EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Jutta Reich-Claassen
Warum Erwachsene (nicht) an Weiterbildungsveranstaltungen partizipieren
Einstellungen und prägende Bildungserfahrungen als Regulative des Weiterbildungsverhaltens
Eine qualitativ-explorative Untersuchung erwartungswidriger Teilnahme und Nichtteilnahme an Erwachsenenbildung
(MĂĽnchner Studien zur Erwachsenenbildung, Bd. 6)
Berlin: LIT Verlag 2010
(414 S.; ISBN 978-3-6431-0635-3; 29,90 EUR)
Warum Erwachsene (nicht) an Weiterbildungsveranstaltungen partizipieren Jutta Reich-Claassen greift mit ihrer Dissertation die Debatte über die Gründe für die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an Weiterbildungen auf mit dem Ziel, „einen Beitrag zum Verstehen des Zustandekommens von Weiterbildungsverhalten zu leisten“ (12). Weiterbildungsbeteiligung bzw. -abstinenz versteht die Autorin nicht als objektiv wirksame Schranken, Hindernisse oder Türöffner, sondern vielmehr als Resultat von bewusst begründeten Entscheidungsprozessen. Mit diesem Vorhaben distanziert sie sich von der Fülle an quantifizierenden Befunden zur Weiterbildungspartizipation (Kap. 2), betont aber gleichzeitig die für die Studie zentrale "Verbindung zwischen sozioökonomischen und soziodemographisch determinierenden Faktoren" (126) einerseits und subjektiven Deutungen und Interpretation andererseits. Die Verzahnung dieser beiden Perspektiven ist im Forschungsdesign angelegt, in dem sich das Erkenntnisinteresse der Studie Personen zuwendet, die sich mit Blick auf die Weiterbildungsstatistik erwartungswidrig verhalten und trotz hohem Qualifikationsniveau nicht an Weiterbildungen teilnehmen bzw. trotz niedriger Qualifikation an Weiterbildungen partizipieren. Die Autorin führt hierfür die holprigen und im Laufe der Studie etwas überstrapazierten Begriffe „Erwartungswidrig-Passive“ und „Erwartungswidrig-Aktive“ ein. Ergänzt werden diese Bezeichnungen durch das nicht minder sperrige Begriffspaar „Erwartungskonform-Aktive'“und „Erwartungskonform-Passive“.

Die empirisch gehaltvolle Studie ist als Gesamtwerk durchaus bemerkenswert. Es gelingt ihr, sowohl bisherige Erkenntnisse der Weiterbildungspartizipationsforschung als auch die eigenen empirischen Befunde in der Weise zu veranschaulichen, dass ein umfassender und fundierter Einblick in das Weiterbildungsverhalten von Personen mit konträren Bildungshintergründen möglich ist. Da und dort treten allerdings einige Brüche auf, die insbesondere in der theoretischen Argumentation, aber auch in der Präsentation der Ergebnisse auszumachen sind.

Eine theoretische Rahmung nimmt Jutta Reich-Classen mit der „Theory of Reasoned Action“ vor (Kap. 3). Mit diesem Theoriegerüst führt die Autorin die Begriffe Einstellung, verstanden als eine Vielzahl von aktuell bedeutsamen verhaltensbezogenen Überzeugungen, und subjektive Norm ein, welche als Entscheidungsfaktor der sozialen Umgebung Rechnung trägt. Die Autorin ergänzt dieses Begriffspaar unter Bezugnahme auf die „Theory of Planned Behavior“ mit der Determinante wahrgenommene Verhaltenskontrolle, worunter die "subjektiv wahrgenommenen Schwierigkeiten, ein beabsichtigtes Verhalten auch tatsächlich ausführen zu können" (61), zu verstehen sind. Ein Verhaltensziel ist demnach insbesondere dann zu erreichen, wenn genügend Ressourcen und Gelegenheiten zur Verfügung und möglichst wenig hinderliche Faktoren im Wege stehen. Mit einer Bestandsaufnahme von verschiedenen Studien und Metaanalysen, die im angloamerikanischen Raum entstanden sind und mit statistischen Verfahren diese theoretischen Modelle zu bestätigen versuchten, weist die Autorin nach, dass die Einstellung übereinstimmend als stärkster und signifikanter Prädiktor für das Weiterbildungsverhalten fungiert.

