EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Melanie Kuhn
ProfessionalitÀt im Kindergarten
Eine ethnographische Studie zur ElementarpÀdagogik in der Migrationsgesellschaft
Wiesbaden: Springer VS 2013
(335 S.; ISBN 978-3-531-18637-5; 39,95 EUR)
ProfessionalitĂ€t im Kindergarten Ausgehend von den wechselseitigen konzeptuellen Leerstellen der erziehungswissenschaftlichen Professionstheorie einerseits und der Debatten um interkulturelle Kompetenz andererseits beansprucht diese Studie, „eine differenzsensibilisierte, allgemeinpĂ€dagogische Professionstheorie fĂŒr die ElementarpĂ€dagogik zu entwickeln“ (51). WĂ€hrend in der allgemeinen Professionstheorie („ethnische“) Differenz zumeist ausgeblendet wird und damit Annahmen einer grundlegenden HomogenitĂ€t auf Seiten der Klientel ebenso wie auf Seiten der Professionellen implizit reproduziert werden, trĂ€gt der Diskurs um interkulturelle Kompetenz unintendiert dazu bei, MigrationsrealitĂ€ten weiter zu besondern. Die Rede von der NormalitĂ€t einer MigrationsrealitĂ€t will vor diesem Hintergrund darauf aufmerksam machen, dass ethnische HeterogenitĂ€t grundsĂ€tzlich den elementarpĂ€dagogischen Alltag prĂ€gt und ihre Bearbeitung von den FachkrĂ€ften keine spezifische Sonderkompetenz verlangt, sondern einen Teil ihres tĂ€glichen professionellen Handelns darstellt.

Dieses tĂ€gliche Handeln wird von der Autorin ins Zentrum ihrer Dissertation gestellt, in der sie den Fragen nachgeht, wie der Kindergartenalltag von Kindern und Erwachsenen praktisch hergestellt wird und wie die ErzieherInnen die darin eingelagerten dilemmatischen Herausforderungen praktisch bewĂ€ltigen. Dabei umfasst die Arbeit inklusive Einleitung und Literaturteil neun Kapitel. ZunĂ€chst wird die ethnographische Forschungsmethodologie erlĂ€utert (Kapitel 2). Daran anschließend werden verschiedene theoretische ZugĂ€nge zu den Themen EthnizitĂ€t (Kapitel 3) und pĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t (Kapitel 4) aufgearbeitet. Vor diesem Hintergrund wird die eigene performativitĂ€tstheoretische Analyseperspektive auf elementarpĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t plausibilisiert (Kapitel 5). In den zwei folgenden empirischen Kapiteln werden mikroanalytisch am Material zuerst die Konstitutionsmomente des frĂŒhpĂ€dagogischen Alltags (Kapitel 6) und dann der praktische Umgang mit den fĂŒr diesen Alltag konstitutiven Dilemmata (Kapitel 7) rekonstruiert. Das Buch schließt mit einer Reflexion der Potentiale, Risiken und Konsequenzen des gewĂ€hlten Zugangs (Kapitel 8).

Um dem „Wie“ der performativen und körper-praktischen Hervorbringung des elementarpĂ€dagogischen Alltags auf die Spur zu kommen, scheint ein ethnographisches Vorgehen geradezu prĂ€destiniert zu sein. Die vorgelegte Arbeit ist allein schon dank der ausfĂŒhrlichen Auseinandersetzung mit der Ethnographie als Forschungsstrategie und der Grounded Theory als methodologisch dazu korrespondierendem Auswertungsverfahren Ă€ußerst lesenswert. So werden in einer detaillierten Beschreibung des methodischen Vorgehens unter anderem die paradigmatischen Prinzipien der Befremdung sowie der Offenheit, der ZirkularitĂ€t, der KonstruktivitĂ€t und der SelektivitĂ€t im ethnographischen Forschungsprozess thematisiert.

