EWR 11 (2012), Nr. 2 (März/April)

Juliane Lamprecht
Rekonstruktiv-responsive Evaluation in der Praxis
Neue Perspektiven dokumentarischer Evaluationsforschung
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012
(305 S.; ISBN 978-3-5311-7985-8; 39,95 EUR)
Rekonstruktiv-responsive Evaluation in der Praxis Wie schon im Titel deutlich wird, liegen der Fokus und die Basis des Buches auf der von und um Ralf Bohnsack im Rahmen der dokumentarischen Methode ausgearbeiteten Methodologie. Die Studie verfolgt das Anliegen, die Möglichkeiten der von Bohnsack entwickelten Methodik der Moderation in Evaluationen zu erforschen, die mit fundiert-rekonstruktiven Verfahren operieren.

Im einleitenden Kapitel wird zunächst verdeutlicht, dass rekonstruktiv-responsive Evaluationsforschung über das herkömmliche Interesse der Evaluationsforschung hinausgehe. Als herkömmliches Interesse der Evaluationsforschung werden Normierung und Bewertung benannt (15). Zudem nehme die klassische Evaluationsforschung die Interdependenz von wissenschaftlicher Forschung und Praxis durch ihr methodisches Vorgehen quasi nicht ernst, während die hier gewählte rekonstruktiv-responsive Evaluationsforschung genau dies täte (siehe auch 243).

Stringent, elaboriert und dicht schildert die Autorin die Forschungspraxis der rekonstruktiv-responsiven Vorgehensweise und entfaltet entlang der Begrifflichkeiten „Evaluation“ und „Moderation“ und mit Blick auf die Rolle von EvaluatorInnen die Abgrenzungen zu Verfahren, bei denen feste Qualitätskriterien als Parameter für Evaluationen dienen.

Den aktuellen Evaluationsdiskurs in Deutschland (nicht den deutschsprachigen Evaluationsdiskurs) sieht Lamprecht im Wesentlichen durch zwei Ansätze gekennzeichnet. Ein Ansatz fokussiert entsprechend ihrer Ausführungen auf praxeologische Perspektiven, während ein anderer die Profilbildung des Berufsbilds von EvaluatorInnen verfolgt. Der im Wesentlichen anhand von zwei Publikationen exemplarisch dargestellte Diskurs macht deutlich, so die Autorin, dass Evaluationsmethoden im Hinblick auf die Rückmeldung und Vermittlung von Evaluationsergebnissen defizitär bleiben und in methodologischen Reflexionen bislang wenig Beachtung finden. Genau an diesem Punkt setzt die Arbeit von Lamprecht an.

Die Kritik erscheint plausibel, wenngleich es wünschenswert wäre, andere Bezugsquellen außer der exemplarisch reflektierten Publikationen von Tasso Brandt, Eva Barlösius und der DeGEval zumindest zu benennen. Eine Erweiterung der Perspektive über die institutionalisierenden Perspektiven und den nationalen Kontext hinaus hätten sicherlich zu einem verbreiterten Blickwinkel und somit zu einer über zwei Ansätze hinausreichenden Einschätzung des aktuellen Evaluationsdiskurses geführt. Der internationale Kontext wird dabei vor allem im Hinblick auf die Verbindung von Evaluation und Moderation hin rezipiert. Bezugspunkte bilden – entsprechend des Forschungsinteresses der Autorin – methodologische Ebenen und praxistheroretische Überlegungen darüber, wie Stakeholder sich mit Evaluationsergebnissen auseinandersetzen.

Auch wenn der Fokus auf Entwicklungen innerhalb der rekonstruktiven Sozialforschung liegt, wäre es wünschenswert, bei der Betrachtung der methodologischen Ebene zumindest Einblicke in den „Restdiskurs“ zu erhalten. In diesem Zusammenhang überzeugt insbesondere nicht, dass bei Referenzen auf AutorInnen, die auf methodologischer Ebene den internationalen Diskurs verstärkt berücksichtigen, ausschließlich solche genannt werden, die mit der dokumentarischen Methode arbeiten (31). Dies wird dem Gesamtdiskurs in seiner inzwischen weit fortgeschrittenen Internationalisierung und Interdisziplinarität nicht gerecht.

Das Forschungsinteresse der Studie wird zum Abschluss des ersten Kapitels nochmals expliziert. Die Studie greift demnach die oben geschilderten offenen Fragen der responsiven Evaluationsdiskurse auf. Lamprecht hat dazu ein komplexes Modell rekonstruktiv-responsiver Evaluationsforschung entwickelt und erprobt.

