EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)

Meike S. Baader (Hg.), Florian Eßer (Hg.), Wolfgang Schröer (Hg.). (Hrsg.)
Kindheiten in der Moderne
Eine Geschichte der Sorge
Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag 2014
(514 S.; ISBN 978-3-5935-0079-9; 39,90 EUR)
Kindheiten in der Moderne Historische Darstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung von Kindheit in der Moderne sind schon mehrfach vorgelegt worden: Es gibt Geschichten der Erziehung, in denen es um Entstehung und Wandel der Ziele, Inhalte, Praktiken und Institutionen geht, mit denen Erwachsene Kinder auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten; es gibt Geschichten der Kindheit, in denen es um sich wandelnde Positionierungen der Kinder und der Kindheit in den jeweiligen Machtverhältnissen der Gesellschaft geht, sei es in den Kontrollstrukturen der Familie , der Schule oder des Staates. In jeder dieser Kindheitshistorien wird deutlich, wie Kindheit in säkulare Entwicklungen der Strukturen sozialer Ordnung und der damit einhergehenden kulturellen und politischen Veränderungen eingebunden und geformt wurde: in Institutionalisierungsprozesse, in Emanzipationsprozesse der Geschlechter und der Generationen, in Individualisierungsprozesse, in politische Ereignisse und politische Systemwechsel.

Warum nun auch noch eine Kindheitsgeschichte der Moderne als Geschichte der Sorge? Der besondere Sorgebedarf von Kindern beruht auf deren anthropologisch bedingter Unselbständigkeit als Neugeborene, die erst nach vielen Jahren des „Aufwachsens“ ganz endet. Kinder sind deshalb abhängig von Schutz, Versorgung und Unterweisung durch Erwachsene. Die unabdingbare Sorgebedürftigkeit von Kindern wird in jeder Gesellschaft als Teil der sozialen Ordnung wechselseitiger Abhängigkeiten der Generationen konstruiert. Dies geschieht, indem die Generationenordnung in Praxis und Theorie permanent bestätigt, befestigt oder verändert wird. Dieser soziale Wandel findet auf unterschiedlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in Prozessen statt, in denen diese Ebenen immer erneut miteinander verwoben werden. „Sorge“ bezeichnet somit ein Grundverhältnis, das in unterschiedlichen Gesellschaften und historischen Perioden in vielfältigen Facetten der Kindheitsstrukturen und -verhältnisse in je besonderen Konzepten, Formen und Praktiken des Versorgens und Fürsorgens, des Erziehens und Belehrens zur Erscheinung kommt.

Wer Kindheitsgeschichte als Geschichte der Sorge schreiben will, wird alle unterschiedlichen Sorgeaktivitäten und ihre wechselseitigen Bedingungs- und Wirkzusammenhängen im historischen Wandel in den Blick zu nehmen haben – ein Vorhaben, das wohl kein einzelner Wissenschaftler, keine einzelne Wissenschaftlerin je gründlich bewältigen könnte. Die zwei Herausgeber und die Herausgeberin haben ein solches Vorhaben in der Form eines Sammelbands gewagt, an dem zwanzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitgearbeitet haben. Gleich vorab sei gesagt: Das anspruchsvolle Vorhaben ist ausgezeichnet gelungen! Dies verdankt sich zunächst einmal der Auswahl der Autorinnen und Autoren. Das Herausgeberteam hat ausnahmslos kompetente Personen gewinnen können, die aus ihrem Spezialgebiet und meist auch aus eigener Forschungsarbeit berichten.

Die Beiträge sind nach historischen Perioden geordnet. Aufgereiht in der Abfolge „Frühe Neuzeit“, „Revolution und Restauration“, „Industrialisierung und Säkularisierung“, „Bildung von Nationalstaaten und Aufstieg“, „Klassische Moderne“, „Massengesellschaft und Wohlfahrtsstaat“ , „Faschismus und Nationalsozialismus“, „Nachkriegszeit“, „Zweite Moderne“, „Globalisierung“ finden sich je ein bis drei Beiträge zu Aspekten der Sorge für Kinder, die in dieser Epoche in besonderer Weise hervorgetreten waren. Vordergründig handelt es sich somit um ein Buch, das je zeittypische pädagogische und wohlfahrtsstaatliche Konzepte sowie konkrete Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse der Kinder vorstellt und in historischer Reihe präsentiert. Die lineare Abfolge ist freilich nur eine Ebene dieses Sammelbands. Denn bekanntlich verbinden sich im Zustandekommen des Geschehens einer jeden historischen Periode Bedingungen und Einflüsse aus gegenwärtigen Umständen mit solchen aus zukunftsbezogenen Entwürfen wie auch mit dem, was in der Vergangenheit bereits mehr oder weniger durchgreifend geworden ist. Im gegenwärtigen Denken und Handeln der Menschen durchdringen und brechen, fördern und hemmen sich Momente verschiedenartiger gesellschaftlicher Entwicklungslinien und werden in je besondere Konfigurationen von sich wechselseitig Beförderndem, Hemmendem und Konfligierendem wirkmächtig.

