EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Bernhard Hemetsberger
Schooling in Crisis
Rise and Fall of a German-American Succes Story
Berlin u.a.: Peter Lang 2022
(256 S.; ISBN 978-3-631-87446-2; 51,95 EUR)
Schooling in Crisis Mit dieser Wiener Dissertation hat Bernhard Hemetsberger eine hoch interessante Studie vorgelegt, deren Wert man aber nur richtig wĂŒrdigt, wenn man die „absent views“ (34f.), also die ausgeschlossen Analyseperspektiven bei der LektĂŒre prĂ€sent hĂ€lt, die der Autor in seiner Einleitung klar benennt. Obwohl fĂŒr die Zeit seit dem 18. und bis ins 20. Jahrhundert analysiert wird, wie in Deutschland und den USA ĂŒber Sinn und Wert, Funktion und Leistung des Bildungssystems pĂ€dagogisch und politisch, programmatisch und evaluativ geredet wird, handelt es sich ausdrĂŒcklich nicht um eine historisch-komparative Abhandlung ĂŒber Ideen, Systeme, Prozesse und Effekte der Beschulung in diesen LĂ€ndern. RatschlĂ€ge, gar an Politiker, sind schon gar nicht geplant (34). Hemetsberger legt vielmehr eine Diskursanalyse zum Thema vor, die sich auf einen ganz eigenen Quellenfundus stĂŒtzt: Als „(Analyzed) Primary Sources“ stĂŒtzt er sich fĂŒr die gesamte Zeit auf neun (!) publizierte Texte, die er als reprĂ€sentative Artikulation der bildungspolitischen Öffentlichkeit sieht und intensiv interpretiert. Das sind fĂŒr Deutschland vier Texte: Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde“ von 1768 fĂŒr Teil 1 („Enlightened Absolutism, Reform and ‚Cosmopolitanism‘“), Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ (1808) fĂŒr die Zeit bis 1850/60 (Teil 2: „Napoleon, Industrialization and Who‘s ‚We‘“), Nietzsches Rede ĂŒber „Die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ (1871/72) fĂŒr das ausgehende 19. Jahrhundert (Teil 3 „Neo-Absolutism/Republicanism, Liberalism and Nationalization“) sowie Georg Pichts Ausrufung der „Bildungskatastrophe“ (1964), die in Teil 4, „System Competition, Sputnik and Global Villages“, den deutschen Part vertritt. FĂŒr die USA stehen fĂŒnf Texte: FĂŒr die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Horace Mann mit drei seiner seit 1837 fĂŒr Massachusetts verfassten und kontrovers diskutierten „Reports on Education“, sowie Richard Grant Whites berĂŒhmte Analyse „The Public School Failure“ von 1880; fĂŒr das 20. Jahrhundert steht allein die Krisendiagnose des Vizeadmirals Hyman G. Rickover, der 1959 im Kontext des Sputnik-Schocks ĂŒber „Freedom and Education“ geschrieben hat und gegen reformpĂ€dagogische Illusionen fĂŒr eine standardbasierte, primĂ€r an Eliten orientierte nationale Bildungspolitik plĂ€diert hat, folgenreich bis zu „A Nation at Risk“ 1983. Diese im Text intensiv zitierten Quellen – die also den Übergang ins 21. Jahrhundert und die nach PISA-Sequenz von Krisendiagnosen und neuen Forderungen ausblenden – werden jeweils akteur- und situationsbezogen, medial, kontextual und argumentationstheoretisch ausgelegt, eingebettet in eine Vielzahl von „(Illustrated) Secondary Sources“, wobei die gesamte Interpretation wiederum von einer breiten, hier und da selektiv genutzten SekundĂ€rliteratur geleitet ist.

