EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)

Bütow, Birgit / Pomey, Marion / Rutschmann, Myriam / Schär, Clarissa / Studer, Tobias (Hrsg.)
Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie
Wiesbaden: Springer 2014
(278 S.; ISBN 978-3-6580-1399-8; 34,99 EUR)
Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie Dieser Band versammelt Beiträge der Tagung „Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Alte und neue Politiken des Eingreifens“ vom 5. / 6. Juli 2012 an der Universität Zürich. Die lesenswerte Einleitung beleuchtet historische (zum Vergleich von Deutschland und Schweiz), begriffliche („Kindeswohl“ und „Verwahrlosung“), gesellschaftstheoretische (Verschiebung der Trennlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit) und disziplinäre (Kindperspektive in der Sozialpädagogik) Aspekte und lässt sich als Vertiefung der Einzelbeiträge lesen. Das Buch entwirft im ersten Teil eine historische Perspektive auf die Fremdplatzierung, der zweite Teil beleuchtet Prävention und frühe Hilfen im Kontext der Sozialpädagogik, der dritte setzt sich mit Interventionen bei Kindeswohlgefährdung auseinander und der abschließende vierte Teil reflektiert genereller das Verhältnis von Familie und Staat.

Sabine Toppes Analyse zweier Einzelstudien der von Alice Salomon gegründeten „Deutschen Akademie für Soziale Frauenarbeit“ kommt zum Schluss, dass diese entgegen dem zeittypischen Trend, Familien in ihrem sozialen Kontext wahrzunehmen bemüht waren und deren Lebenswirklichkeit möglichst ungeschminkt abbildeten. Andererseits blieben sie doch in ihrem Ergebnis einem normativen, staatliche Interventionen legitimierenden Familienideal verhaftet.

Thomas Huonker stellt dem eine anschauliche, engagiert-parteiliche Geschichte der Akteure und Strukturen schweizerischer Fremdplatzierung durch die Jahrhunderte zur Seite, die sich als eine Geschichte des Missbrauchs von Staatsgewalt lesen lasse. Die rechtliche und inhaltliche Unbestimmtheit zentraler Begriffe wie jenem der „Verwahrlosung“ macht diese zu Instrumenten einer obrigkeitsstaatlichen Ausübung von Gewalt und Stigmatisierung gegenüber gesellschaftlich missliebigen Gruppen und Familien.

Der Beitrag von Reinhild Schäfer und Alexandra Sann geht der Frage nach, wohin sich sieben Jahre nach seinem Start das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ entwickelt. Eine zentrale Rolle bei der Identifizierung des Gefährdungspotentials spielen die Risikofaktoren. Sie beruhen auf der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, was notwendigerweise zur Entdeckungen immer neuer Risiken führt. Der Staat greift die daraus resultierende Befindlichkeit auf und bietet Schutz an, indem er nun nicht mehr auf konkrete Gefahren reagiert, sondern seine Leistungen im Sinn der Prävention vorverlagert. Das kommt einer Ausweitung der sozialen Kontrolle gleich. Schon kleine Abweichungen von Vorschriften wie etwa der Nichtbesuch von „freiwilligen“ Vorsorgeuntersuchungen führen dann zur Überprüfung des familiären Umfelds. Die Autorinnen fordern eine klare Differenzierung zwischen Frühen Hilfen, die ausschließlich der Förderung dienen sollen, also Freiwilligkeit als Prinzip und Vertrauen als Handlungsgrundlage setzen und dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, für den das Prinzip der Kontrolle der Eltern zum Schutz des Kindes gelten muss.

Friedrich Schorbs Beitrag zeichnet die Entstehungsbedingungen des Phänomens Adipositas-Epidemie nach. Die Entwicklung hin zu fetthaltigerem Essen und weniger Bewegung, die nach dem Krieg begonnen hat, wurde in der Rezeption auf die letzten 30 Jahre beschränkt. In den USA konnte in den 80ern aber eine Verdreifachung des Anteils adipös klassifizierter Kinder festgestellt werden, so dass der Boden für die Definition einer „Epidemie“ gelegt war. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stufte daraufhin Adipositas als erste unter den nicht-infektiösen Krankheiten als Epidemie ein. Das führte dazu, dass heute individuelle Ursachen-Konstellationen kaum mehr wahrgenommen werden. Der Autor fragt weiter danach, wie sich die Maßnahmen zur Bekämpfung in die Prämissen des aktivierenden Sozialstaats einfügen. Das neue Interesse an der richtigen Ernährung sei Teil eines Paradigmenwechsels vom vorsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat. Die Sozialpädagogik sehe heute ihren Gegenstand nicht mehr in der Definition und Bearbeitung von sozialen Problemen, sondern darin, „Compliance“ seitens des Klienten zu erzeugen.