Historische Entwicklungen lassen sich mit Hilfe kurz- oder langfristiger Vergleiche erkennen. Voraussetzung dafür ist, dass in den einzelnen Darstellungen die je besondere Konfiguration von Entwicklungslinien aufscheint und, dass solche Darstellungen von zeittypisch Konkretem dann in historischer Folge präsentiert werden. Das gelingt in diesem Sammelband. Sein Wert liegt zum einen in den einzelnen durchweg differenziert ausgearbeiteten Studien zu konkreten Phänomenen der Sorge für Kinder. Zum anderen liegt er darin, dass diese Beiträge, wenn sie in ihrer historischen Ordnung gelesen werden, denjenigen Lesern reiches Material bieten, die der Geschichte einzelner Dimensionen nachgehen und Entwicklungslinien und deren Einbindung in wechselnde Zeitströmungen detailliert rekonstruieren wollen. Die 16 Kapitel des Sammelbands sind nicht nur je für sich reich an reflektiert vorgestellten Informationen, sondern sie enthalten darüber hinaus in ihrer Gesamtheit ein außerordentlich opulentes, differenziertes Material, um einzelne Entwicklungslinien der Kindheit und deren Verwerfungen und Verknüpfungen als Geschichte von Sorgeverhältnissen rekonstruieren zu können. Der Sammelband als Ganzer ist eine wahre Fundgrube dafür.

Übergreifende Tendenzen in der Geschichte der Sorge für Kinder herauszuarbeiten, überlässt das Herausgeberteam ganz den daran interessierten Leserinnen und Lesern. Im Einleitungskapitel werden zwar einige Fragen nach Entwicklungslinien und ihren historisch besonderen Konfigurationen gestellt, jedoch ohne darauf zu verweisen, in welcher Hinsicht diese in einzelnen Kapiteln des Buchs aufscheinen und so über Kapitel hinweg historische Prozesse erkennbar werden. Denn dem Herausgeberteam geht es hier um eine theoretische Klärung des Konzepts der Sorge im Rekurs auf aktuelle Theorien des Sorgebegriffs. Die unterschiedlichen Bereiche und Aspekte von Sorge, die in den einzelnen Kapiteln des Buchs thematisiert werden – u. a. Sorge und Erziehung, private und nicht-private Organisation von Sorge, staatliche Sorge, Modernisierungstendenzen und Sorge – werden hier genannt, aber vor allem aus sorgetheoretischen Perspektiven beleuchtet. Besondere Aufmerksamkeit gibt das Herausgeberteam dabei der Frage nach der Bedeutung von Sorgearbeit für die Differenzierung der Geschlechter und entsprechenden feministischen Diskursen.

Ein expliziter Bezug zu den einzelnen Kapiteln wäre angesichts von Vielzahl, Vielschichtigkeit und Qualität des in den Kapiteln Gebotenem wohl in einer Einleitung auch nicht angemessen zu bewältigen gewesen – ebenso wenig ist es dies für die Rezensentin. Gerade weil sich in diesem Buch immer wieder neue Entdeckungen und Forschungsanregungen finden lassen, wird dieses Buch zur Geschichte der Sorge für Kinder zweifellos auch für künftige Studierenden- und Forschendengenerationen ein unverzichtbares Handbuch sein.
Helga Zeiher (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Helga Zeiher: Rezension von: Meike S. Baader (Hg.), Florian EĂźer (Hg.), Wolfgang Schröer (Hg.). Kindheiten in der Moderne, Eine Geschichte der Sorge. Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978359350079.html