Die Pädagogik der frühen Kindheit in Deutschland versteht sich seit ihrer Begründung durch Fröbel Mitte des 19. Jahrhunderts als eine kindzentrierte Pädagogik. Die Institutionalisierung nichtfamilialer Bildung, Erziehung und Betreuung dagegen folgt seit ihren Anfängen im ausgehenden 18. Jahrhundert politisch-ökonomischen Vorgaben. Michael Knoll geht in seinem Buch von der Frage aus, wie die Pädagogik der frühen Kindheit ihre Orientierung an Bildung und Subjektivität des Kindes mit den gesellschaftlichen Nutzenerwartungen vereinbart, denen sie sich gegenüber sieht. Das ist eine Frage nach den nicht-pädagogischen Voraussetzungen von Pädagogik (171): Wie nimmt die Pädagogik der frühen Kindheit auf ihre gesellschaftlich-historischen Kontexte Bezug?
Diese Fragestellung ist mehrdeutig. Man könnte sie verstehen als Frage danach, wie die frühpädagogische Praxis gesellschaftliche Leistungserwartungen aufgreift und in pädagogische Problemstellungen und Aufgaben verwandelt, in diesem Sinne: pädagogisiert. Knoll allerdings interessiert sich dafür, wie sich die unabdingbare Funktionalität von Erziehung in kindzentrierten pädagogischen Diskursen zur Geltung bringt. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf das Konstrukt der Kindzentriertheit bzw. auf pädagogische Konstruktionen des Kindes; aber auch diese stehen nicht im Mittelpunkt der Studie. Knoll interessieren vielmehr „elementarpädagogische Semantiken und deren Selbstrelationierung zu Semantiken des politisch-öffentlichen Kontextes“ (33). Er will das „Verhältnis von Politik und Elementarpädagogik an historischen Beispielen rekonstruieren“ (30) und fragt am Beispiel elementarpädagogischer Texte, „wie die wechselseitige semantische Bezugnahme von Erziehungssystem und Umwelt vonstatten geht“ (16). Das ist eine bildungshistorische Fragestellung; man kann sie aber auch diskurstheoretisch auffassen – und für diese zweite Variante (im Sinne von Foucault und Peters, nicht etwa im Sinne von Apel oder Habermas) entscheidet sich der Autor. Die These lautet, dass die Pädagogik der frühen Kindheit ihre Orientierung an Individuum und Gesellschaft, an Freiheit und Zwang entparadoxieren muss; daraus gewinnt sie ihre Handlungsfähigkeit (16), wird als Pädagogik überhaupt erst möglich.
Den empirischen Kern und mit rund 200 Seiten bei weitem umfangreichsten Teil der Untersuchung bilden vier historische Fälle dieser Bezugnahme, die auf der Basis ausgewählter Texte einer pädagogische und politische Semantiken vergleichenden Inhaltsanalyse (angelehnt an Mayring) unterzogen werden. Der Vergleich wird zweistufig geführt: synchronisch (zeitgenössische pädagogische und politische Semantiken miteinander vergleichend; Kap. 4-7) und diachronisch (unterschiedliche Elementarpädagogiken historisch vergleichend; Kap. 8).
Die synchronischen Fallanalysen „zeichnen die spezifischen semantischen Zusammenhänge zwischen dem Erziehungssystem und der politischen Öffentlichkeit nach“ (297).
Die erste Fallstudie gilt den Anfängen von Pädagogik und Politik institutioneller Kleinkinderziehung unter den Bedingungen von Reform und Restauration in Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon. In diesem Kontext werden Samuel Wilderspins zunächst im frühindustriellen England praktizierten Kleinkinderschulen vom Preußischen Bildungsministerium propagiert. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass Wilderspins Modell die Rationalität der preußischen Restauration spiegele (109). Die Kleinkinderschule wird als „Abbild und Laboratorium der ständischen Gesellschaft“ (111) Preußens interpretiert.
Die zweite Fallstudie untersucht die Vorschulerziehung unter den Bedingungen von Politik und Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Epoche ist von Naturwissenschaften und Imperialismus geprägt – nach außen ebenso wie nach innen. Die Vorschulpädagogik und Kindheitskonzeption Maria Montessoris, so Knoll, spiegelt diesen Diskurs. Knoll weist auf den biologisch-naturwissenschaftlichen Charakter ihres Denkens hin, das Individuierung und Kollektivierung des Kindes zu verknüpfen erlaubt.
Die dritte Fallstudie befasst sich mit der Vorschulpädagogik in der sozialliberalen Reformära der späten 60iger und frühen 70iger Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Curriculum Soziales Lernen nimmt die Demokratisierungsrhetorik der Brandt-Ära auf und verspricht eine Emanzipation der Subjekte durch Erziehung. Knoll zeigt, wie Politik und Pädagogik in ihrer Orientierung an „mehr Demokratie“ ineinander übergehen. Zugleich liegt dieser Verwischung der Grenzen ein Verständnis vom wohlverstandenen Interesse des Kindes zugrunde, in dem individuelles und kollektives Wohlergehen in eins gehen.