Das Feld für diese innovative Forschung bilden pädagogische Akteure des Übergangs vom Elementar- in den Primarbereich, d.h. ErzieherInnen und LehrerInnen. Diese trafen sich über den Zeitraum von acht Monaten im Rahmen eines Programms der Deutschen Kinder und Jugendstiftung (DKJS) mit Moderatorinnen. Für die Studie wurden insgesamt drei Gruppen mit unterschiedlicher Größe (N=5, N=7, N=9), Zusammensetzung und unterschiedlichem Verständnis bezüglich ihrer Alltagspraxen ausgewählt. Eine vierte Gruppe bilden Moderatorinnen, die die Gespräche zwischen dem Fachpersonal moderieren.

Die Gruppen werden entsprechend des DKJS-Programms („Tandem. Unterschiede managen“) als Tandemgruppen bezeichnet und mit Städtenamen maskiert (San Francisco, Paris und New York plus Moderatorinnengruppe). Der Terminus Tandem und die dazugehörigen Städtenamen werden zunächst genutzt ohne eingeführt zu werden, was den Einstieg in die fallspezifische Vorgehensweise in Kapitel 2 erschwert und beim Lesen Fragezeichen und Suchprozesse entstehen lässt. Dadurch, dass die Städtenamen auch in der Gliederung auftauchen, wurde bei der Leserin zunächst der Eindruck erweckt, dass städte- bzw. sogar länderübergreifend geforscht wurde. Zudem wurden Irritationen darüber ausgelöst, dass die Mitgliederzahl eines sogenannten Tandems bis zu neun Personen beträgt. Hinweise zum besseren Verständnis finden sich dann teilweise im ausführlichen und informativen, 86 Seiten umfassenden Anhang, der online über die Website des VS Verlags einsehbar ist.

Auch die Begründung für die Auswahl genau dieser vier Gruppen fällt sehr kurz aus und lässt Fragen über die Gesamtanzahl und Spezifitäten der zur Auswahl stehenden Gruppen entstehen. Uneinheitlich werden die Begrifflichkeiten „Forscherin“ und „Evaluatorin“ genutzt und zunächst nicht explizit gemacht, dass es sich hier in Bezug auf das DKJS-Programm um die Autorin des Buches selbst handelt.

Zur Rekonstruktion von Kommunikation und Interaktion innerhalb der im Fokus stehenden Gruppen wurden Gruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtungen und Videographien durchgeführt. Ausgewählte Interpretationen der Forscherin von den Gruppendiskussionen wurden sowohl an ErzieherInnen und LehrerInnen als auch an die Moderatorinnen im Rahmen von responsiven Gesprächen rückgekoppelt, um so einen alternativen Zugang zu eigenen und alternativen Bewertungslogiken zu schaffen.

Das multimethodische Vorgehen eröffnet einen Zugang zu verschiedenen Dimensionen der Erwartungshorizonte von ErzieherInnen und LehrerInnen. Die Methaphorik von Horizonten geht auf Luhmann zurück und wurde von Bohnsack aufgegriffen. Lamprecht wählt entsprechend die Untersuchung von Erwartungshorizonten (im Zusammenhang mit körperlich-räumlichen Praktiken) und Vergleichshorizonten als forschungsmethodischen Zugang und begründet dies plausibel. Ausführlich und in chronologischer Reihenfolge werden Beschreibungen der teilnehmenden Beobachtung und Gesprächsverfahren dargestellt. Die Erörterung der Videointerpretation erfolgt unter rezeptionsanalytischen Gesichtspunkten. Rezeptionsanalysen werden klassischerweise in Medienwissenschaften durchgeführt. Die Autorin bezieht sich mit ihrer Vorgehensweise vor allem auf die von Bohnsack beschriebenen Produkt- und Rezeptionsanalysen (192).

Die Rekonstruktionen fallübergreifender Bewertungslogiken werden in einem ersten Schritt auf drei Dimensionen (Sozialität, semantischer Sachbezug, Zeitlichkeit) und ihren wechselseitigen Zusammenhang bezogen. Anhand von Beispielen zeigt und belegt die Autorin, wie immer alle drei Dimensionen bei der Konstitution von Bewertungslogiken zum Tragen kommen. In einem zweiten Schritt werden diese Dimensionen mit den Bewertungslogiken der Moderatorinnen (die vorrangig sachlich-semantisch sind) verglichen. Die Ergebnisse werden anschließend aufgegriffen und auf ihre soziogenetischen Hintergründe hin befragt, wobei die Autorin sich bewusst ist, dass nicht auf die Repräsentativität der Fälle, sondern vielmehr auf die mehrdimensionale Forschungsperspektive abgezielt wird (214).

