EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Mona Massumi
Migration im Schulalter
Systemische Effekte der deutschen Schule und Bewältigungsprozesse migrierter Jugendlicher
(Interkulturelle Pädagogik und postkoloniale Theorie; Bd. 7)
Berlin / Bern / Bruxelles: Peter Lang 2019
(446 S.; ISBN 978-3-631-79078-6; 69,95 EUR)
Migration im Schulalter Die umfangreiche Dissertationsschrift von Mona Massumi beschäftigt sich mit drei erziehungswissenschaftlich relevanten Problemen: Erstens zielt sie auf eine Untersuchung der Reaktionen des deutschen Bildungssystems auf strukturelle Veränderungen der Gesellschaft in Folge von Migration. Die Autorin geht davon aus, dass die Migrationsbewegungen der Gegenwart einen Transformationsdruck auf gesellschaftliche Institutionen – u.a. das Bildungssystem – ausüben, der deren Funktion deutlicher hervortreten lässt und analysierbar mache. Dabei fokussiert sie v.a. die Frage, welche Mechanismen Inklusions- und Exklusionsprozesse in den formalen Bildungsbiographien von nach Deutschland migrierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen strukturieren. Allerdings nimmt die Autorin die Betroffenen als handlungsfähige Subjekte in den Blick, die dem System nicht passiv ausgeliefert sind. In einer bildungstheoretischen Perspektive fragt sie daher zweitens nach den Handlungspotentialen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihre Bildungsziele in diesen Strukturen verwirklichen wollen. In einer normativen Perspektive geht es ihr drittens darum, „den demokratischen Anspruch des deutschen Bildungssystems auf den Prüfstand zu stellen“ (21).

Die umfassend und anspruchsvoll konzeptionierte Studie verbindet einen systematisch-strukturorientierten und einen individuumsorientierten Zugang. Die geschickt gewählten migrationssoziologischen, systemtheoretischen, handlungstheoretischen, migrationspädagogischen und bildungssoziologischen Ansätze werden in den ersten beiden Kapiteln zu einem produktiven theoretischen Analyserahmen verknüpft. Zunächst wird das Schulsystem in Form einer Dispositivanalyse im Sinne von Foucault untersucht (Kapitel 1).

Massumi nennt ihr Vorgehen „archäologisch“, denn sie gräbt die Geschichte der Reaktionen auf die Migration ins Bildungswesen der jüngeren Zeit aus. Dafür werden Dokumente der Bildungsadministration ausgewertet. Die vorbildliche, logisch klare Analyse nordrhein-westfälischer Erlasse zur „Beschulung“ von Kindern und Jugendlichen – mit und ohne Migrationshintergrund – macht ersichtlich, „dass das Schulsystem grundlegend durch zwei sich gegenseitig bedingende Gegenbewegungen strukturiert ist: die Erzeugung von Heterogenität und die Aufrechterhaltung von Homogenität“ (376). Die Vielfalt der Schülerschaft und ihre Differenz werden durch Auslagerung der „Störfaktoren“ zu homogenisieren versucht; dies sei das Grundmuster des deutschen Schulsystems im Umgang mit migrationsbedingter Pluralisierung (ebd.). Wer weiter zurückgehen will, was unbedingt zu empfehlen ist, kann z.B. bei Marianne Krüger-Potratz nachlesen.

Die Jugendlichen verfügen trotz der exkludierenden Bedingungen über „Wege der Selbstinklusion“ ins und im Schulsystem, mit denen sie ihre Bildungsbiographien mitstrukturieren. So begründet Massumi ihren zweiten handlungstheoretischen Zugang, um den „Habitus der Überlebenskunst“ – wie sie in Anlehnung an Louis Henri Seukwa (2006) schreibt – bei migrierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schule mit Hilfe einer qualitativen Interviewstudie zu erforschen (Kapitel 2): „Welche Hindernisse begegnen den befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Zugang zum sowie Verbleib im deutschen Schulsystem?

Auf welche Ressourcen und Kompetenzen greifen sie zurück“, bleiben leistungsfähig, setzen ihre Ziele um und bestimmen „damit eigene (Schul-)Biographien in entscheidender Weise“ (141) mit? In der empirisch-qualitativen Interviewstudie (Kapitel 3 und 4) stehen 21 Jugendliche und junge Erwachsene im Mittelpunkt, die nach dem 13. Lebensjahr Zugang ins deutsche Bildungssystem gefunden haben und zum Zeitpunkt der Untersuchung zwischen 15 und 24 Jahre alt waren. Massumi bezeichnet sie präzise als Schüler*innen „mit diskontinuierlichen Bildungsbiographien“ (vgl. S. 46). Der Begriff ist unhandlich, bringt die Leser*in immer wieder zum Stolpern und erinnert sie daran, dass Sozialmerkmale wie Sprache/n, Herkunft, Nationalität oder Aufenthaltsstatus nicht zur Erklärung der Bildungsbiographien herangezogen werden sollen, sondern zu fragen ist, welche Rolle die institutionellen Hindernisse bzw. die Logik des Schulsystems spielen.