Dagegen hängt der Einfluss der unabhängigen Variablen subjektive Norm und subjektiv wahrgenommene Verhaltenskontrolle vom Forschungsdesign und der jeweiligen Operationalisierung der Begrifflichkeit ab. Es ist deshalb nachzuvollziehen, weshalb die Autorin, auch aufgrund der von verschiedenen Autorinnen und Autoren immer wieder monierten Theorielosigkeit der Partizipationsforschung, die Einstellung als zentrales Regulativ für das Weiterbildungsverhalten in ihrer Studie verwendet. Deutlich weniger akzentuiert beschreibt die die Autorin das zweite zentrale Regulativ, das sie als Ausgangspunkt für ihre Forschung macht: Zwar wird die subjektiv-affektive Schulerfahrung mit Verweis auf die immer noch wegweisende Göttinger Studie (Strzelewicz / Raapke / Schulenberg 1966) als Hindernis oder auch als Türöffner für Weiterbildungsteilnahme positioniert, eine theoretische Einbettung, wie dies an dieser Stelle zu erwarten wäre, erfolgt jedoch nicht.

Methodisch orientiert sich die Autorin an einem triangulativen Verfahren (Kap. 5), das sich in erster Linie auf qualitative Daten stützt und dem zwei verschiedene Erhebungsverfahren zugrunde liegen: Um in Anlehnung an Bohnsack milieutypische und gruppenspezifische Verhaltensweisen zu analysieren, wendet Reich-Claassen das Verfahren der Gruppendiskussion an. Mit sechs Gruppen von Erwartungswidrige-Aktiven (n=41) und vier Gruppen von Erwartungswidrige-Passiven (n=20) wurden mit Hilfe eines Leitfadens und verschiedenen Gesprächsstimuli (Polaritätenprofil, Ballontest etc.) Interviews von durchschnittlich 120 Minuten Dauer geführt. Dieser Datensatz bildet den Kern der eigentlichen Untersuchung. Ergänzt wird er durch Sekundärdaten, die im Rahmen der Studie "Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland" generiert wurden. Insgesamt 113 Interviews wurden im Hinblick auf die Forschungsfrage neu codiert und kategorisiert und dienen sowohl als Vervollständigung als auch der Kontrastierung zu den Gruppendiskussionen. Den Einbezug dieser Daten nimmt die Autorin mit der notwendigen Umsicht vor, in dem sie immer wieder kritisch die Herkunft und Entstehung der Daten reflektiert und keine voreiligen Schlüsse für die eigene Forschung zieht (291, 342). Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt deshalb notwendigerweise in aufzählender und vergleichender Form, was aus methodischer Sicht verständlich, wenn nicht gar notwendig ist, eine bessere Verzahnung der Daten der Übersichtlich- und Lesefreundlichkeit jedoch gut getan hätte.

Die Resultate werden thematisch getrennt in vier verschiedenen Unterkapiteln dargestellt (Kap. 6 und 7), von denen die bereits aus dem Titel hervorgehenden Aspekte der Einstellung und der subjektiv-affektiven Schulerfahrung im Zentrum der Analyse stehen. Weshalb die zusätzlichen Gesichtspunkte von Weiterbildungsbarrieren und -motivationen sowie die Bildungsbegriffe der Probanden im Ergebnisteil ebenfalls auftauchen, die im theoretischen Teil teils gar nicht thematisiert oder teils nur peripher mit der Lerntheorie von Holzkamp gestreift werden, ist wohl eher auf die Forschungstradition im Umgang mit diesen Blickwinkeln als auf eine stringente Theorieargumentation zurückzuführen. Die dadurch entstehenden Redundanzen sind einer übersichtlichen Darstellung der Befunde jedenfalls eher hinderlich. Hervorzuheben gilt hier jedoch, dass die Autorin die Ergebnisse der Studie mit grosser Sorgfalt und in enger Anlehnung an den Datensatz aufbereitet, Interpretationen behutsam und nachvollziehbar einbringt und somit insgesamt ein realistisches und empirisch gehaltvolles Bild der Weiterbildungsteilnahme bzw. -nichtteilnahme skizziert.