Der Beitrag von Doris Bühler-Niederberger, Lars Alberth und Steffen Eisentraut untersucht auf der Basis von Interviews mit im Bereich Kindeswohlgefährdungen tätigen SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, ob und wie Konstituenten von Professionalität sichtbar werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Professionellen keinen separierenden Blick auf die Kinder werfen, d. h. sie beanspruchen kein Expertenwissen, sondern nehmen einfach die Erwachsenenposition ein. Sie orientieren sich recht klar an sozialer Ordnung. Das drückt sich darin aus, dass diagnoseartige Vorgaben von Kindergarten, Schule, etc. und damit ein Normalisierungs-Blick relativ ungeprüft übernommen werden: das Kind stört, ist auffällig etc.. Das Kind bleibt Nebendarsteller in der institutionellen Darstellung seiner Geschichte, und seine Sicht wird kaum berücksichtigt. Stattdessen orientieren sich Professionelle an einer Ideologie elterlich-gemeinsamer Sorge um das Kind.

Der Beitrag von Marion Pomey untersucht die juristischen Rahmenbedingungen sozialpädagogischer Krisenintervention und die Statistik der Inobhutnahmen in der Schweiz. Es zeigt sich die Tendenz, „immer mehr Kinder zu beobachten“, und dabei zur Legitimation auf die Förderung von Bildungsprozessen zu rekurrieren. Der öffentliche Zugriff auf Familien verschiebt sich so weiter in die Familien hinein. Dem entspricht seitens der professionellen Disziplin ein Krisenbegriff, der mit impliziten und expliziten normativen Setzungen durchzogen ist. Im qualitativ-empirischen Teil wird aufgezeigt, wie im Aushandlungsprozess zwischen Professionellen einer Kriseninterventionsstelle und Müttern über die weitere Unterbringung des Kindes letztere versuchen, einen von sich selber wie von der Umgebung erwarteten „normalen“ Alltag zu leben. Klientinnen mit einem Vertrauensverhältnis zu den Professionellen erhalten dabei mehr Mitbestimmungsrechte.

In ethnomethodologischer Tradition fragt die Studie von Timo Ackermann nach den formalen kommunikativen Mitteln, mittels derer mit Fremdplatzierungen befasste Professionelle sich und anderen gegenüber ihre Entscheide als plausibel und legitim darzustellen vermögen. Die Ergebnisse zeigen, dass der „Fall“ nicht etwas ist, worauf Professionelle reagieren, sondern etwas, was er allererst über Alltagsmethoden herstellt. Herzstück dieses Prozesses stellt die Integration der Beobachtungen und Diagnosen von Ämtern, Schulen und anderen Professionen dar. Produziert werde so eine „amtliche Realität“, die erst die Zurechenbarkeit von Handlungen und Begründungen ermögliche.

Bruno Hildenbrands Ausgangspunkt ist die Frage, weshalb die Sozialpädagogik im Bereich des Kinderschutzes nicht als Profession anerkannt ist. Häufig seien Missverständnisse mit ÄrztInnen, weil diese im Rahmen ihrer habitualisierten Arbeitsbündnisorientierung rückhaltlos Verantwortung für KlientInnen übernehmen, was von SozialpädagogInnen als Arroganz wahrgenommen werde. Praktisches Urteilsvermögen, aufmerksame Wachheit (nicht zu verwechseln mit kontinuierlichem Verdacht) und intellektuelle Distanz fehlten, was sich in mangelnder Resistenz gegenüber der aufkommenden standardisierten Diagnostik ausdrückt. Insbesondere müsse die Sozialpädagogik als Disziplin sich klarmachen, dass sie das gesetzlich zugeschriebene Wächteramt (und damit Kontrolle wie auch Verantwortung) zu übernehmen habe und als Chance begreifen müsse, aus eigener fachlicher Autonomie heraus eine tragfähige Haltung zum Hilfe-Kontroll-Dilemma zu entwickeln.

