EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)

Sammelrezension zu Anna Siemsen

Alexandra Bauer
Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen und ihr pädagogisch-politisches Wirken
Eine historisch-systematische Studie zur Erziehungswissenschaft
Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012
(385 S.; ISBN 978-3-631-63179-9; 59,95 EUR)
Manuela Jungbluth
Anna Siemsen – eine demokratisch-sozialistische Reformpädagogin
Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012
(417 S.; ISBN 978-3-631-62551-4; 61,95 EUR)
Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen und ihr pädagogisch-politisches Wirken Anna Siemsen – eine demokratisch-sozialistische Reformpädagogin Der Schreck muss groß gewesen sein, als die beiden Doktorandinnen damit konfrontiert wurden, dass eine weitere Untersuchung über Leben und Werk Anna Siemsens im Entstehen ist und sich damit die Situation der frühen 1990er Jahre wiederholte, als Rudolf Rogler und Ralf Schmölders parallel über denselben Gegenstand arbeiteten und schließlich abbrachen. Auf deren Recherchen aufbauend – die Vorarbeiten werden von beiden gewürdigt und genutzt –, liegen nun die erfolgreich in Paderborn und in Hamburg abgeschlossenen, 2012 im Peter Lang Verlag veröffentlichten Dissertationen vor.

1882 als Pastorentochter geboren, gehörte Anna Siemsen zu den ersten Studentinnen und Promovendinnen an deutschen Universitäten. Sie schied aus dem Schuldienst als Oberlehrerin an einem Oberlyzeum in Düsseldorf nach erheblichen Bedrängnissen und politisch motivierter Verfolgung Ende April 1920 aus. Danach arbeitete sie jeweils eine kurze Zeit im Preußischen und im Thüringischen Kultusministerium, vor allem aber in den einschlägigen schulreformerischen und pazifistischen Organisationen mit und agierte überwiegend bildungspolitisch in unterschiedlichen Funktionen und aufklärerisch als Dozentin und Rednerin in Arbeiterbildungseinrichtungen. Sie entfaltete in der Zeit der Weimarer Republik eine hohe publizistische Aktivität, was an der chronologischen Auflistung ihrer Schriften ablesbar ist (Jungbluth, 381-386), und war von 1928 bis 1930 Reichstagsabgeordnete der SPD, bevor sie die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) mitbegründete. Durch zahlreiche Urlaubsgesuche kam sie ihrer Tätigkeit als Honorarprofessorin in Jena in der Zeit von 1923 bis zum Entzug der Erlaubnis, Vorlesungen zu halten, am 24.12.1932 insgesamt nur vier oder fünf Semester lang nach (vgl. Jungbluth, 123f; 126). Während ihres Exils in der Schweiz von 1933 bis Ende 1946 erhielt sie die Schweizer Staatsbürgerschaft durch das Eingehen einer Scheinehe und konnte dadurch ihr gesellschaftliches Wirken auf internationaler Ebene fortsetzen. In der Nachkriegszeit blieb der Remigrantin ein Neuanfang verwehrt; sie starb 1951.

Zur raschen Orientierung bietet der Anhang in der Monographie von Alexandra Bauer einen tabellarischen Überblick und biographische Informationen sowie eine auf Schmölders basierende und erweiterte Personalbibliographie, in der die in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen Artikel Anna Siemsens nach dem Publikationsort aufgelistet werden (Bauer, 291-349), und auch ein Personenregister (382-385).

Die Arbeit von Manuela Jungbluth erhebt den Anspruch, der erste Versuch zu sein, „Leben und Werk Anna Siemsens umfassend wissenschaftlich aufzuarbeiten“ (24), und unterbreitet ein „Dialogangebot“ (29). Der biographische Teil enthält eine Fülle interessanter Informationen, wobei sich die von Rudolf Rogler zusammengetragenen, der Verfasserin überlassenen Quellen (24) und insbesondere die Auswertung der Akten des Thüringischen Hauptstaatsarchivs und des Schweizerischen Sozialarchivs als sehr ergiebig und wichtig erweisen. Im systematischen Teil führt sie, ausgehend von der Feststellung, die „Erziehung zu Internationalität und Pazifismus durchzieht wie ein roter Faden ihr Werk“ (23), eine Untersuchung der Schrift Anna Siemsens „Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung“ (1948) durch.

