strauss & Corbin (1996) verknüpft, um die empirischen Phänomene der zu untersuchenden Unterrichtssituationen zu erfassen und zu strukturieren: a) Genderfokus der Computernutzung und -sozialisation (intervenierende Bedingung/Merkmale des Individuums), b) problemorientierte Lernumgebungen unter Integration digitaler Medien(Kontext), c) Interaktionsmuster der Akteure beim gemeinsamen Wissensmanagement (interaktionale Strategien/Gruppeninteraktionsprozess) und d) Erwerb von Schlüsselqualifikationen (Konsequenz). Hier überrascht, dass als Konsequenz allein der Erwerb von Schlüsselqualifikationen angesetzt wird und nicht beispielsweise die vorher beschriebene Anregung und Förderung von Lernprozessen, die Aktivierung der Selbststeuerung, die Unterstützung von Wissenskonstruktionen oder Medienkompetenz.

Im Kapitel 4 wird ein eigenes Modell zum gemeinsamen Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen dargestellt, auf dessen Basis die Ergebnisse aus den Video- und Interviewdaten sehr ausführlich auf beinahe 200 Seiten dargestellt werden. Eine Straffung oder auch zusammenfassende Darstellung würde dem Leser hier entgegenkommen.

Im Kapitel 5 erfolgt eine Kategorisierung der untersuchten Interaktionsprozesse. Die Autorin entwickelt dazu in Anlehnung an das SYMLOG-Raummodell ein Vier-Felder-Modell des Wissensmanagements. So entstehen vier Interaktionsmuster: symmetrische Kooperation, asymmetrische Kooperation, Dominanz-/Unterwerfungsstruktur und Konkurrenzkampf. Daran schließt eine Wiederaufnahme der Ausgangsfrage bezüglich der Rolle der digitalen Medien in offenen Lernumgebungen durch Ergänzung als dritte Dimension im Vier-Felder-Modell an.

Eine Stärke des Bandes liegt in dem entwickelten Modell des Wissensmanagements. Spannend und bedeutsam für die Didaktik ist die Herausarbeitung der vier Felder des Wissensmanagements in den untersuchten offenen Lernarrangements. Dadurch wird zum einen die allgemeine Feststellung der SITE-Studie, dass Lehrpersonen sich zunehmend als Moderater und Berater erlebten und SchülerInnen unter Nutzung der digitalen Medien und im sozialen Austausch sich Wissen aneigneten, nutzten und generierten, nicht nur präzisiert, sondern auch dimensioniert. Auch mit der Diskussion von Stärken und Schwächen bzw. förderlichen und hinderlichen Aspekten des Wissensmanagements erfolgt eine deutliche Stellungnahme zum zugeschriebenen didaktischen Mehrwert digitaler Medien.

Obwohl die Forschungsfragen beantwortet wurden, stellt sich die Frage, ob durch die Einschränkung auf digitale Medien das entwickelte Modell nicht an Wert verliert. Die Spezifizierung für digitale Medien ist interessant und erhellend, jedoch lassen sich andere Medien hier ebenso diskutieren. Ein zunächst medienunspezifisches Modell wäre für die Theoriebildung ebenso denkbar und weitgreifender.

Da bislang Forschungsstudien zum Einsatz digitaler Medien sehr rar sind, ist diese Untersuchung insgesamt ein wichtiger Beitrag zur medienpädagogischen Theorienbildung. Das gewählte methodische Vorgehen wird als sehr geeignet eingeschätzt, um solch komplexe soziale Phänomene wie Unterricht zu untersuchen.

Der besondere Wert und die Überraschung des Buches liegen jedoch in der Verknüpfung von theoretischen Elementen des Wissensmanagements und sozialen Aushandlungsprozessen und deren Übertragung in mediendidaktische Überlegungen im Kontext von Schule und Unterricht. Auf eine Weiterführung dieser Verknüpfung dürfen wir gespannt sein.

[1] vgl. z.B. Schlieszeit, Jürgen (2011): Mit Whiteboards unterrichten. Das neue Medium sinnvoll nutzen. Weinheim: Beltz.
[2] vgl. z.B. Gollnick, Ines (2010): Schule interaktiv. Pädagogische Pioniere verändern Lehren und Lernen. Bonn: Deutsche Telekom Stiftung.
Gabriele Graube (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Graube: Rezension von: Stadermann, Melanie: SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, Zwischen Wissensmanagement und sozialen Aushandlungsprozessen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117909.html