EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)

Sammelbesprechung

Mei-Ling Liu
Lehrerhabitus an exklusiven Schulen und China und Deutschland
Wiesbaden: Springer VS 2018
(402 S.; ISBN 978-3-658-21274-2; 59,99 EUR)
Frank Bernhard Behr
Lernhabitus und Weiterbildung
Determinanten des Weiterbildungsverhaltens von Lehrerinnen und Lehrern
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017
(303 S.; ISBN 978-3-7815-2196-4; 45,00 EUR)
Lehrerhabitus an exklusiven Schulen und China und Deutschland Lernhabitus und Weiterbildung Der Erforschung der beruflichen Praxis von Lehrerinnen und Lehrern widmet sich seit einiger Zeit ein Forschungsstrang, der unter Bezugnahme auf das Konzept des Habitus von Pierre Bourdieu die Frage nach einem impliziten oder inkorporierten Wissen stellt, von dem angenommen wird, dass es die Art und Weise bedingt, in der Lehrende ihren Beruf ausĂŒben [1]. Die beiden im Folgenden zu besprechen Arbeiten von Mei-Ling Liu und Frank Bernhard Behr legen gerade in Bezug auf die offenen Fragen nach Gestalt und Funktion von „Lehrerhabitus“ (im Plural) sehr anregende empirische Analysen vor, wenngleich die theoretischen und methodologischen Überlegungen in beiden Arbeiten nicht restlos ĂŒberzeugen können.

Mei-Ling Liu richtet den Fokus auf die Frage, wie Lehrerinnen und Lehrer die Beziehung zu ihren SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern gestalten, bzw. ob sich bei ihnen distinkte Formen von impliziten Orientierungen unterscheiden lassen, die die Beziehungsgestaltung strukturieren, und welche normativen Erwartungen damit verbunden sind. Sie legt ihre Arbeit zudem als Vergleich sowohl zwischen Lehrerpersonen an Schulen in unterschiedlichen Bildungssystemen bzw. nationalstaatlichen Kontexten (Deutschland und China), als auch zwischen Lehrenden mit unterschiedlichen FachhintergrĂŒnden (Mathematik/Physik und Sprachen) an. Die Studie basiert auf insgesamt 34 Lehrerinterviews, im Detail ausgewertet wurden allerdings nur acht KernfĂ€lle (Kap. 4). Als Methode der Erhebung kamen narrative Leitfaden-Interviews zum Einsatz, als Auswertungsstrategie die Dokumentarische Methode.

Frank Bernhard Behr beschĂ€ftigt sich hingegen mit der Frage, wie sich das Weiterbildungsverhalten von Lehrerinnen und Lehrern ausgestaltet und wie sich DisparitĂ€ten im Weiterbildungsverhalten erklĂ€ren lassen. Er zieht dabei in Anschluss an Heidrun Herzberg und Helmut Bremer die Kategorie des ‚Lernhabitus‘ von Lehrerinnen und Lehrern als unabhĂ€ngige Variable heran. Die Studie basiert auf einer Befragung von 291 Lehrpersonen aus Rheinland-Pfalz mittels Online-Fragebögen, die drei Bereiche umfassten: erstens fĂŒnf Likert-Skalen zu den fĂŒnf Dimensionen des ,Lernhabitus‘, die Behr unterscheidet; zweitens Angaben zum Weiterbildungsverhalten der Lehrpersonen; drittens soziodemographische und berufsbezogene Merkmale der Befragten. Die Auswertung erfolgt ĂŒber eine Reihe von bivariaten und multivariaten Analyseverfahren.

