EWR 13 (2014), Nr. 1 (Januar/Februar)

Matthias RĂŒrup / Inka Bormann (Hrsg.)
Innovationen im Bildungswesen
Analytische ZugÀnge und empirische Befunde
Wiesbaden: Springer VS 2012
(351 S.; ISBN 978-3-531-19700-5; 39,95 EUR)
Innovationen im Bildungswesen Erste Assoziationen mit dem Begriff „Innovation“ fĂŒhren in den Bereich der Ökonomie – in Erinnerung kommt beispielsweise die Auseinandersetzung 2008 von Belitz et al. mit der InnovationsfĂ€higkeit Deutschlands in der Vierteljahreszeitschrift des Deutschen Instituts fĂŒr Wirtschaftsforschung (DIW). Zugleich fĂŒhrt dieser Weg unmittelbar zurĂŒck in das vertraute Terrain der Bildung, denn das Bildungssystem wird als „Achillesferse“ des deutschen Innovationssystems bezeichnet [1]. Fast schon in einer Art zirkulĂ€rem Bezug wird seit einiger Zeit wiederum die InnovationsfĂ€higkeit des Bildungswesens kritisch hinterfragt und (heraus-)gefordert. Vor diesem Hintergrund trifft der Sammelband von Matthias RĂŒrup und Inka Bormann eine aktuelle und relevante Debatte in bildungspolitischen und bildungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Das Anliegen des Beitrages, diesen – von den Autoren als Theorieimport bezeichneten – Diskurs auf seine Brauchbarkeit fĂŒr den Ansatz der Educational Governance zu prĂŒfen, ist mit Blick auf die „DiffusitĂ€t des Begriffs“ (15), die sich sowohl in der „Vielfalt der Verwendungskontexte“ (ebd.) als auch der „Unkontrolliertheit der Begriffsexpansion“ (ebd.) begrĂŒndet, begrĂŒĂŸenswert.

Gleichwohl handelt es sich hierbei um ein ambitioniertes Vorhaben, denn Begriffs- und Konzeptvielfalt ist, so die Herausgeber, ein Merkmal der Governance-Forschung selbst. Kurzum: Es handelt sich um die Inbezugsetzung von UnprĂ€zisem zu UnprĂ€zisem. Dieser Ansatz wird auch nicht ĂŒbersichtlicher dadurch, dass zudem der „Forschungsperspektive der Educational Governance andere aktuelle ForschungsansĂ€tze innerhalb der Erziehungswissenschaft bzw. Bildungsforschung (...) gegenĂŒberzustellen“ (13) sind bzw. der „soziologisch-politikwissenschaftliche Theorieimport der Governance-Perspektive (...) mit anderen aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorieimporten in die Erziehungswissenschaft konfrontiert werden“ (14) soll. Komplettiert werden diese komplexen BezĂŒge dadurch, dass die Herausgeber den Sammelband im Arbeitsfeld der „selbstkritischen Reflexionsarbeit am BegriffsgebĂ€ude der Educational Governance“ (13) verorten und diese Baustelle zwar zuvor von dem Arbeitsfeld der empirischen Forschung klar abgrenzen, zugleich aber die konzeptionelle Bestimmung mithilfe aktueller empirischer Arbeiten der erziehungswissenschaftlichen Innovationsforschung vornehmen möchten.

Nun soll es den Herausgebern nicht zum Nachteil ausgelegt werden, dass sie sich einer komplexen Thematik mit vielfĂ€ltigen BezĂŒgen und Interdependenzen widmen. TatsĂ€chlich gelingt es Matthias RĂŒrup und Inka Bormann, eine vergleichsweise klare Heuristik herauszuarbeiten, die ihnen zur Systematisierung von Begriffsdeutungen des empirischen PhĂ€nomens der Innovation dient. An den hier herausgearbeiteten Dimensionen von Innovation als Inhalt, Prozess und Eigenschaft orientiert sich der Aufbau des Sammelbandes, der hierdurch eine klare Strukturierung erhĂ€lt. Vorgeschoben werden im Sinne einer Bestandsaufnahme zwei grundsĂ€tzliche BeitrĂ€ge: GĂŒnter Holtappels gibt einen Überblick zu Innovationen aus Perspektive der Schulentwicklung und RenĂ© John beschreibt sie als soziales PhĂ€nomen.
Die folgenden AufsĂ€tze knĂŒpfen in methodischer Hinsicht und in Bezug auf die gewĂ€hlte Perspektive bzw. den theoretischen Zugang an die Vielfalt der Governance-Forschung an, fokussieren jedoch fast ausschließlich, in 10 von 13 BeitrĂ€gen, auf den Bereich der Schule. Die Ausnahmen stellen der bereits erwĂ€hnte Beitrag von John und die AusfĂŒhrungen von Bormann sowie Susanne Maria Weber dar, die sich dem Innovationsthema diskursanalytisch nĂ€hern und hier nicht im Bereich der Schule verhaftet bleiben. Damit erliegt der Sammelband insgesamt, wie hĂ€ufig auch andere Veröffentlichungen im Kontext der Bildungsforschung, thematisch der Versuchung, das Bildungswesen auf das öffentliche Schulsystem zu reduzieren und somit seiner KomplexitĂ€t und Vielschichtigkeit im Grunde genommen nicht gerecht zu werden. Die meisten AufsĂ€tze sind in Bezug auf die verwendete Sprache, die zugrundeliegende Argumentation sowie die gewĂ€hlten Themen leicht als Governance-Forschung zu erkennen. Andere Auseinandersetzungen erscheinen in diesem Kontext hingegen innovativer – um in der Sprache des Sammelbandes zu bleiben. Hierzu gehören nicht nur die außerschulischen Themenschwerpunkte sondern z.B. auch der Beitrag von Till-Sebastian Idel, Kerstin Rabenstein und Sabine Reh, der sich mit Grenzverschiebung im VerhĂ€ltnis von Familie und Ganztagsschule und damit einhergehenden familienĂ€hnlichen Praktiken der LehrkrĂ€fte befasst. Auf die einzelnen BeitrĂ€ge soll allerdings an dieser Stelle nicht nĂ€her eingegangen werden. Nur so viel: Alle Auseinandersetzungen, so unterschiedlich sie auch sind, genĂŒgen den AnsprĂŒchen einer (wissenschaftlich) interessierten Leserschaft.

