EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)

Florian Hartnack (Hrsg.)
Qualitative Forschung mit Kindern
Herausforderungen, Methoden und Konzepte
Wiesbaden: Springer VS 2019
(462 S.; ISBN 978-3-658-24564-1; 46,99 EUR)
Qualitative Forschung mit Kindern Qualitative Forschung mit Kindern ist ein weites Feld und wird in vielen Disziplinen betrieben: Nicht nur in der Kindheits- und Jugendforschung, auch in der Familienforschung, der Bildungsforschung, der Gesundheitsforschung, der Gemeindeforschung, der Migrationsforschung und anderen werden Studien über oder mit Kindern durchgeführt. Vor allem seit der UN-Kinderrechtskonvention 1989 werden Forschungen angestrebt, in denen nicht über, sondern mit Kindern geforscht wird. Kindern wird ein Recht zugestanden, ihre eigene Sicht auf die Welt zu haben und ihre Stimme auch in Forschungen geltend machen zu können.

Der von Florian Hartnack herausgegebenen Band „Qualitative Forschung mit Kindern“ versammelt 13 Beiträge, in denen unterschiedliche Aspekte der Forschung mit Kindern dargestellt werden und hat den Anspruch „eine Art Handbuch“ (Vorwort, vi) zur qualitativen Forschung mit Kindern zu sein. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert; „Allgemeine Überlegungen“, „Erhebungsverfahren“ und „Methodische Zugänge in der Praxis“.

Die vier Beiträge des ersten Abschnitts geben einen allgemeineren Überblick über unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden sowie ihre Anwendbarkeit auf Forschung mit Kindern (Mey/Schwentesius), stellen Grundlagen „pädagogischer Kinderforschung“ und Adaptionen sozialwissenschaftlicher Methoden für die Anwendung mit Kindern vor (Schultheiß), versuchen eine Verbindung von Kindheitsforschung und Erforschung pädagogischen Handelns von Lehrkräften (Leddin/Ostermann/Prengel/Tellisch/Wysujack) und beschreiben Grenzüberschreitungen in der Ethnographie als Chance zur Erforschung kindlicher Lebenswelten (Eckermann/Meier).

Die fünf Beiträge im zweiten Abschnitt „Erhebungsverfahren“ widmen sich dem Zuhören in Interviews mit Kindern (Behse-Bartels), dem Impulsinterview, in dem mit Abbildungen oder Spielfiguren gearbeitet wird (Hunger/Zander/Zweigert/Schwark), der Gruppendiskussion mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter (Brenneke/Tervooren), thematischen Zeichnungen und episodischen Interviews (Kuhn) sowie der Beobachtung (Schlesier/Wagener/Moschner).

Im dritten Abschnitt werden Forschungsprojekte vorgestellt, in denen mit Kindern gearbeitet wird. Im ersten Text werden Vorzüge und Stolpersteine von „Quartiersbegehungen“ in sozialen Nahräumen beschrieben, in denen Kinder Forscher/innen herumführen. Ein wichtiges Thema ist dabei auch der Umgang mit den vielfältigen gesammelten Daten in Form von „Mixed-Data-Plots“. (Krehe/Rothe/Storck-Odabasi/Heinzel). Danach wird eine Einzelfallstudie aus einer Forschungswerkstatt mit Lehramtsstudierenden beschrieben, in der mit teilnehmender Beobachtung und episodischem Interview die Entwicklung eines Schülers analysiert wird, der im Rahmen eines Mentoringprojektes unterstützt wurde (Trautmann/Micha). Im dritten Text wird die Kombination von teilnehmender Beobachtung und narrativen Interviews thematisiert, mit der „kindlich-leibliche Praktiken“ (387) im Sportunterricht, konkret im Kampfsport, nachvollzogen werden (Hartnack). Abschließend wird eine Studie über Vorbilder fußballspielender Kinder präsentiert, in der mit einer Umfrage per Kurznachrichten und Leitfadeninterviews gearbeitet wurde (Möhrle/Kuhn).

Insgesamt werden in diesem Band unterschiedliche theoretische, epistemologische und methodologische Zugänge zur Forschung mit Kindern vorgestellt, die in den Sozial- und Bildungswissenschaften angesiedelt sind. Als konkrete Methoden kommen dabei vorwiegend unterschiedliche Formen von Interviews, Gruppendiskussionen und Beobachtungen zum Einsatz und es werden die Besonderheiten in der Anwendung mit Kindern erläutert. In einigen Beiträgen werden darüberhinausgehend beispielsweise Forschungstagbücher, thematische Zeichnungen, Photovoice oder Quartiersbegehungen als Methoden beschrieben.