Die vierte Fallstudie bezieht sich auf die Vorschulpädagogik der Gegenwart und rückt sie in den Horizont einer „Krise des demokratischen Kapitalismus“. Das Curriculum Soziales Lernen hat sich seit den frühen 70iger Jahren auf den Marsch durch die Institutionen begeben und kann heute seinen Erfolg als Durchschnittspädagogik deutscher Kindertageseinrichtungen feiern. Geheimnis dieses Erfolgs, so Knoll, ist eine Aktualisierung seines Emanzipationsprogramms durch seinen „Erfinder“ Jürgen Zimmer, das um das Konzept der entrepeneurship kreist.
Der diachronische Vergleich baut auf den synchronischen Fallanalysen auf. Zum einen erweisen sich, so der Autor, die pädagogischen Programmatiken veranstalteter Kleinkinderziehung als „Miniaturen der umgebenden Gesellschaft“ (273); sie „spiegeln die Ideale einer politischen Öffentlichkeit, jetzt projiziert auf die Erziehung kleiner Kinder“ (277). Im Kontext dieser Miniaturen erweist sich das Kind nicht als naturale Voraussetzung von Pädagogik, wie es die Pädagogische Anthropologie suggeriert, sondern als ein soziales Konstrukt, das die Einheit des Pädagogischen und eines darauf bezogenen professionellen Handelns erst ermöglicht. Dabei hebt der Autor mit Foucault auf differenzielle Machtstrategien ab, die sich in elementarpädagogischen Programmen verkörpern. Insofern muss man, so das Resümee des Autors, Vorschulerziehung als Teil gouvernementaler Strategien auffassen.
Will man Leistungen und Grenzen dieser Studie zusammenfassend würdigen, drängt sich zunächst eine Skepsis gegenüber der Fragestellung auf. Sie behandelt „Individuum“ und „Gesellschaft“, „Pädagogik“ und „Politik“ als Entitäten, die aufeinander „Bezug nehmen“. Allerdings ist der angebliche Zielkonflikt ein Artefakt dieser Dualisierung. Um sie zu rechtfertigen, nimmt Knoll Luhmanns System/Umwelt-Differenz und Foucaults Diskursbegriff in Anspruch. Es sei dahingestellt, ob diese Referenz zu Recht erfolgt; jedenfalls spiegelt sich die Problematik der Duale auch in der Methodologie der Studie. Sie operiert mit synchronischen und diachronischen Vergleichen von pädagogischen und politischen Semantiken, sucht tatsächlich aber nach Analogien pädagogischer Programme zu politischen Zeitdiagnosen der historisch-gesellschaftlichen Situation (37 und so auch der zitierte Durkheim auf 274). Schließlich richtet sich die Skepsis auf den Zuschnitt der vier historischen Fälle selbst, denn es wird nicht klar, was diese Fälle überhaupt als „Fälle“ qualifiziert. Es erstaunt, dass die historischen Fallstudien die einschlägige geschichtswissenschaftliche Forschung und ihre Methoden außer Acht lassen. Entsprechend werfen die „Fälle“ mehr Fragen auf als sie beantworten. Diese betreffen nicht nur die politische, sondern auch die pädagogische Seite der jeweiligen „Vergleiche“: Warum hat der Autor dem Verhältnis politischer und pädagogischer Semantiken bei der Institutionalisierung der nichtfamilialen Kleinkinderziehung in der Weimarer Republik und der Rolle, die die geisteswissenschaftliche Pädagogik mit ihrer professionsethischen Kindzentrierung gespielt hat, kein eigenes Kapitel gewidmet? Warum sind stattdessen zwei (von vier) Fallstudien in der neuesten Geschichte angesiedelt – abgesehen davon, dass es nicht plausibel ist, als Beispiel für die angebliche Ökonomisierung die privatgewerblichen KLAX-Kindergärten herzunehmen, die in Deutschland eine Randstellung einnehmen, aber über die Semantik der Bildungspläne in den 16 Bundesländern, die Qualitätsdebatte oder die Projekte der Nationalen Qualitätsoffensive kein Wort zu verlieren.
Das größte Verdienst dieser Studie besteht darin, eine Frühpädagogik zu entmystifizieren, die über den unvermittelten Bezug auf das Kind ihre konzeptuelle und professionelle Autonomie zu erlangen sucht. Die theoretische, empirische und handwerkliche Ausarbeitung dieses Impulses befriedigt indes weniger.
EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)
Das Kind im Mittelpunkt
Elementarpädagogische Bezugnahmen auf gesellschaftliche Kontexte
Wiesbaden: Springer VS 2016
(329 Seiten; ISBN 978-3-658-13432-7; 49,99 EUR)
Michael-Sebastian Honig (Luxembourg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael-Sebastian Honig: Rezension von: Knoll, Michael: Das Kind im Mittelpunkt, Elementarpädagogische Bezugnahmen auf gesellschaftliche Kontexte. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365813432.html
Michael-Sebastian Honig: Rezension von: Knoll, Michael: Das Kind im Mittelpunkt, Elementarpädagogische Bezugnahmen auf gesellschaftliche Kontexte. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365813432.html