EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sabine Thormann
Politische Konflikte im Unterricht
Empirische Rekonstruktionen zu Unterrichtsarrangements am Gymnasium
Wiesbaden: Springer VS 2012
(377 S.; ISBN 978-3-531-19390-8; 39,99 EUR)
Politische Konflikte im Unterricht Sabine Thormann untersucht die Behandlung politischer Konflikte im Unterricht. Die Autorin setzt ein bei der von Sibylle Reinhardt ausgewiesenen Differenz von sozialem und politischem Lernen [1] und folgt auch mit der Fokussierung auf die Kompetenz der Konfliktfähigkeit vor allem einer von Reinhardt vertretenen Argumentation [2]. Neben Einleitung und einem zusammenfassenden Ausblick weist die Studie fünf Hauptkapitel auf: Kapitel 2 und 3 bilden die theoretische Rahmung, in der ausgehend von begrifflichen Klärungen auf ein Modell der Entwicklung politisch-demokratischer Konfliktfähigkeit hingearbeitet wird. Nach der Darstellung der methodischen Konzeption werden die Interaktionsprozesse von Schülerinnen und Schülern im Umgang mit politischen Konflikten in Fallskizzen analysiert (Kapitel 4). Die Analysen werden im Kapitel 5 ausdifferenziert und konturiert. Das Ziel besteht darin, eine Rekonstruktion der Kommunikationsmuster in unterschiedlichen Unterrichtsformaten vorzunehmen und deren Potenzial für die Entwicklung von politisch-demokratischer Konfliktkompetenz zu prüfen (Kapitel 6).

Das der Studie zu Grunde gelegte Konzept von politischer Bildung als Demokratie-Lernen unterscheidet fünf Teilkompetenzen: Perspektivenübernahme, Konfliktfähigkeit, politisch-moralische Urteilsfähigkeit, Partizipation und sozialwissenschaftliches Analysieren. Unter Rückgriff auf empirische Studien, nach denen Lernen im privaten Raum der kleinen Gemeinschaft nicht mit Lernprozessen im öffentlichen Raum des Demokratisch-Politischen gleichzusetzen ist, wird Demokratie-Lernen von einer unter dem Begriff der Prosozialität zusammengefassten Akzeptanz gegenüber Werten des sozialen Umgangs abgegrenzt. Dass kein automatischer Transfer vom Sozialen ins Politische zu erwarten ist, wird als Anlass für die fachdidaktische Aufgabe gesehen, brückenbildende Lern- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. Ins Zentrum der Untersuchung wird vor allem die als Fähigkeit zur argumentativen Auseinandersetzung sowie zur Perspektiven- und Rollenübernahme beschriebene Konfliktfähigkeit gerückt.

Unter Bezugnahme auf den strukturgenetischen Ansatz folgt Thormann einer rationalitätstheoretischen Vorstellung und stellt die Entwicklung von Konfliktfähigkeit als eine in Stufen beschreibbare Ausbildung kognitiver Strukturen und Wissensformen dar. In der Verknüpfung mit der Theorie kommunikativen Handelns nach Habermas wird die Konfliktkompetenz zugleich als kommunikative gefasst, die nur in politischen Kommunikationsprozessen erworben werden könne. Diesen theoretischen Teil abschließend wird auf der Grundlage der Indikatoren der Perspektivenübernahme, der moralischen Reflexivität und des Modus der Konfliktaushandlung ein Stufenmodell politisch-demokratischer Konfliktfähigkeit vorgelegt, das auch im empirischen Teil weiter verfolgt wird. Die Entwicklung dieses Kompetenzmodells wird von zahlreichen Abbildungen veranschaulichend begleitet. Allein visuell wird dabei verschiedentlich die Komplexität der Kombination bereits an sich als komplex zu verstehender Modelle deutlich, was Fragen nach deren Anwendbarkeit in empirischen Analysen aufwirft (vgl. z. B. Abb. 3.5, 68). Versuche, Teilaspekte dieses Modells in Beziehung zu verschiedenen Unterrichtsformaten übersichtlich darzustellen, laufen andererseits Gefahr, in allzu vereinfachende Schematisierungen zu münden, deren inhaltliche Zusammenhänge kaum mehr nachvollziehbar sind (vgl. z. B. Abb. 6.3, 336).