In dem Band werden einige wichtige Punkte für die qualitative Forschung mit Kindern genannt, auf die ich hier eingehen möchte: Erstens wird auf besondere Kompetenzen hingewiesen, die in der Forschung mit Kindern notwendig sind, wie beispielsweise das wertfreie und interessierte Zuhören und Eingehen auf die Ideen und Ausführungen der Kinder, das Zulassen von Spielen oder von scheinbarem thematischem Abschweifen der Kinder oder die notwendige Flexibilität im Umgang mit Kindern (z.B. Behse-Bartels; Brenneke/Tervooren; Kreher et al.). Zweitens werden Hierarchien benannt, die den Umgang mit Kindern strukturieren und die nicht nur nach Alter und Verantwortung, sondern auch nach Geschlecht, sozialem Hintergrund oder Vorwissen strukturiert sein können und mitreflektiert werden sollen (z.B. Leddin et al.; Eckermann/Meier). Ein dritter wesentlicher Punkt, der in fast allen Beiträgen aus dem ersten Abschnitt (aber nicht nur dort) ausgeführt wird, ist die Verstrickung der Erwachsenen in das Forschungsfeld. Es wird betont, dass im Nachvollzug der Perspektive von Kindern immer die eigene Position als erwachsene/r Forscher/in sowie das Verhältnis zu den Kindern mitbedacht und mitanalysiert werden muss, da es einen unmittelbaren Zugang zu einer kindlichen Perspektive nicht geben kann. Was hier noch zu ergänzen wäre, ist, dass es nicht eine kindliche Perspektive gibt, sondern auch Kinder je nach sozialer Verortung (z.B. in Bezug auf Geschlecht, soziale Herkunft, Erstsprache, etc.) unterschiedliche Perspektiven haben. Dies wird in einzelnen Beiträgen anhand der Darstellung der Forschungen und Ergebnisse auch sichtbar (z.B. Brenneke/Tervooren; Hartnack), aber in den theoretischen Teilen nicht unbedingt explizit benannt.

Auf der anderen Seite fallen auch einige Lücken in diesem Sammelband auf: Partizipative Herangehensweisen und Methoden werden zwar im Vorwort genannt, kommen aber nur in wenigen Beiträgen und nur als Datenerhebungsmethoden vor. Eine Herangehensweise, in der Kindern ermöglicht wird, selbst die Rahmenbedingungen von Forschungsprozessen mitzugestalten, beispielsweise Forschungsfragen zu stellen und selbst zu bearbeiten, an der Datenanalyse mitzuwirken und eigene Forschungsergebnisse zu präsentieren, wird jedoch nirgends vorgestellt. Das ist angesichts der mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum vorhandenen Literatur dazu überraschend. Da sich die meisten Beiträge in diesem Band vorwiegend auf deutschsprachige Literatur beziehen, werden einige besonders interessante Ansätze aus dem anglo-amerikanischen Raum gar nicht erwähnt, wie der mosaic approach (Clark / Moss 2011, [1]), in dem Forschung gemeinsam mit Kindern im Kindergartenalter gemacht wird oder child-led research, wie er beispielsweise an der Open University rund um Mary Kellett (2010, [2]) betrieben wird. In diesem Ansatz werden – im Anspruch noch weitergehend als partizipative Forschung – Kinder dabei unterstützt, Forschungsprojekte weitgehend selbständig durchzuführen, die Erwachsenen nehmen nur unterstützende Funktionen ein.

Auch eine systematischere Auseinandersetzung mit ethischen Fragen wäre für den Band bereichernd gewesen. So werden in manchen Texten ethische Fragen der Forschung mit Kindern angesprochen (z.B. thematisieren Schlesier et al. potentielle Schwierigkeiten in der Zustimmung zu Videoaufnahmen), in anderen jedoch nicht. So bleibt beispielsweise offen, wie in dem sehr interessanten Projekt „Weichenstellung“ mit der Doppelrolle der Schüler/innen als Mentees eines pädagogischen Projektes und Beforschte eines wissenschaftlichen Projektes umgegangen wird, z.B. wie sie von der Forschung informiert wurden und welcher Raum für einen Ausstieg aus der Rolle des Forschungssubjektes für sie möglich ist (Trautmann/Micha).

Für Personen, die sich einen ersten Überblick über unterschiedliche qualitative Forschungsmethoden verschaffen wollen, die in der Kindheitsforschung angewandt werden können, ist dieses Buch eine interessante Quelle. Um allerdings ein Handbuch zur qualitativen Forschung mit Kindern zu sein, wäre eine Darstellung von mehr und unterschiedlicheren Methoden und Herangehensweisen sowie ein systematischeres Eingehen auf ethische Fragen wichtig.

[1] Clark, A. / Moss, I.: Listening to Young People. The Mosaic Approach. London: NCB 2011.
[2] Kellett, M.: Small Shoes, Big Steps! Empowering Children as Active Researchers.
American Journal of Community Psychology, 46(1-2), 2010, 195–203.
Veronika Wöhrer (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Veronika Wöhrer: Rezension von: Hartnack, Florian (Hg.): Qualitative Forschung mit Kindern, Herausforderungen, Methoden und Konzepte. Wiesbaden: Springer VS 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365824564.html