Liu kommt anhand ihrer nachvollziehbaren und in ausfĂŒhrlichen Falldarstellungen aufbereiteten empirischen Rekonstruktionen (Kap. 5) zur Differenzierung von sechs Typen der Beziehungsgestaltung (Kap. 6.1), die von der Orientierung an einer „stark distanzierten hierarchiebetonten Beziehung“ (I), ĂŒber die an „persönlicher NĂ€he und Hierarchie orientierte[n] Beziehung“ (II) bis hin zu einer Form reichen, die sie als „eher symmetrisch orientiertes gegenseitiges Lernen mit persönlicher NĂ€he-Orientierung“ (VI) kennzeichnet. Zudem kann sie in den soziogenetischen Analysen (Kap. 6.2) herausarbeiten, dass der Unterschied zwischen den Lehrerinnen und Lehrern der MINT-FĂ€cher und den Sprachlehrenden darin besteht, dass letztere sich eher auf eine diffus-nahe Beziehung zu den SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern einlassen. Auch lassen sich Unterschiede zwischen den Lehrerinnen und Lehrern an Schulen in Deutschland und China aufweisen, die u.a. darin bestehen, „dass die chinesischen Lehrer sich sehr dicht auf eine diffuse nahe Lehrer-Schüler-Beziehung fokussieren, wĂ€hrend [fĂŒr die Lehrerinnen und Lehrer aus Deutschland; Anm. d. A.] die spezifische Distanz [...] der Mainstream zu sein“ scheint (335). So interessant Lius Ergebnisse sind, so werden doch gewisse Schwierigkeiten in deren theoretischer Aufbereitung deutlich. Mit Blick auf die soziogenetischen Analysen muss einerseits eingeschrĂ€nkt werden, dass acht FĂ€lle eine dĂŒnne Grundlage fĂŒr die vorgelegten Schlussfolgerungen darstellen; zudem sind die Unterschiede mit Blick auf die FachhintergrĂŒnde nur minimal ausgeprĂ€gt. Vor allem und andererseits stellt sich aber die Frage, ob Liu die KomplexitĂ€t gerade des internationalen Vergleichs angemessen berĂŒcksichtigt, die ja u.a. aus den Differenzen in Bezug auf die Struktur des jeweiligen Bildungssystems und den damit verbundenen Erfahrungen, die Lehrerinnen und Lehrer sowohl in der eigenen Schulzeit als auch in der Ausbildung machen, resultieren; von Bedeutung sind hier aber auch die jeweiligen gesellschaftlichen Diskurse zu Schule und Lehrberuf [2]. Mit Blick auf die empirischen Rekonstruktionen stellt sich zudem die Frage, wie sich die expliziten Bewertungen oder Selbstpositionierungen, die Liu in den Blick nimmt, wenn sie die Lehrenden etwa nach ihren Vorstellungen von einem „idealen Lehrer“ oder von der „idealen Beziehungskonstellation“ fragt (vgl. auch die Einleitung), und ihre impliziten Orientierungen zueinander verhalten. Liu legt dazu in den theoretischen und methodologischen Kapiteln (insbes. Kap. 2 und 4) leider keine theoretische KlĂ€rung vor und so bleiben die im 6. Kapitel vorgestellten Analysen zu den (idealen) Bildern, die die Befragten von (sich selbst als) Lehrperson haben, zu den Bildern der Schulen, an denen sie arbeiten, oder von ihren SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern etwas unverbunden nebeneinander stehen. WĂŒnschenswert wĂ€re hier nicht nur eine noch stĂ€rker zusammenfassende Darstellung der Befunde gewesen, sondern auch eine ausfĂŒhrlichere und theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie diese Aspekte miteinander zusammenhĂ€ngen: Denn gerade darĂŒber ließe sich ein detailreicheres und umfassenderes Bild des – ja auch in anderen Arbeiten als mehrdimensional gedachten – „Lehrerhabitus“ gewinnen.