Mit Hilfe der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack und unter Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens nach Peter Loos und Burkhard Schäffer arbeitet Thormann politische Orientierungen aus Interaktionsprozessen der Schülerinnen und Schüler heraus und analysiert, inwieweit individuelle Haltungen in einen konsistenten kollektiven Rahmen überführt werden können. Ausgewertet werden die Verläufe von Diskussionen, die in je zwei Klassen zum jeweils gleichen Thema in Verbindung mit einem spezifischen unterrichtsmethodischen Zugang (fragend-entwickelnder Unterricht, handlungsorientierter Unterricht im Format einer Pro-Contra-Diskussion, Diskussion in Kleingruppen) geführt wurden. Nicht thematisiert wird die Frage, wie sich das bereits als Anspruch formulierte Kompetenzmodell zu der Verfahrensweise der gewählten Methode verhält, Typenbildungen erst auf der Grundlage der Fallbeschreibungen vorzunehmen. Die erheblichen Differenzen zwischen einer Unterrichtssituation und einer Gruppendiskussion im Sinne der dokumentarischen Methode werden herausgearbeitet und Thesen zu Kommunikationsmustern in Abhängigkeit der jeweiligen unterrichtsmethodischen Zugänge formuliert. Im verstehenden Nachvollzug werden verschiedene Kommunikationsmuster und Orientierungsrahmen in den jeweiligen Klassen und unterschiedlichen unterrichtsmethodischen Zugängen verstehend nachgezeichnet und in den folgenden Kapiteln in kontrastiven Vergleichen in ihren jeweiligen Beziehungen zum Politischen ausdifferenziert. Der abschließende Fallvergleich zeigt, dass ein zunehmend offeneres Format längere und differenziertere Redebeiträge ermöglicht, in denen klare individuelle Positionen formuliert werden und dass die Selbstläufigkeit der Diskussion dabei zunimmt. Thormann arbeitet drei politische Kommunikationsmuster heraus, die sie mit „Kollektivität in Konsistenz“, „Individualität in Divergenz“ und „Fremdheit in Distanz“ bezeichnet (325). Aus der Relationierung dieser Muster zu den jeweiligen Unterrichtsformaten wird die abschließende zentrale These abgeleitet, „dass im Raum handlungsorientierter Unterrichtsarrangements von einer Entwicklungsdynamik politisch-demokratischer Konfliktfähigkeit“ (332) gesprochen werden kann.

Die Ergebnisse scheinen innerhalb des gesetzten theoretischen Rahmens als schlüssig, dieser selbst bleibt jedoch begründungsbedürftig: Zwar erhebt die Autorin nicht den Anspruch, dass ihre Vorgehensweise die einzig mögliche sei, verzichtet aber auf eine argumentative Auseinandersetzung mit denkbaren Alternativen, die zu expliziten Begründungen für die Auswahl der theoretischen Zugänge führen könnte. Die Fülle der Referenzen und das Bemühen, auch mögliche Alternativen in der Darstellung zu berücksichtigen, stehen einer ausführlicheren systematischen Auseinandersetzung mit diesen Zugängen bisweilen im Wege. Innerhalb der engen Bindung des Begriffs des Politischen an ein gesetztes Demokratieverständnis gelingt es nicht, die verschiedenen Facetten, die dieser Begriff auch innerhalb dieser Setzung annehmen könnte, zu thematisieren. Unklar bleibt die Verwendung des Bildungsbegriffs, über dessen begrifflichen Gehalt keine weitreichenden Reflexionen angestellt werden. Differenzen von Lernen und Bildung werden mit der Gleichsetzung von Politischer Bildung und Demokratie-Lernen verwischt. Darüber hinaus scheinen sich Vermittlungsabsichten auf der einen Seite mit möglichen Bildungsprozessen auf der anderen zu vermischen. Damit werden die Stärken dieser Studie nicht unbedingt in der Darstellung des theoretisch-systematischen Teils gesehen und sie eignet sich eher nicht als eine in politikdidaktische Zusammenhänge und Fragestellungen einführende Lektüre. Die Einsichten in Unterrichtspraxis mögen dagegen nicht nur für Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch für den politikdidaktischen Diskurs gewinnbringend sein.

[1] Vgl. Reinhardt, S. (2009): Ist soziales Lernen auch politisches Lernen? Eine alte Kontroverse scheint entschieden. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, H. 1, S. 119-125.
[2] Vgl. Reinhardt, S. (2010): Die domänenspezifische Kompetenz „Konfliktfähigkeit“ – Begründungen und Operationalisierungen. In: Juchler, I. (Hrsg.): Kompetenzen in der politischen Bildung. Schwalbach/ Ts.: Wochenschau-Verlag, S. 128-141.
May Jehle (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
May Jehle: Rezension von: Thormann, Sabine: Politische Konflikte im Unterricht, Empirische Rekonstruktionen zu Unterrichtsarrangements am Gymnasium. Wiesbaden: Springer VS 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353119390.html