Bei der Präsentation ihrer Ergebnisse führt Massumi die Leser*in dicht an Jugendliche heran, macht deren Wahrnehmung ihrer Situation und ihre Erlebnisse verständlich. Wunderbar von der Autorin ins Deutsche übersetzt oder in wörtlicher Form zitiert, werden die (oft enttäuschten) Hoffnungen sichtbar. Aber auch die Einsicht in Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und individuellen Faktoren, welche Widerstandsfähigkeit und Resilienz ermöglicht. Die individuellen Bewältigungs- und Handlungsstrategien werden mit Rückbezügen auf das Netz der Bestimmungen und Regelungen für den Bildungsbetrieb, der virulenten Denkweisen und Selbstverständlichkeiten rekonstruiert. Die vielfältigen Ergebnisse der Interviewanalyse bestätigen die systemtheoretischen Analysen. Sie zeichnen aus einer subjektiven Perspektive nach, wie sich die exkludierende Wirkung struktureller Bedingungen entfaltet und wie Exklusionsmechanismen konkret erlebt werden, etwa die behördlich vorgesehenen Wege der Aufnahme in Schule oder berufliche Bildung im Kontrast zu den gewählten bzw. eroberten Zugängen der Jugendlichen. Allein die Verteilung auf die Schulformen in der Sekundarstufe I zeigt erneut die kontraproduktive Wirkung des dreigliedrigen Schulsystems (in NRW) trotz der formulierten Absicht, in einer Art Moratorium mit dem Instrument der „Vorbereitungsklasse“ soziale Selektion zu verhindern. Spannend ist auch, welche Varianten des Prozessverlaufs bestehen, je nach rechtlichem Status, Alter, dem Umstand von Eltern begleitet oder unbegleitet zu sein. Beeindruckend sind ferner die Schilderungen der eigenen, als belastend empfundenen Lebenssituation vieler Interviewten. Gefühle wie Trauer und Wut, die Sehnsucht nach einer Rückkehr in das Leben vor der Emigration werden berichtet, aber auch die Bedeutung der Unterstützung durch Lehrer*innen, Jugendeinrichtungen und sportliche, musikalische und künstlerische Aktivitäten. Es zeige sich, dass geflüchtete Jugendliche aufgrund ihrer vergangenen und gegenwärtigen Lebenssituation häufiger einen belastenden inneren Zustand durchlebten als solche mit Migrations-, aber nicht Fluchterfahrung; beide Gruppen sind in der Stichprobe vertreten (355).

Auch wenn seit vielen Jahren darauf hingewiesen wird, dass Migration als „normale“ Ausgangslage für die Gestaltung der schulischen Strukturen und Prozess zu berücksichtigen sei, zeigt die Untersuchung, dass dem nicht so ist und weiter Bildungszeit verschwendet wird. Im Vergleich zu Befunden der Hamburger Gruppe zu Beginn der 2000er Jahre [2] werden einige Veränderungen und bildungspolitische Verbesserungen deutlich. Damals war der Bildungsraum Deutschland aufgrund rechtlicher, sozialer und anderer struktureller Bedingungen nahezu hermetisch verschlossen. So ist die Schlussfolgerung der von Massumi vorgelegten Untersuchung auch eine tröstliche Vorstellung: Die Schule in Deutschland ist beides, ein „Hindernisraum“ (359) und ein „Ermöglichungsraum“ (366). Dies führt zu Handlungsfähigkeit der Jugendlichen trotz widriger Bedingungen – anders als noch vor 20 Jahren.

Die von Massumi empfohlenen Konsequenzen sind nicht neu, aber berechtigt. Die Chance für Bildungsinklusion müsse erhöht werden – durch eine bessere Verfügbarkeit von Bildungsstrukturen, Sicherung des Zugangs durch durchlässige und unterstützende Strukturen, Berücksichtigung von sozialen Zusammenhängen und die Flexibilisierung von Systemstrukturen entsprechend der Lebenslagen und v.a. die Anerkennung von transnational erworbenen formalen Qualifikationen. Hinzufügen müsste man: auch der non-formalen und informellen, entsprechend der Herkunftskontexte, wie Seukwa betont. Schließlich ist der ethische Apell am Schluss (386f.) zu betonen: Die Bundesrepublik Deutschland müsse die Pflicht erfüllen, alle Gesellschaftsmitglieder – auch die Migrant*innen – ins Bildungssystem einzubeziehen.

[1] Seukwa, L.H.: Der Habitus der Überlebenskunst. Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Münster: Waxmann 2006.
[2] Neumann, U. / Niedrig, H. / Schroeder, H.-J. / Seukwa, L.H. (Hrsg.): Lernen am Rande der Gesellschaft. Bildungsinstitutionen im Spiegel von FlĂĽchtlingsbiografien. MĂĽnster: Waxmann 2003.
Ursula Neumann (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ursula Neumann: Rezension von: Massumi, Mona: Migration im Schulalter, Systematische Effekte der deutschen Schule und Bewältigungsprozesse migrierter Jugendlicher. Berlin / Bern / Bruxelles: Peter Lang 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363179078.html