Nebst der vorbildlichen wissenschaftlichen Präzision liegen die Stärken des Forschungsprojektes im Zugang zu sich erwartungswidrig verhaltenden Personengruppen, die bislang in dieser Art und Weise noch nicht untersucht wurden. Die Ergebnisse der Studie erstaunen indes nicht und bestätigen in vielerlei Hinsicht bereits bekannt Befunde: Als Weiterbildungsbarrieren werden fehlende zeitliche Ressourcen, mangelnde Verwertungs- und Nutzenaspekte, mangelnde Transparenz des Weiterbildungsmarktes sowie finanzielle Aspekte genannt. Verwertungs- und Nutzenaspekte können auch als Weiterbildungsmotive fungieren. Darunter sind auch „Diskrepanzerfahrungen“ sowie intrinsische Motive wie Freude, Spass und Themeninteresse zu subsumieren.

Weiterführende und für die Erwachsenenbildungsforschung gewinnbringendere Ergebnisse sind insbesondere im Untersuchungssegment „Weiterbildungseinstellung“ zu verorten. So besteht für Reich-Claassen aufgrund der Datenlage kein Zweifel darüber, dass dieser Gesichtspunkt eine zentrale, über die soziodemographischen Faktoren hinausgehende Determinante der Weiterbildungsbeteiligung darstellt. Diese Erkenntnis wurde jedoch bereits im Theorieteil ausgewiesen, weshalb allenfalls auch ein hypothenprüfendes Verfahren angezeigt gewesen wäre. Etwas vorsichtiger drückt sich die Autorin hinsichtlich der prägenden Schulerfahrung aus. Ihrer Meinung nach zeigt sich an verschiedenen Stellen ihrer Studie eine auffallende Nähe zwischen schulischen Bildungserfahrungen und der Einstellung zur Weiterbildung. Einen direkten Zusammenhang will und kann die Autorin aufgrund des qualitativen Forschungsansatzes jedoch nicht postulieren.

Insgesamt handelt es sich bei der Dissertation von Jutta Reich-Claassen um eine lesenswerte Studie, welche insbesondere durch ihre Sorgfältigkeit und ihrer Verpflichtung zur Empirie besticht. Im Ergebnisteil beschreibt die Autorin vorbildlich, sehr detailliert, ausführlich und immer wieder Bezug nehmend auf relevante Literatur die Einstellungen und die subjektiv-affektiven Schulerfahrungen der verschiedenen Probandengruppen.

Leider kann sie die Resultate aber nicht in der Weise verdichten, dass dem Leser ein Überblick über die wichtigsten zentralen Punkte der Forschung zugänglich wäre. Dabei würde gerade das von der Autorin gewählte Design beispielsweise eine tabellarische Übersicht nahe legen, zumal eine vergleichende und interpretative Spiegelung der Gruppendiskussion mit den Sekundärdaten der „Kontrollgruppe“ im Fliesstext nur andeutungsweise stattfindet und die Untersuchung sich auf ein beschreibendes Verfahren der beiden Zugänge beschränkt.

Dennoch gelingt es der Autorin, das von ihr avisierte Ziel, „einen Beitrag zum Verstehen des Zustandekommens von Weiterbildungsverhalten zu leisten“ – nicht weniger, aber auch nicht wesentlich mehr, wie insbesondere das Kapitel „Fazit und Ausblick“ (Kap. 8) verdeutlicht. Dort reflektiert die Autorin ausführlich die von ihr gewählten theoretischen und empirischen Zugänge, unterlässt es aber, einen Bezug zur Weiterbildungspraxis herzustellen. In der Tat ist es schwierig, mit dem spezifischen Erkenntnisinteresse der Forscherin und der diesem zugrunde liegenden Forschungsfrage, praxisrelevante Schlussfolgerungen zu ziehen – wünschenswert wäre dies aber allemal.
Martin Schmid (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Schmid: Rezension von: Reich-Claassen, Jutta: Warum Erwachsene (nicht) an Weiterbildungsveranstaltungen partizipieren: Einstellungen und prägende Bildungserfahrungen als Regulative des Weiterbildu, Eine qualitativ-explorative Untersuchung erwartungswidriger Teilnahme und Nichtteilnahme an Erwachsenenbildung (MĂĽnchner Studien zur Erwachsenenbildung, Bd. 6). Berlin: LIT Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978364310635.html