Der Beitrag von Martina Richter setzt als Hintergrund den zeitgeschichtlichen Befund, dass die Verantwortung für das Aufwachsen und die Bildung von Kindern unter zehn Jahren sich vom privat-familialen in den öffentlichen Bereich verschiebt. Einerseits schlägt eine „marktzentrierte Familienpolitik“ (Ostner) langsam, aber sicher auf die Gestaltung des Familienalltags durch, andererseits wird ‚gute Kindheit‘ zunehmend (und ubiquitär) als Pflicht beider Sphären gesehen. Dies drückt sich etwa bei Ganztags-Grundschulen darin aus, dass deren Angebote explizit Bildungsansprüchen genügen müssten (oder einfach der Schulkarriere des Kindes). Es kommt aktuell zu einem eigentlichen „reframing of families“ (Gillies): Gefordert wird von den Eltern, dass sie die Familie als Ort des Kompetenzerwerbs einrichten und die Kinder einpassen in eine Lebenswelt, die schon unter dem Primat der Ökonomie steht.

Walter Gehres plädiert in seinem Beitrag für eine Anerkennung der Autonomie der Familie seitens institutioneller Akteure und Professioneller. Mittel dazu ist ihm die Rückbesinnung auf das Theorem der strukturellen Triade im Anschluss an Parsons, Oevermann und Hildenbrand. Demnach bringt der mit der Diffusität und Nichtaustauschbarkeit der Personen in der Familie einhergehende Ausschließlichkeitsanspruch einen unauflösbaren Widerspruch in die Familie: immer ist eine familiäre Position vorübergehend ausgeschlossen und muss als „Dritter“ zurückgewonnen werden. Die sozialisatorische Triade vermittelt Kindern, in wechselnden Koalitionen unausweichlich und notwendig immer wieder ein- und ausgeschlossen zu werden. Standardisierte Interventionen verkennen, dass rollenförmige Leistungen das sozialisatorische Geschehen in der Familie nie ersetzen können.

Die Beiträge von Tobias Studer und Erich Otto Graf basieren auf einer Kritik der kapitalistischen Produktionsweise. Studers These lautet, dass der Sozialpädagogik in diesem Rahmen die Aufgabe zukomme, Bürgerschaft bei den KlientInnen und damit mehr Demokratie in der Gesellschaft zu ermöglichen. Das würde bedeuten, dass sie bei der Rekrutierung von Pflegefamilien einer (leider nicht näher erläuterten) Standardisierung, der Privatisierung des Pflegekinderbereichs sowie der Reduktion direkter kommunikativer Beziehungen zwischen den AkteurInnen entgegentreten muss. Vor dem Hintergrund einer vor allem historisch orientierten Kapitalismus-, Genderismus- und Biopolitik-Kritik fordert Graf in seinem Beitrag von der Sozialpädagogik, sich die strukturellen Hintergründe der in ihrem Handlungsfokus liegenden Problemlagen bewusst zu machen. Andernfalls werde sie zur Magd der Herrschaft, indem sie soziale Probleme individualisiert.

Die Beiträge sind vielfältig in ihren theoretischen und methodischen Zugangsweisen, wobei sich jedoch bei den empirischen Beiträgen eine klare Tendenz zu qualitativen Forschungsstrategien abzeichnet. Insgesamt spiegelt der Band damit in angemessener Weise den Facettenreichtum der Problematik wider. Allerdings bringen die meisten Beiträge ihre jeweilige theoretische Basis nicht mit letzter Konsequenz ins Spiel. Ob Diskursanalyse, Spätkapitalismus-Kritik, Psychoanalyse oder Systemtheorie – oft werden nur einzelne Theoreme herausgelöst, so dass sich eine manchmal etwas schematische Argumentationsweise durchsetzt. Eine bisweilen im Anekdotischen oder Illustrativen verharrende Empirie ermöglicht dabei keine zusätzliche Differenzierung.

Vielen der Beiträge ist gemeinsam, dass sie zu beschreiben versuchen, in welcher Art im Denken und Empfinden – in den mentalen Orientierungshaushalten wie in den Deutungsmustern, in den Legitimationsgrundlagen wie in praktischen Konzepten – mehr oder weniger bewusst der Boden gelegt wird für die Bereitschaft, institutionelle Übergriffe auf die Familie als notwendig und dadurch sinnvoll zu sehen und in diesem Antizipieren sie ex ante zu legitimieren. Eine solche kritische Sichtweise wird nicht so schnell an Relevanz verlieren.
Hannes Ummel (Sion)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hannes Ummel: Rezension von: Birgit, Bütow, / Marion, Pomey, / Myriam, Rutschmann, / Clarissa, Schär, / Tobias, Studer, (Hg.): Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Wiesbaden: Springer 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365801399.html