Auf dieser materialen Basis ergibt sich eine Darstellung, die gegenĂŒber Ereignissen und Prozessen eine sehr distanzierte Position einnimmt. Vergleichbar mit Luhmanns EingestĂ€ndnis, dass er soziale Systeme „in ungewöhnlicher Abstraktionslage“ betrachte, im „Flug ĂŒber den Wolken 
 mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke“ [1], betont Hemetsberger, dass er erst mit seinem „bird‘s eye view“ (19) die „grand tour of crises narratives in Western schooling“ und deren „social functions“ (34) belegen könne. Die ausgewĂ€hlten Diskurse haben also in der Rhetorik der Krise ihr kontinuierliches Thema. Deren je nationale ZĂ€suren und Konjunkturen demonstriert der Autor vorab in einer Frequenzanalyse (mit Google NGram Viewer-Daten) deutscher und US-amerikanischer Veröffentlichungen der Zeit von 1780 bis 2008 zu den Themen „Schule, Reform und Krise“. Dann zeigen schon die beiden Grafiken (18, 19) neben vergleichbaren Befunden aber auch, dass der Verlauf der Diskurse in den beiden LĂ€ndern nicht deckungsgleich ist. Die Spitzen sind vielmehr um etwa 100 Jahre versetzt, in Deutschland gibt es eine erste Spitze schon um 1800, eine vergleichbar starke in den USA erst um 1900, erst danach vergleichbare Frequenzen. Die Spitzen indizieren zwar thematisch vergleichbare Diskurse, in denen politische, soziale und kulturelle Probleme aber doch je national-kulturell als Krise codiert und, wieder gemeinsam, in hohe Erwartungen an die Leistungen des Bildungssystems ĂŒbersetzt werden und versprechen, mit der PĂ€dagogisierung der Probleme die höchsten Erwartungen fĂŒr die Herstellung von – je national different gewichtet – Einheit, Gleichheit, ökonomischem Erfolg, sozialem Aufstieg (etc.) zu erbringen. Allerdings, im Ergebnis betont Hemetsberger (mit der SekundĂ€rliteratur), dass die Versprechen nie eingelöst wurden, und wirft die Frage auf, ob diese permanente Wiederkehr von Krisendiagnose, Bildungsversprechen und Lösungsoptimismus nicht an ihr Ende gekommen sei. Abschließend diskutiert er, ohne eindeutige Antwort, deshalb die Frage, ob das klassische Modell der öffentlichen Beschulung im Grunde erschöpft oder vielleicht durch bessere Rhetorik noch zu retten sei. Die jetzt auch in Deutschland wachsende Tendenz zum Besuch von Privatschulen, in den USA immer schon Residuen klassenspezifischer Privilegierung, liest er als Indiz dafĂŒr, dass die „middle class“, fĂŒr die – so seine These bereits in der Problemexposition im Prolog – das öffentliche Bildungssystem als Instanz fĂŒr Statussicherung eingerichtet wurde, das ‚Vertrauen‘ in das System verloren habe. Auch die Politik setze schon stĂ€rker auf Erziehung, also soziale Kontrolle, statt hohe Erwartungen an Bildung zu favorisieren. Aktuell, so erlĂ€utert er mit Krisentheorien von Reinhart Koselleck bis zu JĂŒrgen Habermas und Claus Offe, erfĂŒlle das traditionelle Diskursmuster seine Funktion nicht mehr, denn weder legitimatorisch noch prĂ€ventiv noch zukunftsbezogen könne es jetzt noch das geeignete Instrument des symbolischen Umgangs mit politischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Systemproblemen (eine Trias von Habermas) werden, welches es in Deutschland oder den USA so stark gemacht habe. FĂŒr die Verbreitung von alten Illusionen stehen auch nicht mehr die inzwischen skeptisch gewordenen Theoretiker, sondern nur noch die politische Rhetorik, z.B. in Barack Obamas Wahlversprechen oder in Angela Merkels Beschwörung der „Bildungsrepublik“.

Kann Hemetsbergers Analyse ĂŒberzeugen? Einer historiographischen Kritik entzieht er sich explizit, komparativ sind die Befunde ĂŒber Gemeinsamkeiten und Differenzen der Diskurse aber doch sehr aufschlussreich, schon weil erneut der alte Mythos destruiert wird, dass deutsche Vorbilder einfach ĂŒbernommen wurden. Die USA-Debatte lĂ€sst sich zwar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von diesem aus inspirieren, aber sie importiert mit Distanz und fĂŒgt fremde Ideen reflektiert in den eigenen Kontext ein. Kaum zu bestreiten ist auch die resĂŒmierende These, dass Privatschulen Gewinner der aktuellen Bildungssystementwicklung sind, und natĂŒrlich trifft zu, dass Bildungssysteme als Orte der Reproduktion sozialer Ungleichheit und der Sicherung hergebrachter Privilegien funktionier(t)en. Krisendiagnosen und -therapien hatten immer auch sozialprotektive und exkludierende sowie – und nicht erst 1933 oder nur in Deutschland – stark antisemitische Funktionen. Hemetsberger erwĂ€hnt zwar die konstanten antiindigenen Exklusionsdebatten und -praxen der USA, klammert aber die anderen stabilen Exklusionsmuster aus. [2] FĂŒr Deutschland endet Teil 3, der mit Nietzsche 1872 einsetzt, leider schon um 1900, so dass mit der Krise um 1930/33, obwohl der peak in der Frequenzanalyse sie als signifikant ausweist, auch die manifeste antisemitische Argumentation ausgespart wird.

