EWR 18 (2019), Nr. 5 (November/Dezember)

Severin Sales Rödel
Negative Erfahrungen und Scheitern im schulischen Lernen
PhÀnomenologische und videographische Perspektiven
Wiesbaden: Springer VS 2019
(380 Seiten; ISBN 978-3-658-23594-9; 54,99 EUR)
Negative Erfahrungen und Scheitern im schulischen Lernen Severin Sales Rödel legt mit seinem Buch „Negative Erfahrungen und Scheitern im schulischen Lernen“ eine bemerkenswerte und originelle Studie zur empirischen Exploration vom Theorem der NegativitĂ€t vor. Mit dem Gegenstand der „negativen Erfahrung“ tritt er vor eine große kulturhistorische Kulisse zwischen „profane[r] Weisheit“ (2), aus Fehlern lernt man, und philosophischen TheorieentwĂŒrfen, deren Tradition bis in die Antike zurĂŒckreicht. Statt nun aber das Alltagswissen mit weiteren gedanklichen theoretischen Differenzierungen aufklĂ€ren und die „negative Erfahrung“ in einen „notorischen Positivierungszwang“ (7) bildungsphilosophischer Idealisierung einspannen zu wollen, zielt er auf „Kritik, Neujustierung und Revisionen“ (S. 13) der bisherigen Theoretisierung durch eine lebensweltliche RĂŒckkopplung. In einer empirisch gestĂŒtzten „Profanisierung“ (320) des PhĂ€nomens markiert Rödel auch das Desiderat, auf das er seine Studie bezieht. Signifikant fĂŒr seinen empirisch gewendeten leibphĂ€nomenologischen Zugang ist die Anekdote des Stolperns des Thales von Milet (vgl. 50). Der Philosoph, der ĂŒber einen von einer jungen Frau geworfenen Stock stolpert, wird aus der Haltung der „philosophischen Verfangenheit“ (ebd.) gerissen und auf das „Alltagsleben“ (67) gestoßen. Das „Stolpern als negative Erfahrung“ (64) lĂ€sst sich als rahmende Metaphorik fĂŒr Rödels Strukturierungsprinzip und EmpirieverstĂ€ndnis lesen. Sein Ziel ist eine „phĂ€nomenologische AufklĂ€rung“ (28), in der die Theorie auf Erfahrung stĂ¶ĂŸt und theoretische Annahmen durch „Deskription, Reduktion und Variation“ (249) irritiert, „suspendiert“ (89) und angereichert werden. Hierdurch soll „bisher Unthematisches“ (37) sichtbar, Verstellungen ausgewiesen, die „Eigenlogik“ (16) des PhĂ€nomens zur Geltung gebracht und eine nichtabschließbare „PhĂ€nomenologie negativer Erfahrungen“ (33) erstellt werden.

Das Stolpern als Bewegung charakterisiert auch seinen empirisch-methodischen Zugang (Kap. 2), den er als „Weg des Denkens“ (21) bezeichnet und in dem der Forschende den Gegenstand hervorbringt, von dem er als leibliches Individuum zugleich angesprochen wird. Mangels methodologischer Alternativen entwickelt er mit Bucks „Gang-Struktur vom Konkreten zum Konkreten“ (40) und ergĂ€nzend mit Lippitz Begriff des „fungierenden Allgemeinen“ (37) eine eigene abduktive Methodik als „Stil“ (20), in der statt Begriffe „Konzeptionen“ (39) und statt Wahrheit „Tauglichkeit“ (ebd.) anvisiert werden. Mit diesem innovativen Ansatz versucht er die Grenzen der Empirie-Skepsis phĂ€nomenologischer Provinienz zu ĂŒberwinden und gleichzeitig die Theorie des NegativitĂ€tslernens, die sich gegen kriteriologische Vereindeutigungen sperrt, fĂŒr „Didaktik und Unterrichtsforschung“ (320) „fruchtbar(er)“ (ebd.) werden zu lassen.

