Das Buch geht von der Feststellung aus, dass gymnasiale Oberstufen im Kontext einer zunehmenden Öffnung von Bildungswegen zum Abitur stärker als bisher mit einer heterogenen Schülerschaft konfrontiert werden bzw. in stärkerem Maße als bisher pädagogische Antworten auf die in gymnasialen Oberstufen vorgefundene Heterogenität finden müssen. Diese Herausforderung manifestiert sich im Spannungsverhältnis zwischen der Förderung breiter Schülergruppen (Öffnung z. B. durch Quereinsteiger aus nicht abiturführenden Schulformen) und gleichzeitiger Sicherung hoher Qualitätsstandards (Standardisierung z. B. durch das Zentralabitur). Thematisch fokussiert die Studie das Instrument der Klassenwiederholung in gymnasialen Oberstufen. Dabei handelt es sich um einen Gegenstandsbereich, der einerseits in der gegenwärtigen bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskussion sehr präsent ist und andererseits mit seinem Zuschnitt auf die gymnasiale Oberstufe in der Schul- und Unterrichtsforschung bislang wenig berücksichtigt wurde.
Die vorgestellte Studie ist das Resultat eines mehrjährigen Forschungsprozesses, der an der wissenschaftlichen Einrichtung des Bielefelder Oberstufenkollegs und der Universität Bielefeld angesiedelt ist. Sie verfolgt das Ziel, im Vergleich dreier Oberstufenschulen (zwei Oberstufengymnasien in Hessen und das Oberstufenkolleg in Bielefeld) den Umgang mit Heterogenität aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern (n=22), die selbst in der gymnasialen Oberstufe eine Klasse wiederholt haben, in einem komplexen qualitativ grundgelegten methodischen Design zu rekonstruieren. Dabei verknüpfen die Autoren – und das zeichnet die gelungene Vorgehensweise der Studie aus – die individuellen Deutungsweisen des Übergangs in die gymnasiale Oberstufe bzw. die Sinnzuschreibungen bei der Verarbeitung der Wiederholung mit der institutionellen Ebene der Einzelschule, d. h. mit ihren organisatorischen Rahmenbedingungen und pädagogischen Angeboten.
Die Studie gliedert sich in drei Kapitel, von denen das erste vielfältige theoretische und empirische Zugänge liefert. Es thematisiert mit der sozialen Herkunft, dem Geschlecht und individuellen Schullaufbahnen in der Literatur zu Klassenwiederholungen auffindbare, gängige Erklärungsvariablen und bietet zudem mit Ausführungen zum Schulklima und vor allem zu peergestützten schulischen und außerschulischen Netzwerken erweiterte relevante Bedingungsfaktoren von Schulerfolg. Darüber hinaus werden auch die individuelle Förderung und schulische Beratung als bedeutsame Kontexte für die folgenden Fallanalysen ausgeführt. Ein zentrales Unterkapitel (1.4) stellt die Klassenwiederholung differenziert dar, indem historische und schulrechtliche Perspektiven einerseits durch eher quantitative Forschungsergebnisse zum Ausmaß von Klassenwiederholungen, zu Ursachen und Begleitumständen und zum Zusammenhang von Klassenwiederholungen und Schülerleistungen ergänzt werden sowie andererseits durch qualitative schulbiographische Forschungen, welche Passungs- und Anerkennungsverhältnisse in Beziehung zu der Wahrnehmung von Schule setzen. Gerade die letztgenannten sozialisationstheoretischen und sozialphilosophischen Zugänge ergänzen und bereichern den in der Fachliteratur geführten Diskurs, der in Deutschland bislang vornehmlich durch quantitative Zugänge gekennzeichnet ist.
Kapitel zwei benennt die Forschungsfragen und führt das komplexe methodische Design der Studie aus, das triangulierend angelegt ist. Die Studie betrachtet sowohl die Ebene der Einzelschule als auch die Ebene des Einzelschülers und entfaltet auf der Grundlage von Dokumentenanalysen und problemzentrierten Interviews mittels qualitativer Inhaltsanalyse, dokumentarischer Methode und qualitativer Typenbildung ein systematisches und gut nachvollziehbares Design, das die Schülersicht auf die Klassenwiederholung in der Oberstufe sowie die Wahrnehmung von Förderangeboten differenziert rekonstruieren lässt.