Manuela Jungbluth lässt sich in ihrer Studie von drei Thesen leiten: Anna Siemsen sei „als eine zentrale Vertreterin einer […] sozialkritischen, demokratisch-sozialistischen Reformpädagogik anzusehen“ (18), habe im Gegensatz zum „Großteil der ideengeschichtlich geprägten bürgerlichen Reformpädagog/innen […] eine kritisch-emanzipatorisch und historisch-materialistisch angelegte Allgemeine Pädagogik“ (ebd.) entwickelt und ermögliche durch ihr Leben und Werk „vertiefte Einblicke in das dialektische Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft“ (22).

Alexandra Bauer verweist auf die Dissertation von Manuela Jungbluth, „in der akribisch nahezu sämtliche Lebensstationen nachgezeichnet wurden“ (3), während sie selbst das Leben Anna Siemsens „im Kontext der zeithistorischen Umstände“ (ebd.) darlegen und ihr Werk mit Schwerpunkt auf die „schulpolitischen Ideen und Forderungen im Kontext der Mädchen- und Frauenbildung“ (4) untersuchen will. Eher ablenkend sind die teils umfangreichen Zitate, die jedem einzelnen Kapitel und Unterkapitel vorangestellt worden sind, quasi als inhaltlicher „Aufmacher“, auf die dann aber nicht mehr eingegangen wird.

Strukturell folgt sie der Biographie August Siemsens über seine Schwester mit dem Ziel, „eine Rekonstruktion der Subjektkonstitution unter Berücksichtigung sozioökonomischer Strukturen und Prozesse“ vorzunehmen und nach dem „Erkenntnisgewinn für die pädagogische Historiografie und Schulforschung“ (25) zu fragen. Zu diesem Zweck unternimmt sie in den einzelnen Kapiteln den Versuch, die jeweiligen historischen Entwicklungen und Grundzüge z.B. der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung (66-78) oder der reformpädagogischen Ansätze aufzuzeigen (134-145). Dabei entstehen eher undifferenzierte Beschreibungen, die die Funktion haben, die Ausnahmestellung der „politischen Pädagogin urchristlicher, sozialistischer und marxistischer Prägung“ (87) nachzuweisen und zu rühmen.

In beiden Monographien zeigt eine gute Auswahl der Zitate, dass Anna Siemsen einen besonderen pädagogischen Zugriff hatte, z.B. wenn sie feststellt: „Wissenschaftliche Genauigkeit ist etwas Wunderschönes, aber man kommt zu ihr nur auf dem Wege selbstständiger Forschung, d. h. durch den Mut zum Irrtum. Und diesen Mut, fürchte ich, ersticken wir bei unseren Kindern, wenn wir von vornherein gar zu wissenschaftlich mit ihnen verfahren. Sie sollen gleich zu richtigen Resultaten kommen“ (Siemsen 1914, zit. n. Bauer, 199). Der Kinderfreundebewegung empfiehlt sie die Beherzigung der Grundregel: „Im Notwendigen Einheit, in den Nebendingen Freiheit, in allem Liebe“ (Siemsen 1945, zit. n. Jungbluth, 193). Und politisch weitsichtig erkannte sie, „wo Volksmassen in Dummheit verharren, hat der Nationalsozialismus Zukunftsmöglichkeiten“ (Siemsen 1930, zit. n. Jungbluth, 165).

Kritik an Anna Siemsens Lebensweg und ihrem Werk wird nur an wenigen Stellen geäußert, z.B. dass „konkrete Lösungsansätze und Postulate […] gelegentlich Appellcharakter besitzen und von einer sozialistischen Utopie getragen werden“ (Bauer, 5) und „ihre Perspektive mitunter naiv“ (ebd.) sei, um dann aber positiv hervorzuheben, dass sie „durch ihr gesamtes wissenschaftliches und pädagogisches Leben in sich stimmige Bausteine“ (ebd.) verwendet habe. Und nur partiell wird Anstoß an ihrer „teilweise sehr radikalen Wortwahl“ (Jungbluth, 300) genommen. So tituliert sie z.B. die Heimvolkshochschule Tinz bei Gera als „eine der wichtigsten Waffenschmieden des Sozialismus“ (Siemsen 1930, zit. n. Jungbluth, 164).