Im darauf folgenden Schritt werden zwei unterschiedliche theoretische StrĂ€nge zur Konzeptualisierung der Kategorie „EthnizitĂ€t“ aufgearbeitet, die unter den Labels sozialkonstruktivistische und dekonstruktive Perspektiven zusammengefasst werden. Die Autorin stellt die jeweiligen ErtrĂ€ge und Limitationen dieser beiden ZugĂ€nge heraus, um schließlich in Anlehnung an Reckwitz‘ praxeologisch-kulturtheoretischen Ansatz zu einer synthetisierenden Lesart von EthnizitĂ€t als „Praxis/Diskurs-Formation“ (94) hinzuleiten. Dadurch ergeben sich Analysemöglichkeiten sowohl auf der Mikro-Ebene der körperpraktischen Interaktion, wie auch auf der Ebene der im Feld verwendeten Artefakte, des situierten Umgangs mit ihnen und der dadurch erzeugten diskursiven ReprĂ€sentationen ethnischer Differenz.

Der professionelle Umgang mit EthnizitĂ€t im Kindergarten wird hierbei nicht als ein Spezifikum des migrationspĂ€dagogischen Diskurses angesehen, sondern als konstitutiver Bestandteil professionellen Handelns in der Migrationsgesellschaft. Vor dem Hintergrund einer konstatierten mangelnden DifferenzsensibilitĂ€t der allgemeinpĂ€dagogischen Professionstheorie, werden im nun anschließenden Kapitel deren wichtigste Strömungen in ihrer jeweiligen Bedeutung fĂŒr den elementarpĂ€dagogischen Kontext thematisiert. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der machttheoretischen, strukturtheoretischen und interaktionistischen Professionstheorie kommt die Autorin zu dem Schluss, dass gerade der elementarpĂ€dagogische Bereich aus dieser Sicht zumeist als professionalisierungsbedĂŒrftig erscheint. Ausgehend von einer professionalisierten Norm richte sich der analytische Blick zunĂ€chst auf den Grad der Abweichung von dieser Norm und dann auf Möglichkeiten der Verbesserung und weiteren Professionalisierung des Berufsfeldes.

DemgegenĂŒber nimmt die vorliegende Studie eine nicht-normative Perspektive ein, indem sie fĂŒr ein performativitĂ€tstheoretisches VerstĂ€ndnis elementarpĂ€dagogischer ProfessionalitĂ€t plĂ€diert. Sie schließt dabei an die Berliner Ritualstudien von Wulf und Kollegen an, in denen die Theorie des Performativen eine erziehungswissenschaftliche (An)Wendung gefunden hat. PĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t versteht sich in dieser Perspektive „als ein performatives, also ĂŒber die (Körper-)Praktiken der AkteurInnen im elementarpĂ€dagogischen Alltag erzeugtes PhĂ€nomen“ (160). Im Vergleich zu anderen professionstheoretischen AnsĂ€tzen soll hier entsprechend grundlegender nach der praktischen Hervorbringung und körperlichen Inszenierung des Kindergartenalltags in situ gefragt werden.

Dazu werden im nun folgenden, empirischen Teil des Buches die Konstitutionsmomente des elementarpĂ€dagogischen Alltags am ethnographischen Material mikroanalytisch rekonstruiert. Zum einen wird die KonstitutivitĂ€t von Körpern und Artefakten am Beispiel des Umgangs mit KinderbĂŒchern aufgeschlĂŒsselt. Zudem wird am Material nachvollzogen, wie sich der Kindergartenalltag durch bestimmte VerschrĂ€nkungen von Zeit und Raum als ein pĂ€dagogisches Setting praktisch konstituiert. Und schließlich wird ausfĂŒhrlich rekonstruiert, auf welche Weise Rituale als Konstitutionsmomente dieses Alltags wirken, wobei ein besonderer Fokus auf Kreisrituale, ihre Merkmale und Funktionen gelegt wird.

