
Im ersten Kapitel des Buches greift die Autorin differenziert auf Bourdieus Bildungssoziologie zu, zum einen in Bezug auf objektive und subjektive Bildungschancen (was freilich eine dichotome Teilung ist), zum anderen über die verschiedenen, sich auch überschneidenden Einflussfaktoren (an denen sich die Dichotomie wieder relativiert). Das geht über familiale Bildungs- und Kapitalbestände, soziale Distinktionsprozesse, schulische Bewertungs- und Selektionsstrukturen, gesellschaftliche und schulische Demokratiedefizite und Reproduktionsstrategien bis hin zur Frage von Auswahl und Funktion von Lehrkräften, die Bourdieu – folgerichtig zu seiner Forderung nach einer Ungleichheit ausgleichenden Schule – der Sozialen Arbeit zurechnet. Dieser Abschnitt des Buches stellt als schulbezogene Bourdieu-Exegese ein beachtenswertes Verdienst der Autorin dar. Sie klärt vieles, was oft vage bleibt oder sich im Glaubensstreit verliert, ob das Habitus-Konzept nun deterministisch und damit fatalistisch ist oder dem Subjekt doch Handlungsperspektiven zugesteht. Zugleich tut sich hier ein Widerspruch zwischen theoretischer Analyse und pädagogischem Zugriff auf: In einem phänomenologischen Sinne ist Bourdieus Subjekt Produkt und Produzent seines Glücks [3]. Eine solche Herangehensweise, von der Autorin nicht berücksichtigt, würde die Absicht des Buches gerade dort stärken, wo es nach Auswegen aus dem Dilemma zwischen Abhängigkeit und Autonomie sucht, das dem Habitus-Konzept anhaftet.
Lernen untersucht die Autorin (in Kapitel 2) aus unterschiedlichen Perspektiven: als Praxis sozialer Subjekte, in systemtheoretischer und (radikal-)konstruktivistischer Sicht, in der Long-Life-Learning-Perspektive aus gouvernementalitätstheoretischer Sicht (inklusive Foucault) und schließlich mit Blick auf die Neurowissenschaften. Der phänomenologische Zugang über Lernen als leibliche Erfahrung wäre eine naheliegende Ergänzung gewesen. Sowohl Bourdieu als auch Foucault thematisieren die gesellschaftliche, familiale, historische (Ein-)Gebundenheit des Subjekts über politisch-sozioökonomisch-kulturelle Einschreibungen in den individuellen Körper. Beide standen als Studierende unter dem Einfluss von Merleau-Ponty, der mit dem Konzept des Leibes die Dichotomie zwischen Körper und Geist angreift und leibliche Erfahrung als Lernen begreift, bei dem das Subjekt weder nur autonom noch nur fremdbestimmt ist. Dadurch wird dem Subjekt nicht die alleinige Verantwortung für sein Gelingen und Scheitern aufgebürdet und werden ihm zugleich Spielräume zugestanden für individuelles Antworten auf die gegebenen Bedingtheiten.
In der Analyse der Habitusgenese (Kapitel 3) beschränkt sich die Autorin, wie es für die Pädagogik leider häufig der Fall ist, nahezu ausschließlich auf psychologische Modelle. Diese sind in sich schlüssig, etwa die Bindungstheorie, das Lernverständnis nach Bion, Konzepte der Affektregulierung, Mentalisierung und Selbstwerdung, der psychoanalytische Ansatz von Mentzos, die Anpassungsdynamiken nach Parin, aus denen nur die Anerkennungstheorie von Honneth als nicht genuin psychologisch herausfällt. In einem pädagogischen Zugang Lernen als Erfahrung zu verstehen, als nicht aktiv allein machbar, sondern auch pathisch als Widerfahrnis zu begreifen [4], widersetzt sich dem von psychologischen Theorien vielfach genährten Kausalitätsoptimismus der Machbarkeit von Lernen als Habitualisierungstechniken. Dies erschwert zwar die „Systematik pädagogischen Handelns“ (Kapitel 4), würde aber gerade für das Anliegen der Autorin interessante Ansätze eröffnen. Das Wahrnehmen von schulischem Geschehen, von Schülerinnen und Schülern, von Haltungen der Lehrkräfte in der Perspektive leiblicher Erfahrung kann das Sensorium für benachteiligende und fördernde Prozesse diesseits von Zuschreibungen und Einordnungen, aber auch diesseits von didaktischer Steuerung schärfen und verfeinern. Die Relativierung der Annahme, dass Lernen mit der richtigen Rezeptur gesteuert werden kann, erschüttert zwar den pädagogischen (und psychologischen) Allmachtglauben, entlastet aber auch von Ohnmacht in den unvermeidlichen Fällen des (vermeintlichen) Scheiterns und macht den Blick frei für Konstituierungen des Subjekts diesseits des Erwarteten und Planbaren.
In konsequenter Weiterführung der von ihr gewählten Theoriestränge entwickelt die Autorin in den Kapiteln 5 („Habitus von Lehrern“) und 6 („Habitusreflexive Beratung“) einen schlüssigen reflexions- und beratungsorientierten Beitrag zu einer „rationalen-demokratischen Pädagogik“ (233). Der ideengeschichtliche Abriss ist interessant und lesenswert. In Darlegung der gegenwärtig üblichen Beratungsmodelle (klienten-/personenzentriert, systemisch, lösungsorientiert) postuliert die Autorin überzeugend den Bedarf nach einer „habitusreflexiven Beratung von Lehrerinnen und Lehrern“ (308). Ihrer abschließenden Forderung, dass „die im Kontext von Schule eingesetzten Beratungskonzepte vor ihrer Implementierung einer eingehenden beratungswissenschaftlichen Analyse unterzogen werden müssen“ (336), ist zuzustimmen. Ebenso bedarf es der „Förderung einer habitusreflexiven Beratungskompetenz bei angehenden Lehrerinnen und Lehrern, die Erkenntnisse zum milieuspezifischen Habitus von Schülern und Eltern nutzt, um Selbstselektion und Bildungsbarrieren abzubauen“ (337). Die von der Autorin zentral gestellten Desiderate könnten von der Ergänzung durch einen am Leib – jenseits von Autopoiesis und Steuerbarkeit – orientierten Ansatz hierfür wohl gewinnen.
Das Buch bietet wertvolle, reichhaltige Lektüre für alle, die sich um mehr Bildungsgerechtigkeit bemühen und es nicht dabei belassen wollen, Dynamiken der Ungleichheitserzeugung zu durchschauen. Das ist zwar, wie Bourdieu meint, eine erste Voraussetzung, schafft die Ungerechtigkeiten aber nicht ab. Bei der Beratung – und für die künftige Schulentwicklung möglichst schon in der Ausbildung – anzusetzen, ist ein nötiger und auch vielversprechender Handlungsansatz.
[1] Erler, Ingolf / Laimbauer, Viktoria / Sertl, Michael (Hrsg.): Wie Bourdieu in die Schule kommt. Analysen zu Ungleichheit und Herrschaft im Bildungswesen. 36. Jahrgang, Schulheft 142. Innsbruck / Wien / Bozen: Studienverlag 2011.
[2] Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Klassen und Erziehung Schriften zu Politik & Kultur 4. Herausgegeben von Margareta Steinrücke, aus dem Französischen von Franz Hector, Jürgen Bolder und Joachim Wilke. Hamburg: VSA 2001.
[3] Meyer-Drawe, Käte: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. 2. Auflage. München: P. Kirchheim 2000, 103.
[4] Meyer-Drawe, Käte: Lernen als Erfahrung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6 (2003) 4, 505-514.