Anstatt überwiegend bürgerliche, idealistische Ansätze zu rezipieren und ausgerechnet einen Vergleich Anna Siemsens mit Peter Petersen vorzunehmen (Bauer, 143; Jungbluth, 286-293), hätte man den Blick deutlicher auf die seit den 1990er Jahren entstandenen realhistorischen Studien im reformpädagogischen Umfeld richten können. Auch ist zu bemängeln, dass beide Autorinnen zwar den Forschungsstand skizzieren (Jungbluth, 24-26; Bauer, 7-11), aber im weiteren Verlauf die vorliegenden Untersuchungen kaum rezipieren bzw. kritische Anmerkungen als „Unterstellung“ (Bauer, 230) und „Vorwurf“ (244) abtun oder als „Missverständnisse[.]“ (Jungbluth, 320) werten. Damit erwecken sie den Eindruck, dass bisher nichts Substantielles bzw. eher Fehlerhaftes zum Leben und Werk Anna Siemsens vorgelegen hat. Entschuldigend kann vielleicht angeführt werden, dass sie vermutlich angesichts der Materialfülle dazu verleitet worden sind, überwiegend selbst aus den Quellen zu schöpfen. So wird der erstmals 1993 aufgedeckte Skandal, wie mit der Remigrantin in der Hamburger Bürokratie umgegangen worden ist [1], von beiden so ausgeführt, als handle es sich um neue Erkenntnisse (Bauer, 119-127; Jungbluth, 213-223).

Ehrenwert sind die Intentionen der beiden Autorinnen, Anna Siemsen und ihre pädagogische und politische Arbeit vorzustellen, zum einen, „damit diese bedeutende (Berufs-)Pädagogin nicht noch stärker in Vergessenheit gerät“ (Bauer, 4) und als Vorläuferin der Kritischen Erziehungswissenschaft gewürdigt wird (281), zum anderen, um ihre Verdienste „um die theoretische Begründung demokratisch-sozialistischer Reformpädagogik“ (Jungbluth, 377) herauszuarbeiten. Die Lebensgeschichte Anna Siemsens, insbesondere ihr Exil in der Schweiz während der NS-Zeit und das ihr zugefügte Unrecht in der Nachkriegszeit, muss zweifelsfrei als exemplarisch für politisch engagierte Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen angesehen werden [2]. Der Auseinandersetzung mit ihrem Werk hätte dennoch eine größere kritische Distanz gut getan. Die in den Monographien dokumentierte und analysierte publizistische und editorische Arbeit Anna Siemsens spricht dafür, sie eher als reformpädagogisch orientierte Bildungspolitikerin, aufklärerische Kulturvermittlerin und gesellschaftskritische Erwachsenenbilderin im kollektiven Gedächtnis der erziehungswissenschaftlichen Disziplin zu verankern.

[1] Inge Hansen-Schaberg: Rückkehr und Neuanfang. Die Wirkungsmöglichkeiten der Pädagoginnen Olga Essig, Katharina Petersen, Anna Siemsen und Minna Specht im westlichen Deutschland der Nachkriegszeit. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Band 1. Weinheim und München 1993, S. 319-338, hier S. 324-328; dies.: Anna Siemsen (1882-1951). Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin. In: Gisela Horn (Hrsg.): Die Töchter der Alma mater Jenensis. 90 Jahre Frauenstudium an der Universität von Jena. Rudolstadt 1999, S. 113-136, hier insbesondere S. 127-132.
[2] Vgl. Inge Hansen-Schaberg / Hiltrud Häntzschel (Hrsg.): Alma Maters Töchter im Exil – Zur Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der NS-Zeit. München 2011.
Inge Hansen-Schaberg (Berlin / Rotenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Inge Hansen-Schaberg: Rezension von: Bauer, Alexandra: Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen und ihr pädagogisch-politisches Wirken, Eine historisch-systematische Studie zur Erziehungswissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363163179.html