Den Beginn seines theoretischen Teils (Kap. 3) gestaltet Rödel mit einer „Umschau“ (47) als kursorisch angelegten „Anfang des Theoretisierens“ (48), in der er Kollers Bildungstheorie, das Scheitern in Managerratgebern, das Sprichwort „pathein – mathein“ (58) und das Stolpern bespricht. Aus dieser heraus formuliert er erste Aspekte und Differenzen negativer Erfahrung, wie Vielfalt, Prozessstruktur, ReflexivitĂ€t, pĂ€dagogische Dimension etc. Was es aber nun bedeutet ein Beispiel als Beispiel negativer Erfahrung einzufĂŒhren, wird von Rödel in Kap. 4 in Form einer „VignettenlektĂŒre“ (80) gezeigt. Mit dem Begriff der Vignette möchte er in Rekurs auf Agostini die Unabgeschlossenheit des Verstehens durch das Bewusstsein ĂŒber die Differenz von Versprachlichung und Erfahrung pointieren. In dem Beispiel, das auf eine teilnehmende Beobachtung von Schratz zurĂŒckgeht, wird die NichtbewĂ€ltigung einer mathematischen Aufgabe des SchĂŒlers Lenny als EnttĂ€uschung, einer darauffolgenden „Infragestellung des Selbstbildes“ (84) und einer einsetzenden ReflexivitĂ€t interpretiert. Diese Interpretation wird von Rödel in Kap. 5 mit der Rekonstruktion des erziehungswissenschaftlichen Diskurses zur NegativitĂ€t, den er in zwei Teile aufteilt, einer „phĂ€nomenologischen Reduktion“ (87) unterzogen. In den Diskursen der NegativitĂ€t I befasst Rödel sich mit Positionen eines Themenhefts der ZfPĂ€d von 2005 – Benner, Koch, Ricken, Mitgutsch – und in II geht er ergĂ€nzend auf SchĂ€fer und BĂŒhler ein. Nach einer Zusammenschau dieser Besprechungen, in der er seine Kritik an einer formallogischen Definition von NegativitĂ€t und Negation als Moment einer kognitiven Operation des Urteilens untermauert, folgt eine „Re-LektĂŒre“ (131) der Vignette. Aufgrund der Suspendierung der theoretischen Implikationen liest er die Selbstdistanznahme Lennys nun nicht mehr als ReflexivitĂ€t sondern als Selbstverlust.

Diese „zweite ‚bereinigte‘ Deskription“ (131) soll in Kap. 6 mit einer theoretischen Variation reformuliert und die „Konzeption“ der negativen Erfahrung damit weiter angereichert werden. In seinen sehr lesenswerten und kritischen Auseinandersetzungen mit der existenzphilosophischen PĂ€dagogik Bollnows zur Bedeutung von Stetigkeit und Unstetigkeit, der hermeneutischen Lerntheorie Bucks zur Struktur der negativen Erfahrung im Lernen, und der leibphĂ€nomenologischen PĂ€dagogik Meyer-Drawes zur Leiblichkeit, zum Widerfahrnis und zur ResponsivitĂ€t ragen seine theoretischen Fluchtpunkte heraus. Seine Kritik gilt dem „hermeneutischen Subjekt“ (213) Bucks, das teleologisch auf PositivitĂ€t ausgerichtet wĂ€re und dadurch das radikal Fremde nicht integrieren könne. Im leibphĂ€nomenologischen „‘gebrochenen Subjekt‘“ (213) wĂ€re dagegen die NegativitĂ€t aufgrund des vorreflexiven Selbstentzugs uneinholbar in die Erfahrung eingeschrieben und ein Raum fĂŒr „Widerstand und Widerstreit“ (12) abgesteckt. Auf jede theoretische Besprechung lĂ€sst er eine Re-LektĂŒre folgen, in der er „Entdeckungen“ (167) und „Verdeckungen“ (168) offenlegt und drei Dimensionen herauslöst, „Situierung: Konstitutionsbedingungen und Kontexte“ (228), „Struktur: Anlass und Verlauf“ (229) und „[p]Ă€dagogische Interaktion: Umgang mit negativen Erfahrungen“ (231).

