EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Marius R. Busemeyer
Wandel trotz Reformstau
Die Politik der beruflichen Bildung seit 1970
Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Frankfurt; New York: Campus 2009
(252 S.; ISBN 978-3-593-38866-3; 32,90 EUR)
Wandel trotz Reformstau Der Titel „Wandel trotz Reformstau“ greift die zentrale These des Buches auf: Die Rede vom Reformstau bezieht sich auf die Tatsache, dass nach langem politischen Ringen erst 1969 ein Berufsbildungsgesetz (BBiG) verabschiedet wurde und eine substantielle Reform dieses Gesetzes erst 2005 gelang, die Zwischenzeit aber gleichwohl von diversen Reformbemühungen geprägt war, die jedoch allesamt scheiterten. Entgegen dem Anschein der Stagnation gab es aber in der Berufsbildung in dieser Zeitspanne durchaus einen Wandel, den man in seinen grundsätzlichen Auswirkungen auf das duale Berufsbildungssystem nicht unterschätzen sollte. Auf dieser These baut Busemeyer seine Ausführungen zur Politik der beruflichen Bildung auf und nimmt mit Beginn der 1970er Jahre bis heute eben jene Zeitspanne zwischen Verabschiedung und Reform des BBiG genauer in den Blick.

Der Autor greift bei seinen Auseinandersetzungen mit dem Wandel der Berufsbildung drei Aspekte auf, die die Grundstruktur des Buches bilden. Er differenziert den Wandel innerhalb des Berufsbildungssystems (Kapitel 2) und innerhalb der Berufsbildungspolitik (Kapitel 3) voneinander und stellt im vierten Kapitel Beziehungen zwischen diesen Wandlungsprozessen und jenen in den industriellen Beziehungen in Deutschland her.

Das erste Kapitel macht den Wandel des Berufsbildungssystems an drei wichtigen Entwicklungen deutlich: Zugang zu beruflicher Erstausbildung (17-41), Ausbildungsbeteiligung und Ãœbergangsquoten (41-47) sowie Finanzierung der beruflichen Erstausbildung (47-61).

Hinsichtlich des Zugangs zur beruflichen Erstausbildung dokumentiert Busemeyer beispielsweise gestützt auf verschiedene Statistiken und Studien „die zunehmenden Umwege, die Jugendliche zwischen Schule und Ausbildung einschlagen oder einschlagen müssen“ (27). Er weist nach, dass „der Zugang zu betrieblicher Ausbildung selektiver geworden ist“ (ebd.), was zu einer Expansion von Übergangsangeboten geführt hat. Der Kern des Übergangsproblems sei aber nicht das häufig kritisierte Übergangssystem an sich, sondern „die Verknappung des betrieblichen Ausbildungsangebotes und die institutionelle Ausgestaltung des Übergangssystems, das bis zur Reform des BBiG 2005 nur lose mit dem eigentlichen Ausbildungssystem verknüpft war“ (41).

Die Darstellung der drei Entwicklungen im ersten Kapitel ist aktuell, übersichtlich und sorgfältig recherchiert, sodass man es mit Gewinn lesen kann. Mit Strukturwandel und Bildungsexpansion werden abschließend gängige Erklärungsansätze für die dokumentierten Veränderungen benannt, bevor im folgenden Kapitel der Fokus auf die Akteure der Berufsbildungspolitik und ihren Anteil an diesen Veränderungen gelenkt wird.

Das Kapitel zur Berufsbildungspolitik wird von Busemeyer als „Hauptteil“ (16) des Buches bezeichnet, für das er Dokumente wie Bundestagsdokumente und Stellungnahmen analysiert und Interviews mit Vertreter/innen der verschiedenen berufsbildungspolitischen Akteure geführt hat (16). Die Analyse differenziert systematisch die verschiedenen Akteure voneinander und nimmt dabei nicht nur die Regierung, die unterschiedlichen Parteien, Kammern, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in den Blick, sondern weist auch auf unterschiedliche Positionen innerhalb dieser Lager hin. So haben Arbeitgeber aus der Industrie etwa in Bezug auf die Modularisierung der Ausbildung andere Interessen als kleine und mittelständische Unternehmen des Handwerks (197ff.) – übrigens eine grundsätzliche Differenzlinie im Arbeitgeberlager, die bereits in den Anfängen des Berufsbildungssystems in Deutschland von entscheidender Bedeutung war. Auf Seiten der Arbeitnehmervertretung nimmt wiederum die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) in der grundlegenden Frage von dualem Ausbildungssystem und möglichen schulischen Alternativen wegen ihrer Nähe zur Schule häufig eine Position ein, die weniger stark vom Festhalten an der „Superiorität der beruflichen Bildung“ (147) geprägt ist als die der übrigen Gewerkschaften (z.B. 172).