Das zweite empirische Kapitel wendet sich im Besonderen den Professionellen und ihren Umgangsweisen mit den Herausforderungen des elementarpĂ€dagogischen Alltags zu. Aus einer performativitĂ€tstheoretischen Analyseperspektive wird die praktische Ausbalancierung der fĂŒr diesen Alltag konstitutiven Dilemmata als Modus der Inszenierung von ProfessionalitĂ€t rekonstruiert. Mit Blick auf das Fragile und BrĂŒchige solcher performativen Inszenierungen haben sich auf der Mikroebene der Interaktion insbesondere drei Dilemmata als zentral herausgestellt: das Differenz-, das Autonomie- und das Paternalismusdilemma. Bei der Analyse dieser Dilemmata geht die Autorin auch ĂŒber die von ihr priorisierte teilnehmende Beobachtung von Alltagspraktiken hinaus und bezieht beispielsweise Informationen aus ethnographischen GesprĂ€chen, Artefakt- und Dokumentenanalysen mit ein. Dies ist ein wichtiger Schritt, um eine Gleichsetzung von Ethnographie und teilnehmender Beobachtung zu vermeiden und die Ethnographie stattdessen als eine methoden-plurale Forschungsstrategie zum Einsatz zu bringen.

Das Buch endet mit einer reprĂ€sentationskritischen Reflexion der Potenziale und Risiken des gewĂ€hlten Zugangs sowie professionspolitischen Folgerungen. Es werden vor allem die VorzĂŒge einer nicht-normativen, anti-intentionalen Herangehensweise hervorgehoben, die einen offeneren, gegenĂŒber theoretischen Vorannahmen enthaltsameren Blick auf die Alltagspraxis des Kindergartens verspricht. Als Risiko wird neben dem Machtungleichgewicht zwischen Forscherin und Beforschten auch die unvermeidliche Reifizierung von ethnischer Differenz angesprochen, an der die Forschung schon dadurch teilhat, dass sie „EthnizitĂ€t“ zum Forschungsgegenstand erhebt.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern eine „differenzsensibilisierte allgemeinpĂ€dagogische Professionstheorie“ nicht auch fĂŒr andere Differenzdimensionen offen sein sollte. Der Fokus auf „EthnizitĂ€t“ begrĂŒndet sich aus den Relevanzen des Feldes, jedoch wird am prĂ€sentierten empirischen Material an mehreren Stellen deutlich, wie zum Beispiel auch Geschlecht und Alter als wirksame Unterscheidungsachsen bei der Ausbalancierung oder einseitigen Auflösung der Dilemmata praktisch erzeugt werden. Um dem von der Autorin problematisierten Risiko der Kulturalisierung entgegenzuwirken, sollte Differenz nicht implizit mit EthnizitĂ€t gleichgesetzt werden, sondern letztere als eine neben anderen im Feld selbst relevanten Differenzlinien rekonstruiert werden.

Eine weitere kritische Anmerkung betrifft das Ungleichgewicht zwischen theoretischem und empirischem Teil der Arbeit. Es ist wohl dem eher konventionellen Format einer Dissertation geschuldet, dass die mikroanalytische Auseinandersetzung mit dem konkreten empirischen Material weit weniger Raum einnimmt als die konzeptionell-theoretische Arbeit, die dazu hinfĂŒhrt. Vor allem angesichts des von der Autorin selbst konstatierten Mangels an empirischen Einblicken in das Alltagsgeschehen des Kindergartens wĂ€re es daher ein Desiderat zukĂŒnftiger elementarpĂ€dagogischer Ethnographien, dieses VerhĂ€ltnis von Theorie und Empirie ausgewogener zu gestalten und der Empirie mehr Platz einzurĂ€umen.

Gerade aber in Anbetracht dieses Desiderats an empirischen Einsichten leistet die Studie von Melanie Kuhn einen unverzichtbaren Beitrag zu einer Ethnographie des Kindergartens, die den Kindergartenalltag nicht nur als Ort, sondern als Gegenstand ihrer Untersuchung begreift und damit die Frage ins Zentrum rĂŒckt, wie sich dieser Alltag ĂŒberhaupt als ein pĂ€dagogischer konstituiert. Dies ist nicht nur persönlich verdienstvoll, sondern auch fĂŒr die FrĂŒhpĂ€dagogik ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer Empirie ihrer Praxis.
Claudia Seele (Luxemburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claudia Seele: Rezension von: Kuhn, Melanie: ProfessionalitĂ€t im Kindergarten, Eine ethnographische Studie zur ElementarpĂ€dagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353118637.html