Das fĂŒhrt zu den Grenzen seiner Analyse, schon auf der Diskursebene. Problematisch erscheint mir vor allem, dass – verfĂŒhrt durch die PrimĂ€rquellen – in den von ihm analysierten Diskursen das Bildungssystem nahezu nur mit dem ‚höheren‘ Bildungswesen thematisiert wird. In den dafĂŒr bekannten Funktionszuschreibungen [3] wird aber ignoriert, dass das Bildungssystem mit der allgemeinen Schulpflicht auch der paradoxe Ort wurde, an dem zwar die Unterschichten primĂ€r diszipliniert werden sollten, wo sie sich zugleich aber – der politisch so irritierende Eigensinn von Schule! – im Erwerb kultureller Kompetenz emanzipierten, auch gegen die allgegenwĂ€rtige politische Indoktrination und auch gegen den in Deutschland wie in den USA verbreiteten Irrglauben an die scheinbar genetisch gegebene und deshalb legitime Verteilung von Begabung und Bildungschancen parallel zur Sozialstruktur, die JĂŒrgen Habermas als „pessimistische Anthropologie“ kritisiert hat. FĂŒr die politische Dimension wĂ€re es hilfreich gewesen, neben Nietzsche (und der nationalen Rhetorik des Kaisers von 1890) auch Wilhelm Liebknechts „Wissen ist Macht“, ebenfalls 1872 – und ohne GegenstĂŒck in den USA –, einzubeziehen; gegen den anthropologischen Pessimismus hĂ€tte, nicht erst im Picht-Kontext, die Begabungsdiskussion geholfen, die auch ganz fehlt, aber fĂŒr den Diskurs ĂŒber „schooling“ zentral ist. Mit John Dewey kommt dieser Strang zumindest fĂŒr die USA vor, komparativ aber zu gering. Ausgegrenzt ist auch der radikalkritische bildungspolitische Diskurs. Dieser war mit Liebknecht schon frĂŒh prĂ€sent, in den USA im 20. Jahrhundert zumindest analytisch z.B. bei Bowles und Gintis oder McLaren. [4] Mit seiner Konstruktion der Quellenbasis geht deshalb auch die historisch schon gegenwĂ€rtige Kritik des Diskurses selbst verloren, und mit der These von der ergebnislosen Wiederkehr der gleichen Diskurs-Figur verschwindet der radikale Wandel, den das Bildungswesen in den USA wie in Deutschland seit dem spĂ€ten 18. Jahrhundert vollzieht, in der Bildungsbeteiligung, in der Struktur, in der Organisation. Aber das ist Thema der Systemgeschichte, die zwar explizit ausgegrenzt wurde, aber offenbar auch zur Analyse der RationalitĂ€t von Diskursen nicht entbehrt werden kann.

[1] Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme (1. Aufl.). Suhrkamp (12 f.).
[2] In der Literatur und im Blick auf die Diskurse habe ich u.a. vermisst: Karabel, J. (2005). The chosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale and Princeton. Houghton Mifflin. (Vgl. meine Rezension in: Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik 53(2007), 265-268 ). Karabel kann nachdrĂŒcklich zeigen, wie die Ausgrenzung von Juden, Schwarzen, Frauen, Absolventen stĂ€dtischer high schools oder Unterschichten die Auslesepraktiken der Ivy League UniversitĂ€ten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konstant bestimmt hat.
[3] Claus Offe hat deren SchwĂ€chen im Verweis auf die meist ignorierte Sockelqualifikation, also „z.B. Lesen/Schreiben, sprachliche Qualifikationen, mathematische Grundoperationen“ (226), frĂŒh gezeigt, vgl. Offe, C. (1975). Bildungssystem, BeschĂ€ftigungssystem – AnsĂ€tze zu einer gesamtgesellschaftlichen Funktionsbestimmung des Bildungswesens. In Deutscher Bildungsrat. Bd. 50. (S. 215–252).
[4] Habermas, J. (1961). PĂ€dagogischer Optimismus vor dem Gericht einer pessimistischen Anthropologie. Schelskys Bedenken zur Schulreform. In Neue Sammlung 1. (S. 251-278); fĂŒr die USA-Diskussion zeitgleich die Kontroverse ĂŒber die rassistische Argumentation bei Jensen, A. R. (1969). How Much Can We Boost I.Q. and Scholastic Achievement? Harvard Educational Review 39(1), 1–123; und fĂŒr die Diskussion Harvard Educational Review (Spring and Summer 1970); systematisch sehr hilfreich Gould, S.J. (1981). The Mismeasure of Men. Norton.
[5] Peter McLarens Studien zur “Critical Pedagogy” mögen zeitlich zu spĂ€t liegen, aber die Studie von Samuel Bowles und Herbert Gintis „Schooling in Capitalist America. Educational Reform and the Contradictions of Economic Life“ ist bereits 1976 erschienen (dt. 1978), zeitgleich zu anderen Studien, die Hemetsberger sehr wohl berĂŒcksichtigt.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Hemetsberger, Bernhard: Schooling in Crisis, Rise and Fall of a German-American Succes Story. Berlin u.a.: Peter Lang 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363187446.html