Das Kapitel zur Berufsbildungspolitik hat insgesamt einen weitgehend darstellenden und systematisierenden Charakter, was dem hier behandelten Gegenstand geschuldet ist, werden doch im verschlungenen Feld der Berufsbildung Auseinandersetzung oft entlang von Detailfragen geführt. Dies zeigt das Beispiel der auf den Seiten 151-157 detailliert aufgearbeiteten Diskussion um die Ausbildungsplatzabgabe in aller Deutlichkeit. Insgesamt gelingt es Busemeyer in diesem Kapitel gut, die verschiedenen Positionen, Wendungen und Linien in ein übergeordnetes Bild der Berufsbildungspolitik zu integrieren. Dabei zeichnet er auch den Übergang von den großen Entwürfen und Erwartungen der 1970er Jahre über die Ernüchterung der (Berufs)Bildungspolitik der 1980er Jahre zur Diversifizierung der Themen ab den 1990er Jahren nach.

Mit Bezug zur wissenschaftlichen Literatur werden im letzten Kapitel vier Trends benannt, die den Wandel der industriellen Beziehungen in Deutschland kennzeichnen: Rückgang des Organisationsgrades von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, Verbetrieblichung von Tarifpolitik, Fragmentierung von Interessen sowie eine Veränderung der Rolle des Staates zum „autoritativen Streitschlichter“ (176-180). Auswirkungen und Parallelen zu diesen Entwicklungslinien werden anschließend für die Berufsbildungspolitik aufgezeigt, beispielsweise im parallelen Rückgang von Ausbildungsbeteiligung und Organisationsgrad (181), in der Lockerung der Komplementarität von Ausbildungsabschluss und tariflicher Entlohnung durch die Erosion des Tarifsystems (185) oder der Möglichkeit der Anpassung von Ausbildungen an einzelbetriebliche Anforderungen (191).

Dem Anliegen, nicht nur für die Wissenschaft, sondern für ein breites Fachpublikum mit Interesse an der Berufsbildungspolitik zu schreiben (15), wird der Autor mit seinem klar strukturierten, gut lesbaren und informativen Buch sicherlich gerecht. Aus wissenschaftlicher Sicht hätte man sich in zweierlei Hinsicht allerdings etwas mehr gewünscht, gerade da Busemeyer seine Ausführungen mit dem expliziten Hinweis einleitet, die Berufsbildung aus der Sicht der politischen Ökonomie zu betrachten (13): die Einordnung in größere politische Zusammenhänge und eine Theoretisierung des beschriebenen Wandels.

Zum einen unternimmt es Busemeyer in Kapitel 4, die Entwicklungen von Berufsbildung und industriellen Beziehungen als ko-evolutionäre Entwicklungen zu beschreiben (181). Das ist interessant und aufschlussreich, bietet aber beispielsweise noch keine Antwort auf die Frage, warum sich innerhalb der SPD in Bezug auf die Ausbildungsfinanzierung ein nur schwer erklärbarer Positionswechsel vollzogen hat (151) oder warum es mit der Intervention der SPD als Regierungspartei für die zweijährigen Ausbildungsberufe zu einem Bruch mit den Gewerkschaften kam (161, S. 187). Um diesen Phänomenen weiter auf den Grund zu gehen, müsste man etwa einen Blick auf die Veränderung der Mitgliederstruktur der Parteien werfen und zudem einen Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Transitionsprozessen herstellen. Mit anderen Worten: Das hier angelegte Unterfangen, den Wandel der Berufsbildungspolitik in größere Zusammenhänge einzuordnen, könnte mit Gewinn noch weiter getrieben werden.

Zum anderen baut das Buch auf der Grundthese des Wandels auf, die in Hinblick auf das System und die Positionen der berufsbildungspolitischen Akteure auch nachvollziehbar belegt wird – ohne sie allerdings in das bestehende Theorieangebot zum institutionellen Wandel einzuordnen. Zwar bezieht sich Busemeyer auf Autorinnen und Autoren wie Kathleen Thelen, Renate Mayntz oder Wolfgang Streeck, stellt aber über einige einleitende Abschnitte hinaus kaum Bezüge zu ihren theoretischen Arbeiten her, womit er das in seinem Gegenstand eigentlich angelegte Analysepotential nicht voll ausschöpft. Das ist hoffentlich der von ihm selbst angeregten weiter gehenden Forschung vorbehalten, für die er „in Form einer detaillierten historiografischen Beschreibung der Politik der beruflichen Bildung eine Grundlage“ anbieten möchte (15).

Alles in allem ein lesenswertes Buch, das vor allem in Kapitel 2 einen guten und fundierten Überblick über neuere Entwicklungen im Berufsbildungssystem gibt, was sicherlich auf breites Interesse stoßen dürfte. Für Lesende mit einem etwas ausgeprägteren Interesse an der Berufsbildungspolitik bietet das Kapitel 3 zudem eine Möglichkeit, die politischen Positionen der Akteure und ihre Veränderungen nachzuvollziehen.
Katrin Kraus (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katrin Kraus: Rezension von: Busemeyer, Marius R.: Wandel trotz Reformstau, Die Politik der beruflichen Bildung seit 1970 Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung . Frankfurt; New York: Campus 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978359338866.html