Eine StĂ€rke des Sammelbandes liegt sicherlich in den ausfĂŒhrlichen Vorbemerkungen der Herausgeber. Sie skizzieren nicht nur die einzelnen BeitrĂ€ge und setzen diese in Beziehung zueinander, sondern ordnen sie zugleich in die umfassenderen Diskussionen ein und machen auf Forschungsdesiderate aufmerksam. Die zusammenfassenden Thesen zeigen VerknĂŒpfungsmöglichkeiten sowie Unterschiede der EinzelbeitrĂ€ge auf. Wenngleich diese Darlegung der Herausgeber voraussetzungsvoll und herausfordernd fĂŒr den Leser ist – schließlich kennt er die Inhalte des Sammelbandes noch nicht –, so gelingt den Herausgebern hier doch der erste Schritt in Richtung der von ihnen geforderten „Innovationstheorie mittlerer Reichweite“, die aus „vorhandenen empirischen Beobachtungen und Erkenntnissen sukzessive“ (32) zu entwickeln sei: nĂ€mlich die – wenn auch unvollstĂ€ndige – Bestandsaufnahme ebendieser empirischen Beobachtungen und Erkenntnisse.

Fast durchgĂ€ngig scheint dem Sammelband dabei die Annahme (implizit) zugrunde zu liegen, dass der hier diskutierte Begriff der Innovation positiv besetzt und mit QualitĂ€tsverbesserungen assoziiert wird. WĂ€hrend wenige Autoren diese Annahme zumindest am Rande ansprechen, scheint lediglich John sie grundsĂ€tzlich zu hinterfragen und damit verbundene Konsequenzen zu diskutieren. In Anlehnung an die diskursanalytischen AnsĂ€tze von Bormann und Weber, die Innovationsprozesse als politische bzw. normative VorgĂ€nge beschreiben und mit Machtaspekten in Verbindung bringen, könnte auch eine Analyse des in dem Sammelband prĂ€sentierten Innovationsdiskurses aufschlussreiche AuskĂŒnfte darĂŒber geben, wie dieser „von den ‚betroffenen‘ [hier: wissenschaftlichen; Anm. d. Autorin] bzw. in den adressierten Kontexten [der Governance-Forschung] gedeutet, â€šĂŒbersetzt‘ und angeeignet“ (95) wird.

Abgesehen von dieser fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen normativen Positionierung sowohl in den meisten EinzelbeitrÀgen als auch in den einleitenden Bemerkungen ist der Sammelband besonders einer wissenschaftlichen Zielgruppe zu empfehlen, die sich mit aktuellen Reformen im Schulwesen befasst. Die bestehenden Auseinandersetzungen um z.B. Ganztagsschulen, Bildungsstandards, Schulinspektionen, Lernstanderhebungen und Lehrerausbildung erfahren hier gewinnbringende ErgÀnzungen und neue Perspektiven.

[1] Vgl. Belitz, H., Clemens, M., Schmidt-Ehmcke, J., Schneider, S., & Werwatz, A. (2008). RĂŒckstand bei Bildung gefĂ€hrdet Deutschlands InnovationsfĂ€higkeit. DIW Wochenbericht 46, S. 716-724, sowie Belitz, H. (2008). Achillesferse Bildung: Sieben Fragen an Heike Belitz. DIW Wochenbericht 46, S. 717.
Nina Hogrebe (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nina Hogrebe: Rezension von: RĂŒrup, Matthias / Bormann, Inka (Hg.): Innovationen im Bildungswesen. Analytische ZugĂ€nge und empirische Befunde. Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353119700.html