Bevor diese Ausführungen in fallspezifische und allgemeine Überlegungen prozessanalytischer Evaluationsverfahren münden, widmet sich die Autorin in Kapitel 3 den Konsequenzen ihrer Untersuchungen. Sie nimmt dabei Bezug auf den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule und auf Konstruktionen von Kindheit in der Kindheitsforschung und in der Ritualforschung. Dies geschieht, indem zunächst zentrale Ergebnisse der Studie zusammengefasst und dann Teilaspekte in sehr knapper, aber sinnvoller Verknüpfung zu den gerade genannten Punkten gesetzt werden. Das Kapitel mündet in einem Ausblick, der vor allem die Potentiale der prozessanalytischen Evaluationsstudie hervorhebt, weniger jedoch die Grenzen der Vorgehensweise.

Auf der Grundlage der Rekonstruktionen wurden von der Autorin vier Ebenen (werttheoretische, kommunikationstheoretische, vergleichstheoretische und organisationstheoretische Ebene) identifiziert, diese werden ausführlich beschrieben, an theoretische Aspekte angebunden und mit der Untersuchung der Tandemgruppen verknüpft. Im Fokus stehen dabei methodologische und methodische Bezugspunkte der responsiven Evaluationsgespräche (mit Ausnahme der Abhandlung der organisationstheoretischen Ebene). Metaphorische Zugänge zu Bewertungslogiken werden als zentral betrachtet und diskutiert.

Die Autorin erläutert im Schlusskapitel die Relevanz ihrer Forschung aus dem demokratischen Verständnis heraus, das praktische Wissen der Beteiligten zu würdigen und nennt Beispiele für Diffusionsprozesse ihrer Ergebnisse auf Makro-, Meso- und Mikroebene (z.B. dass die Ergebnisse zur konzeptionellen Entwicklung künftiger DKJS-Programme genutzt werden konnten (Meso-Ebene)). Abschließend reflektiert die Autorin ihre Vorgehensweise vor dem Hintergrund der Frage, ob und wie sich gewohnte Bewertungslogiken erweitern lassen und betont u.a. die Bewährung der Nutzung einer Breite von (Gesprächs-)Medien.

Juliane Lamprecht hat mit ihrer Arbeit ein Forschungsdesiderat aufgegriffen und dieses sorgsam und fundiert bearbeitet. Der Ansatz lässt sich als in hohem Maße partizipativ beschreiben, da die Interpretationen der Evaluatorin zurückgemeldet und diskutiert werden. Evaluation wird so als kritischer Reflexionsprozess genutzt. Ralph Bohnsack hat für die Publikation von Juliane Lamprecht das Vorwort geschrieben. Nachvollziehbar lobt er die Arbeit als erfolgreich und innovativ und betont den Gewinn für MethodikerInnen, TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Evaluation.

Ergänzend soll hier angemerkt werden, dass die Semantik für diese Gruppen, die sich (ggf. noch) nicht mit responsiver Sozialforschung und der dokumentarischen Methode beschäftigen, teilweise schwer zugänglich ist. Auch der selbstreferentielle Charakter der Publikation schafft nicht nur Verständnis-, sondern auch Anschlussbarrieren für „Außenstehende“. Das erzeugt durchaus einen ambivalenten Eindruck, da einerseits ein ausdifferenzierter und elaborierter Diskurs möglich wird, sich aber gleichzeitig die Frage nach der Annäherung an bestehende Diskurse zu Evaluationsnutzungen (und den damit einhergehenden Rückmeldungsprozessen von Ergebnissen) stellt. Eine Anschlussfähigkeit wird zwar von der Autorin in Aussicht gestellt (13), allerdings nicht wieder aufgegriffen, dadurch werden eher die Unterschiede zwischen „klassischer“ und responsiver Evaluationsforschung betont als dass Brücken geschlagen werden.

Das hier vorgelegte Buch ist fĂĽr all diejenigen, die bereits responsiv forschen und mit den Grundlagen der dokumentarischen Methode vertraut sind, ausgesprochen lohnend und empfehlenswert. Das Buch sensibilisiert fĂĽr neue Denk- und Sichtweisen und regt in jedem Fall zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit dem responsiv-rekonstruktiven Verfahren an.
Mary Sandermann (Berlin und Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mary Sandermann: Rezension von: Lamprecht, Juliane: Rekonstruktiv-responsive Evaluation in der Praxis, Neue Perspektiven dokumentarischer Evaluationsforschung. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117985.html