WĂ€hrend sich bei Liu ein gewisses MissverhĂ€ltnis zwischen den vielfĂ€ltigen und interessanten empirischen Analysen und deren theoretischer Aufbereitung konstatieren lĂ€sst, stellen sich bei Behr eher Fragen zum methodischen Vorgehen, die es zu beachten gilt, um seine ebenfalls anregenden Analysen einordnen zu können. Behr gelingt es zunĂ€chst, in sehr ĂŒberzeugender Weise darzulegen, warum es fĂŒr die Weiterbildungsforschung sinnvoll ist, AnschlĂŒsse an die Milieuforschung zu suchen, d.h. die Bedeutung elementarer Wertorientierungen, Lebensauffassungen und Lebensstile fĂŒr das (Weiter-)Bildungsverhalten zu diskutieren (Kap. 2). Allerdings wird in den folgenden Kapiteln nicht ganz klar, ob Behr diese Forschung in ihrem eigenen theoretischen und methodologischen Zugriff ernst genug nimmt. Zwar referiert er kenntnisreich die Geschichte und die zentralen Elemente des Habitusbegriffs in seiner Funktion als soziologisches Konzept und verweist auf wichtige Studien aus der Schul- und Weiterbildungsforschung, die sich auf Bourdieu beziehen (Kap. 3). In der „Konzeptspezifikation“ (122), also der theoretischen Bestimmung der in seiner Arbeit zu untersuchenden Einheiten (Kap. 4), bleiben dann allerdings eine Reihe von Fragen offen. Behr erlĂ€utert hier, was er im Anschluss an Bourdieu und an die referierten Studien als „Lernhabitus“ versteht und differenziert zwischen den Dimensionen Lernerfahrungen, Lerngewohnheiten, Lernhaltungen, LernprĂ€ferenzen und Lernstrategien (125ff.). Es wĂ€re bereits an dieser Stelle hilfreich gewesen, die u.a. in Bourdieus Arbeit angelegte Differenzierung zwischen einem impliziten praktischen Wissen und einem theoretischen Wissen heranzuziehen: die von Behr bestimmten „Lernhaltungen“ etwa bewegen sich tendenziell eher auf der Ebene von Theorien der Befragten ĂŒber ihre Praxis; es geht darum, „wie Lernen eingeschĂ€tzt und bewertet wird, welche Bedeutung Lernen im Leben hat“ (130). Hingegen verweist die Spezifizierung der Dimension ‚Lerngewohnheiten‘ auf eine bestimmte (nicht notwendig bewusste) Form der Praxis oder auf einen modus operandi des Lernens. Hinzu kommt, dass in der Konzeptspezifikation die Frage nach dem Ausgangspunkt von Lernprozessen nicht thematisiert wird. Dabei gibt es diesbezĂŒglich etwa bei Anke GrotlĂŒschen [3] einen interessanten Anschluss an Bourdieu, der sich hier aufgreifen ließe: sie spricht von milieuspezifischen Diskrepanzerfahrungen. Hiermit ließe sich evtl. auch Behrs Dimension der ‚LernprĂ€ferenzen‘ noch weiter ausbuchstabieren. Die Diskrepanz zur (an Bourdieu anschließenden) Milieuforschung wird dann aber vor allem da deutlich, wo Behr sein methodisches Vorgehen erlĂ€utert (Kap. 6). Zwar ist nichts dagegen einzuwenden, eine Studie mit dem Fokus auf den Determinanten des Weiterbildungsverhaltens (von Lehrerinnen und Lehrern) als standardisierte Fragebogenerhebung anzulegen. Die Frage bleibt gleichwohl, ob die summierten und verdichteten expliziten EinschĂ€tzungen der Befragten zu den zudem von Behr theoretisch konstruierten Items fĂŒr die Likert-Skalen dann auch auf einen (Lern-)Habitus im Sinne eines impliziten oder inkorporierten Erfahrungswissens schließen lassen. Es wĂ€re an dieser Stelle hilfreich gewesen, die Anlage der Studie mit Bezug auf die ausfĂŒhrlichen Überlegungen zu einer Habitushermeneutik (Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester) oder einer Habitusrekonstruktion (Rolf-Torsten Kramer, Werner Helsper) zu diskutieren – nicht zuletzt verweist Behr zuvor auf entsprechende Arbeiten, nimmt die Auseinandersetzung mit deren theoretischen Grundbegriffen und Ergebnissen aber nicht zum Anlass, seinen eigenen methodologischen Zugriff genauer zu begrĂŒnden, auch wenn er im letzten Kapitel auf die diesbezĂŒglichen Grenzen seiner Studie verweist (u.a. 217f.). Wenn man sich die starke und nicht restlos ĂŒberzeugende theoretische Bestimmung des Gegenstands in der Konzeptspezifikation und die durch die standardisierte Erhebung auf EinschĂ€tzungen der Befragten enggefĂŒhrte Übersetzung gegenwĂ€rtig hĂ€lt, bietet Behrs Arbeit im Folgenden sehr anregende empirische Einsichten. Er kommt zunĂ€chst zu einer Bildung von „Lernhabitusclustern“ (Kap. 7.1), die von einem „lernvertraut-freudigen Lernhabitus“ ĂŒber den „planend-autodidaktischen Lernhabitus“ und den „lebensbewĂ€ltigend-lernfremden Lernhabitus“ reichen. Die weiteren AusfĂŒhrungen (Kap. 7.2-7.4) stellen dann Analysen zu der Frage dar, ob und inwieweit diese Lernhabituscluster im Vergleich mit den soziodemographischen und berufsbezogenen Merkmalen DisparitĂ€ten in der Weiterbildungsbeteiligung von Lehrpersonen erklĂ€ren können. Ohne die ausfĂŒhrlichen Ergebnisse im Einzelnen wĂŒrdigen zu können, wird doch der Einfluss des Lernhabitus in nahezu allen Hinsichten erstaunlich deutlich, d.h. sowohl in Bezug auf die Teilnahme an formal-organisierten Weiterbildungsveranstaltungen, als gerade auch mit Blick auf informelle LernaktivitĂ€ten.

Die beiden Arbeiten prĂ€sentieren anregende empirische Analysen, die es fĂŒr die weitere Erforschung des Lehrerhabitus zu berĂŒcksichtigen, allerdings auch theoretisch wie methodologisch zu reflektieren gilt. Sie machen letztlich vor allem deutlich, dass in der Erforschung des Lehrerhabitus noch einiges Potential steckt.

[1] Kramer, R.-T./Pallesen, H. (Hrsg.) (i. E.): Lehrerhabitus. Theoretische und empirische BeitrÀge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[2] Vgl. in dieser Hinsicht auch Nohls Vorschlag eines Vergleichs kontextuierter Fallgruppen in: Nohl, A.-M. (2013): Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der dokumentarischen Methode. Wiesbaden: VS, S. 97ff.
[3] Grotlüschen, A. (2010): Erneuerung der Interessetheorie. Die Genese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung. Wiesbaden: VS.
Steffen Amling (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Steffen Amling: Rezension von: Liu, Mei-Ling: Lehrerhabitus an exklusiven Schulen und China und Deutschland. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365821274.html