In seinem zweiten empirischen Teil setzt er in Kap. 7 mit der bildungstheoretischen Problematisierung von Empirie nach Koller und SchĂ€fer ein und beschĂ€ftigt sich eingehend mit Fragen der „Offenheit und Nicht-Feststellbarkeit“ (234) von pĂ€dagogischen Kategorien. DarĂŒber hinaus argumentiert er fĂŒr die Verwendung der Videographie aufgrund der erfassbaren „MultidimensionalitĂ€t“ (251), der „Permanenz“ (ebd.) und der „Wiederholbarkeit“ (ebd.). Als Besonderheit von seinem und Brinkmanns Ansatz stellt er heraus, dass die Betrachtung der Datensorte Video als eine „Figur einer spezifischen Wirklichkeit des (Bewegt)Bildes“ (253) behandelt wĂŒrde, die das Forschen zu einem lebensweltlich involvierten Antwortgeschehen macht. Diese Dynamik eines Antwortgeschehens tritt hier sowohl im gut dokumentierten Forschungsprozess und in der Interpretation der videographischen Beispiele hervor, die er anhand der Kategorien „Verkörperung“ (261), „Antwortgeschehen“ (276) und „Zeigen“ (279) operationalisiert. In Kap. 8 zielt er auf die „konzise Beschreibung“ (258) zweier empirischer Beispiele. In dieser gelingt es ihm, die soziale Situiertheit der negativen Erfahrung, in der die Klassenöffentlichkeit die machtstrukturierten Aushandlungsprozesse mitorchestriert, und die Dynamik vom Unterrichtsgeschehen im Kontext konfliguierender pĂ€dagogischer Motive und Bedingungen einzufangen.

Im abschließenden RĂŒckblick und Ausblick zieht er ein zweifaches Fazit. Seine erste These, die Verstellung von negativen Erfahrungen durch die theoretische „Sakralisierung“ (307), hĂ€tte er bestĂ€tigen können. Seine zweite These aber einer „Re-Theoretisierung“ (307) von „‘radikale[n]‘ negative[n] Erfahrungen“ (308) wĂ€re ihm nicht möglich gewesen. ErnĂŒchternd stellt Rödel am Ende seiner Studie fest, dass er in Ansehung seines gesamten Datenkorpus keine bildenden „‘gelungenen‘“ (317) Lernprozesse im Sinne des „NegativitĂ€tslernen“ (312) beobachten hĂ€tte können und dass die negativen Erfahrungen der „Ökonomie unterrichtlicher Situationen“ (312) zum „Opfer“ (312) gefallen wĂ€ren. PĂ€dagogische Hoffnung birgt aber der von Rödel festgehaltene Umstand, dass negative Erfahrungen nicht durch den Gegenstand als Solchen sondern dessen pĂ€dagogische Transformation vermittelt durch die Aufgabenstellung ausgelöst wĂŒrden. Mit diesem Hinweis eröffnet Rödel eine Perspektive pĂ€dagogisch-didaktischer Reflexion auf einem hohen theoretischen Niveau, welche er in seinen Überlegungen zu einer Kleinen Didaktik der negativen Erfahrung einfließen lĂ€sst.

Eine kritische RĂŒckfrage an die Studie ließe sich an Rödels Verwendung des Begriffs der „NegativitĂ€t“ richten. Wenn diese nicht formallogisch (z.B. Nicht-Wissen) gedacht wird, mĂŒsste „NegativitĂ€t“ werttheoretisch gefasst werden. HierfĂŒr mĂŒsste aber geklĂ€rt werden, wieso und in welcher Hinsicht eine Erfahrung eine EnttĂ€uschung fĂŒr eine Person sei. Der phĂ€nomenale Entzug als Negation scheint mir letztlich nicht hinreichend hierfĂŒr. Zudem ist die Videographie eine situative und auf Körper und weniger auf Subjekte gerichtete Erhebungsmethode, die möglicherweise die personale und biographische Dimension von NegativitĂ€tslernen nicht in den Blick bekommt. Insgesamt stellt die Studie aber einen wertvollen Beitrag fĂŒr den wissenschaftlichen Diskurs dar, in der er luzide, kritisch und systematisch argumentiert und mit der er die Bedeutung allgemeiner Erziehungswissenschaft fĂŒr die Lerntheorie und Didaktik aktualisiert und heraushebt.
Miguel Zulaica y Mugica (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Miguel Zulaica y Mugica: Rezension von: Rödel, Severin Sales: Negative Erfahrungen und Scheitern im schulischen Lernen, PhĂ€nomenologische und videographische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2019. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365823594.html