Kapitel drei, das die Ergebnisse darstellt, portraitiert zunächst die drei Schulen mit ihren organisatorischen Rahmenbedingungen und ihren pädagogischen Angeboten und stellt dann die 22 befragten Wiederholerinnen (n=11) und Wiederholer (n=11) der drei Schulen knapp vor. Die Stichprobe wurde auf Grundlage des selektiven Samplings (theoretisch abgeleitete Merkmale: Geschlecht, Migrationshintergrund, zuletzt besuchte Schulform und Zeitpunkt der Wiederholung) bestimmt und mit Hilfe der länderspezifischen Schulstatistiken an den Einzelschulen gezogen. Auf der Grundlage der geführten problemzentrierten Interviews werden zentrale Bereiche der gymnasialen Oberstufe aus Sicht der Schülerinnen und Schüler jeweils im Kontext der einzelschulischen Kontexte rekonstruiert. Die Analysen belegen die Bedeutung der zurückliegenden Schullaufbahn für das subjektive Erleben der Lernbedingungen in der gymnasialen Oberstufe. Die Autoren schlussfolgern, dass heterogene fachliche und biographische Lernausgangslagen als Erklärung für eine Klassenwiederholung in der gymnasialen Oberstufe ebenso heranzuziehen seien, wie die zu geringe Transparenz der gymnasialen Anforderungen und Arbeitsweisen oder die sozialen Beziehungsstrukturen im Kurssystem. Vorhandene Förder- und vor allem Beratungsangebote würden zudem eher nicht genutzt. Bezogen auf die subjektive Bilanzierung (positiv / negativ) und Verarbeitung (aktiv / passiv) der Klassenwiederholung verdichten die Autoren die Analysen zu vier Typen, wobei Typ A (Pragmatischer Konformismus) zwei Strukturvarianten (Defensive Isolation und offensive Konfrontation) aufweist. Typ A wird als das Herzstück der Typologie bezeichnet. Er verarbeitet die Klassenwiederholung aktiv und bilanziert positiv im Kontext einer wahrgenommenen schulischen Leistungssteigerung. Schule wird dabei eher instrumentell als abschlussvergebende Institution bewertet. Die Typen B (Passiver Idealismus gekennzeichnet durch positive Bilanzierung der Klassenwiederholung bei einer eher passiven und reaktiven Verarbeitung, die auf keine Veränderungen bei den Lern- und Arbeitsstrategien hinweist), C (Desillusionierter Aktionismus gekennzeichnet durch eine klar negative Bilanzierung, die aber durch eine kämpferisch-aktive Verarbeitung und eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung begleitet wird) und D (Desorientierte Opposition, gekennzeichnet durch negative Bilanz und Verarbeitung) kommen ohne Strukturvarianten aus. Diese differenzierte Ausarbeitung von Typen sowie insbesondere die daraus abgeleiteten schulpädagogischen Schlussfolgerungen, die beispielsweise die zentrale Bedeutung eines persönlich unterstützenden Schulklimas sowie von unterstützenden peerbasierten Netzwerken herausstellen, machen die vorliegende Studie zu einem Musterstück traditionell schulpädagogischer Forschung mit klar erkennbarem Praxisgehalt.
Die Studie richtet sich aufgrund der gezogenen Schlussfolgerungen, die auf eine klare Sensibilisierung der Lehrkräfte für mögliche „Kollateralschäden“ von Klassenwiederholung abzielen, aber auch Deutungsräume für sinnvolle Klassenwiederholungen aufzeigen, sowohl an Lehrende in Schulen als auch besonders an Erziehungswissenschaftler und Schulpädagogen. Sie ist in ihrer inhaltlichen und methodischen Komplexität stringent und die systematisch eingefügten Zusammenfassungen tragen zur guten Lesbarkeit der Analysen bei. Weiterführende Analysen könnten der Fragestellung nachgehen, inwiefern sich die Wahrnehmung von Schülern, die in der gymnasialen Oberstufe eine Klassenwiederholung erlebt haben, systematisch von solchen Quereinsteigern unterscheiden, die die gymnasiale Oberstufe ohne Brüche durchlaufen. Darüber hinaus erscheint es lohnend, entsprechende Analysen auf die Perspektive des Gymnasiums zu erweitern, da sich die Klientel in gymnasialen Oberstufen von (Reform-)Gesamtschulen und Gymnasien durchaus unterscheidet.
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
Oberstufe aus SchĂĽlersicht
Klassenwiederholung und individuelle Förderung in der Sekundarstufe II
2., ĂĽberarbeitete Auflage
2., ĂĽberarbeitete Auflage
Wiesbaden: Springer VS 2013
(198 S.; ISBN 978-3-658-03635-5; 39,99 EUR)
Grit im Brahm (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Grit im Brahm: Rezension von: Palowski, Monika / Boller, Sebastian / MĂĽller, Marlene: Oberstufe aus SchĂĽlersicht, Klassenwiederholung und individuelle Förderung in der Sekundarstufe II 2., ĂĽberarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365803635.html
Grit im Brahm: Rezension von: Palowski, Monika / Boller, Sebastian / MĂĽller, Marlene: Oberstufe aus SchĂĽlersicht, Klassenwiederholung und individuelle Förderung in der Sekundarstufe II 2., ĂĽberarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365803635.html