Geführte Rundgänge für Schulklassen auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager und/oder in den zugehörigen Ausstellungen gehören nach wie vor zu den wichtigsten Lehr- und Lernformen an Gedenkstätten. Die Würdigung der Opfer nationalsozialistischen Unrechts ist eines der Hauptzwecke von KZ-Gedenkstätten, die dabei über eine Denkmalsfunktion weit hinausgehen und das Informieren und Aufklären mit verschiedensten Formaten kreativer Auseinandersetzung, Begegnung und Austausch verbinden. In seiner Dissertation untersucht Paul Vehse die Fragen, wie die Leiter*innen der pädagogischen Rundgänge über KZ-Häftlinge sprechen und ob es ihnen dabei gelingt, allen Opfern nationalsozialistischen Unrechts Anerkennung zukommen zu lassen. Im Fokus stehen diejenigen Menschen, die als „Kriminelle“ verfolgt wurden. Gerade erst im Februar 2020 hat der Bundestag Personen, die als „Berufsverbrecher“, eine der Unterkategorien der „Kriminellen“, und als „Asoziale“ markiert waren, als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Es sind überwiegend einzelne Angehörige bzw. Nachfahr*innen und andere politisch Aktive, die hartnäckig das NS-spezifische Unrecht an diesen bisher wenig wahrgenommenen Gruppen problematisierten und den Beschluss erwirkten.
Im Mittelpunkt von Vehses Untersuchung steht das Problem der Bezeichnungsschwierigkeiten beim Sprechen über Verfolgte des Nationalsozialismus und der Notwendigkeit, eine erneute Stigmatisierung zu vermeiden. Eine Besonderheit der nationalsozialistischen Diktatur liegt in der extremen Gewalt gegen und Verfolgung von Menschen, die ganz unabhängig von einer politischen Gegnerschaft marginalisierten und stigmatisierten Gruppen angehörten und allgemein als „minderwertig“ galten und mit abfälligen Bezeichnungen versehen waren. Die affirmative Verwendung von Begriffen wie „Asoziale“, „Arbeitsscheue“, „Rasseschänderinnen“ oder „Kriminelle“ wird zu vermeiden versucht. In der Studie geht es hauptsächlich um Angehörige unterer Schichten, die als „Kriminelle“ inhaftiert wurden, bzw. darum, wie diese heute benannt und beschrieben werden, gerade weil die heute alltägliche Bezeichnung vielen als neutrale Bezeichnung von Straftäter*innen erscheint. Diese Spannung zwischen den nationalsozialistischen Definitionen der Menschen, beispielsweise als „Arbeitsscheue“, und geschichtspolitischen Kämpfen um die Anerkennung des Unrechts etwa einer Inhaftierung nach dem Verlassen einer zur Disziplinierung zugewiesenen Arbeitsstelle steht daher im Zentrum des Kapitels zu den Häftlingskategorien. Als „Kriminelle“ wurden bei klassenspezifisch agierender Justiz und Polizei Personen bezeichnet, die wegen (mehrfacher) krimineller bzw. teilweise willkürlich kriminalisierter Handlungen in Konzentrationslager eingewiesen wurden.
Straffälligkeit und eine sehr weit gefasste Delinquenz wurden (nicht nur) im Nationalsozialismus als erbliche Eigenschaft betrachtet und die Personen durch die Inhaftierung isoliert, um die Verbreitung des ihnen attestierten schädlichen Erbguts einzudämmen. In den Konzentrationslagern wurden die als kriminell Verfolgten mit einem grünen Winkel, eine Stoffdreieck auf der Uniform gekennzeichnet – wie alle Häftlinge je nach Verfolgungshintergrund, aber oft auch willkürlich, mit Winkeln in unterschiedlichen Farben markiert wurden. Wie zuvorderst bei dem schwarzen Winkel („asozial“) handelt es sich auch beim grünen Winkel um eine Kategorie, bei der die darin eingeordneten Menschen weder vor ihrer Inhaftierung noch im Lager oder danach einen Gruppenzusammenhalt entwickelten. Heutige Straftäter*innen betreiben, von speziellen politischen Kontexten abgesehen, keine kollektive Identitätsbildung und identifizieren sich auch nicht mit den NS-Opfern mit grünem Winkel.
Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Gruppen, wie etwa homosexuelle Männer und Frauen, die in der Bundesrepublik teilweise eine nachträgliche Identifikation und Solidarität mit den wegen (angeblicher) Homosexualität Inhaftierten entwickelten – bzw. in deren geschichtspolitischen Kämpfen um Anerkennung des Unrechts der Verfolgung von Homosexualität auch ehemalige KZ-Häftlinge mitwirkten.
Die Studie ist in sieben Kapitel gegliedert: Die ersten drei Kapitel stellen den Gegenstandsbereich der Gedenkstättenpädagogik und der Häftlingskategorien sowie den heuristischen Bezugsrahmen – sozialphilosophische Theorien der Anerkennung – ausführlich dar. Auf die Darstellung der Methodik – die Rekonstruktion narrativer Identität – und ihrer Umsetzung folgt das zentrale empirische Kapitel der Studie. Hier werden die Analysen von zwei Rundgängen bzw. die Rekonstruktion ihrer Narrationen mit Bezug auf die Fragestellung intensiv vorgestellt. Die Ergebnisse werden in der anschließenden Diskussion auf die theoretischen Hintergründe bezogen und im abschließenden Fazit noch einmal verdichtet.
Theorien der Anerkennung beziehen sich im Allgemeinen zentral auf die Konzepte Axel Honneths, der die drei Grundformen Liebe, Recht und Solidarität, letztere in Form sozialer Wertschätzung, bestimmt, und Vehse ergänzt diese in dem besonders detaillierten Kapitel zur Anerkennung marginalisierter Kollektive mit Judith Butler um die Dimension von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Durch die Untersuchung von zwölf begleiteten, aufgezeichneten, transkribierten sowie zwei der Feinanalyse unterzogenen pädagogischen Rundgängen in KZ-Gedenkstätten kommt Vehse zu dem ihn nicht überraschenden Ergebnis, dass es nicht gelinge, vor allem den Träger*innen des grünen Winkels Anerkennung zukommen zu lassen (281). Diesen Befund erklärt Vehse, indem er ihn zu den Anerkennungstheorien in Beziehung setzt: Es sei nicht möglich, einer Person, deren Handeln dem aktuellen Wertehorizont widerspreche, soziale Wertschätzung – die zentrale Manifestation von Anerkennung (297) – für ihr Handeln entgegenzubringen. Vehse illustriert dies am Beispiel der „Unmöglichkeit z.B. Diebstahl sozial wertschätzend zu bewerten“ (304). Der Autor leitet aus dem empirischen Befund ab, dass es sinnvoll sei, die unter Spannung stehenden Ziele der Gedenkstättenpädagogik, das historische Lernen, anerkennendes Gedenken und politisches Lernen (25), stärker voneinander zu trennen (299). „[V]on den Verfolgten und ihrer Anerkennung her gedacht“, so Vehse, würde eine Darstellung der strukturellen Hintergründe „eine Perspektivenverschiebung vom Individuum oder der Häftlings- und Identitätskategorie hin zu Konstruktions-, Zuschreibungs- und Hierarchisierungsprozessen bedeuten“ (ebd.).
Diese Schlussfolgerung überrascht, da Gedenkstätten sich gerade als weit mehr denn als Erinnerungsorte zur Würdigung der Opfer verstehen. Historisches Lernen, Anerkennung und politisches Lernen wirken gerade gemeinsam und durch jeweils spezifische, gegenstandsbezogene Verbindungen. Um anzuerkennen, dass die KZ-Haft von tatsächlich oder vermeintlich kriminell handelnden Personen Unrecht war, da KZ-Haft nicht einfach eine strengere Form des Strafvollzugs nach dennoch menschenrechtlichen Gesichtspunkten war, müssen nicht auch heute strafbare Handlungen mit Wertschätzung versehen werden. Eine kontextlose Anerkennung von KZ-Häftlingen als unspezifische Opfer kommt vielmehr einem Entzug von Anerkennung gleich.
Trotz oder auch wegen dieser der Professionalisierung der pädagogischen Arbeit an KZ-Gedenkstätten zuwiderlaufenden Einschätzung Vehses macht „Zur Ordnung der Anerkennung“ die extrem hohen Anforderungen an die Arbeit in KZ-Gedenkstätten sowie die damit in Beziehung stehenden historischen, zeitgeschichtlichen und aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen sichtbar und lädt zu vertiefenden Reflexionen über Zielsetzungen von Gedenkstättenarbeit, ihren Inhalten und Formaten ein.
EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)
Zur Ordnung der Anerkennung
Eine Rekonstruktion von Legitimationsmustern in der Gedenkstättenpädagogik
Wiesbaden: Springer VS 2020
(330 S.; ISBN 978-3-658-30349-5; 59,99 EUR)
Rosa Fava (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rosa Fava: Rezension von: Vehse, Paul: Zur Ordnung der Anerkennung, Eine Rekonstruktion von Legitimationsmustern in der Gedenkstättenpädagogik. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365830349.html
Rosa Fava: Rezension von: Vehse, Paul: Zur Ordnung der Anerkennung, Eine Rekonstruktion von Legitimationsmustern in der Gedenkstättenpädagogik. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365830349.html